Ein Pferd kommt unters Messer
An der Zürcher Uni-Pferdeklinik werden jährlich mehr als 500 Tiere operiert – vom Turnierpferd bis zum Esel. Das ist Präzisions- und Schwerstarbeit in einem.
Veröffentlicht am 15. April 2013 - 09:04 Uhr
Kali mag seinen Kopf nicht mehr halten, er drückt ihn gegen die Brust von Tierpfleger Armin Zimmerli. Die Beruhigungsmittel haben das Springpferd müde gemacht. Zimmerli steht ruhig da, drückt dagegen und wartet. Die drei Anästhesieärztinnen spritzen eine narkotisierende Mixtur aus Ketamin und Valium in die Halsvene. Kali reisst die Augen weit auf, zuckt heftig. Sekunden später sackt er in sich zusammen.
Dann geht alles sehr schnell, 18 Hände arbeiten sich an Kali ab. Das neunköpfige Team der Pferdechirurgie im universitären Tierspital Zürich funktioniert wie ein Uhrwerk. Ein Rädchen greift ins andere – drei Tierpfleger in Grün, drei Veterinärmedizinstudenten in Grau, drei Tierärzte in Blau.
Die Studenten stopfen Kali Watte in die Ohren, rasieren das Fell weg, bestreichen die Augen mit Salbe, damit sie nicht austrocknen, ziehen die Zunge heraus und befestigen eine Klemme daran, um den Sauerstoff im Blut zu messen. Ein Schlauch wird in Kalis Lunge geführt, er wird verkabelt, um Blutdruck und Herzschlag zu überwachen. Das Pferd braucht einen Blasenkatheter, denn