Helfer aus der Retorte
Industriell gezüchtete Nützlinge machen Schädlingen auf Balkon- und Nutzpflanzen den Garaus. Ein Augenschein in der Kinderstube von Marienkäfern und Fadenwürmern.
Veröffentlicht am 30. April 2010 - 08:41 Uhr
Die Rollen sind klar verteilt: hier die schönen Roten mit den hübschen Punkten, dort die giftgrünen Tunichtgute in bedrohlicher Überzahl. Bei diesem Drama wird es Opfer geben – und wie in Hollywood endet die Geschichte mit dem Sieg des Guten über das Böse. Als Kulisse dienen die Blätter und Stängel einer zierlichen Topfpflanze der Gattung Fuchsia. Die Protagonisten: der Zweipunktige Marienkäfer (Adalia bipunctata) und die Grünfleckige Kartoffelblattlaus (Aulacorthum solani). Letztere ist ein vegetarischer Vampir, der dem dekorativen Nachtkerzengewächs den Saft abzapft und es nachhaltig schwächt – wäre da nicht der edle Marienkäfer, der dem bösen Schädling das Handwerk legt und ihn kurzerhand aussaugt.
Was wie der natürliche Lauf der Natur anmutet, ist hier in Tat und Wahrheit inszeniert. Die Marienkäfer sind nicht in freier Natur geschlüpft, sondern in der Zuchtstation der Firma Andermatt Biocontrol. Die possierlichen Tierchen wurden per Post geliefert und auf der befallenen Pflanze ausgesetzt, wo sie sich mit grossem Eifer an die Arbeit machen.
Marienkäfer züchten – wie geht das? Im luzernischen Grossdietwil, wo die natürlichen Fressfeinde der Blattläuse grossgezogen und in Schachteln zu 250 Stück abgepackt werden, hält man sich bezüglich dieser Kunst lieber bedeckt: «Das zeigen wir der Öffentlichkeit nicht – die Konkurrenz sieht mit.» Gern demonstriere man aber die einfachere Nematoden-Produktion.
Nematoden, lateinisch für Fadenwürmer, gehören zu den artenreichsten Stämmen des Tierreichs. Bislang wurden mehr als 20'000 verschiedene Arten entdeckt. Viele sind Parasiten und spezialisiert auf einen bestimmten Organismus. Die Art, die aktuell bei Biocontrol gezüchtet wird (Heterorhabditis megidis), frisst die Larven des Dickmaulrüsslers (Otiorhynchus), eines Schädlings, der die Wurzeln von Zierpflanzen und Gemüse befällt.
«Sie werden sehen, die sind genauso spannend wie die Marienkäfer – und das Prinzip der industriellen Nützlingsproduktion lässt sich am Beispiel der Nematoden hervorragend erklären», verspricht Produktionsleiterin Johanna Häckermann im Tonfall echter Begeisterung.
Die 32-Jährige führt durch ein Labyrinth von Treppen und Gängen. Es riecht wie beim Tierarzt – nach einem Cocktail aus Hundefutter, Desinfektionsmittel und Vitaminpulver. Die junge Agronomin stösst eine letzte Tür auf, und der Fleischgeruch wird intensiver.
Johanna Häckermann, Produktionsleiterin
Die Nematoden sind auf den ersten Blick eine Enttäuschung. Anstelle von sympathischen Käferchen entdeckt man in den lieferfertigen Säckchen nur feuchten Sand. Erst bei genauerer Betrachtung merkt man, dass sich darin etwas bewegt – und erst unter dem Mikroskop wird sichtbar, dass es sich dabei um kleine Würmchen handelt, die sich zwischen den Sandkörnern winden.
Häckermann führt die Besucher zur ersten Station in der Produktionsstrasse. Dort steht ein älterer Mann an einem Gerät, das aussieht wie ein Betonmischer – und tatsächlich auch einer ist. «Ich bin heute der Koch und bereite die Mahlzeit für die Nematoden vor», erklärt Joseph Lustenberger mit Schalk in den Augen. Die Zutaten sind pürierte Schweinsnieren, Sonnenblumenöl und Schaumstoffflocken. Sind diese sonderbaren Ingredienzen gut vermischt, füllt sie der ehemalige Käser in durchsichtige Plastiksäcke ab, die er anschliessend in eine Art Dampfkocher legt. Darin wird das Menü für die Fadenwürmer bei 120 Grad sterilisiert, damit sich keine unerwünschten Bakterien an dem Gericht gütlich tun.
«Die Herausforderung bei der Zucht von Nützlingen ist stets, eine geeignete Ersatznahrung zu finden», erklärt Häckermann. Die Nematoden sind nicht heikel und begnügen sich mit günstigen Schlachtabfällen und Pflanzenöl – den Schaumstoff fressen sie nicht, er dient bloss als Trägermaterial und Luftspeicher. Die Larven der Marienkäfer hingegen sind wählerischer und fressen als Ersatz für Blattläuse nur die Eier von Mehlmotten, die deshalb ebenfalls gezüchtet werden müssen.
Gerne würde man kurz in der Kinderstube der Käferchen vorbeischauen. Doch die Führung geht weiter zur Impfstation für Fadenwürmer. Als Laborantin amtet dort Ursula Frei, die Schaumstoffflocken in die eben sterilisierten Nahrungsbeutel kippt und mit einer Pipette eine gelbe Flüssigkeit hineintropfen lässt: «Ich impfe die Beutel mit Larven und Bakterien», erklärt die junge Frau ihre Handgriffe.
Bakterien? Die wurden doch gerade erst abgetötet! «Im Reich der Insekten und Würmer gibt es viele Symbiosen. Die Nematoden leben mit dem Bakterium Photorhabdus luminescens zusammen, das die Zellstruktur der Dickmaulrüsslerlarven aufweicht, denn die Fadenwürmer haben selber kein beissendes Mundwerkzeug», erklärt Produktionsleiterin Häckermann. Das Verständnis solcher Zusammenhänge sei für eine erfolgreiche Nützlingszucht fundamental.
Von der Impfstation geht es weiter zum Brutkasten – einem warmen Raum, in dem es nach Ammoniak und Fäulnis stinkt. «Hier bleiben die Beutel etwa 14 Tage liegen, dann sind sie reif für die Ernte, wie zum Beispiel dieser hier», sagt Häckermann und zeigt auf einen Beutel, an dessen Innenseite sich ein netzartiges Gewebe gebildet hat. «Das sind die Nematoden, die sich vermehrt haben und weiter wandern wollen, da sie alles aufgefressen haben.»
Anstatt zu ernten, kann man die Beutel aber auch fünf bis sechs Wochen lang bei tiefen Temperaturen zwischenlagern. Die Würmchen verfallen dann in eine Art Winterschlaf, mit dem sie auch in der Natur Phasen mit ungünstigen klimatischen Bedingungen überbrücken. «Das Thermometer ist eines unserer wichtigsten Arbeitsinstrumente. Indem man die Temperatur regelt, kann man den Entwicklungsstand an die Bestellungslage anpassen – wobei nicht alle Nützlinge so pflegeleicht sind wie die Nematoden», erzählt Häckermann, während sie zur nächsten Station führt.
Hier füllt Andreas Rappold den Inhalt der Beutel in eine Waschmaschine und startet den Kaltwassergang. Das Spülwasser mit den Nematoden gelangt nicht in die Abwasserleitung, sondern in ein Sammelbecken, aus dem die Brühe in ein feinmaschiges Tuch fliesst. Sickert das Wasser ab, bleibt eine beigefarbene, pappige Schicht zurück. «Das ist der Nematodenteig», sagt der ehemalige Koch. Und tatsächlich: Die sonderbare Masse fühlt sich an wie ein Brotteig, weich und zäh. Kaum vorstellbar, dass sie aus Milliarden kleiner Würmer besteht. «In dieser Form lassen sich die Nematoden schlecht abpacken, und ausserdem haben sie so zu wenig Luft. Darum mischen wir sie mit Steinmehl», erläutert die Produktionsleiterin und zeigt auf eine Teigmaschine, wie sie normalerweise ein Bäcker braucht.
Betonmischer, Waschmaschinen und eine Teigmaschine: Die industrielle Massenproduktion von Nützlingen ist eine so spezielle Branche, dass es keine eigens für sie entwickelten Geräte gibt – also muss man mit dem arbeiten, was es schon gibt. Eine Ausnahme ist die Abfüllanlage für die Nematoden-Säckchen à fünf Gramm, die jeweils rund fünf Millionen Individuen enthalten. Die Apparatur ist als Diplomarbeit eines Maschineningenieurs entstanden. Sie erinnert zwar optisch an eine Bastelarbeit, erfüllt ihren Zweck aber tadellos.
Wer nun angesichts des improvisierten Maschinenparks denkt, dass Andermatt Biocontrol ein kleines, unbedeutendes Unternehmen sei, liegt falsch. Die Firma hat seit ihrer Gründung im Jahr 1988 ständig expandiert und beschäftigt heute 65 Mitarbeiter. Das Familienunternehmen bietet rund 140 biologische Pflanzenschutzmittel und Hilfsstoffe an – darunter 40 verschiedene Nützlinge wie Raubmilben, Schlupfwespen oder eben Marienkäfer und Fadenwürmer. Die Produkte werden in mehr als 50 Länder verschickt.
Der Geschäftserfolg ist verbunden mit dem Bioboom, aber nicht nur: Viele – auch nicht biologisch produzierende – Bauern haben in den vergangenen Jahren auf die Schädlingsbekämpfung mit Nützlingen und auf andere Biopflanzenschutzmittel umgestellt, um den Anforderungen an rückstandsarme Erzeugnisse gerecht zu werden. Rund elf Prozent der landwirtschaftlichen Fläche in der Schweiz werden gemäss Bundesamt für Landwirtschaft biologisch bewirtschaftet – Tendenz steigend. Allerdings ist die Umstellung mit einem Lernprozess verbunden: «Mit Nützlingen kann man nicht von heute auf morgen alle Schädlinge loswerden wie mit einer Chemiekeule», erklärt Agronomin Häckermann. Der Einsatz von natürlichen Fressfeinden müsse langfristig geplant und die Kulturen müssten sorgfältig beobachtet werden.
Ein Beispiel: Idealerweise erkennt man den Befall durch Dickmaulrüssler bereits, bevor sich der Käfer entwickelt und den typischen Lochfrass an den Blättern verursacht. Oder man setzt die Nematoden gleich präventiv ein. Denn die Fadenwürmer fressen nur die Larven, die die Pflanze durch den Befall der Wurzeln stark schwächen. Gegen den ausgewachsenen Dickmaulrüssler hilft nur das Ablesen von Hand, was mühsam und aufwendig ist, da sich der nachtaktive Käfer tagsüber versteckt. Wer Nematoden einsetzt, muss zudem wissen, dass sie es gern feucht haben, und seine Kultur entsprechend bewässern.
Nach dem Rundgang muss man der Produktionsleiterin Häckermann recht geben: Die winzigen Fadenwürmer sind eine spannende Spezies. Die putzigen Marienkäfer wären aber trotzdem interessanter gewesen – nicht nur weil sie fotogener sind, sondern auch, weil ein gut gehütetes Geschäftsgeheimnis eben neugierig macht.
Als Trostpflaster gibt es von Andermatt Biogarten, dem Geschäftszweig, der Hobbygärtner beliefert, das sogenannte Adalia-Kit: ein Set für die Zucht von Marienkäfern, inklusive Gebrauchsanleitung. Damit können grosse und kleine Hobbyzüchter hautnah mitverfolgen, wie sich aus ein paar Dutzend winzigen Eiern erst gefrässige Larven und schliesslich hübsch gepunktete Käfer entwickeln.
Rainer Berling: «Nützlinge und Schädlinge in unserem Garten»; BLV-Buchverlag, 2010, 128 Seiten, 28.90 CHF.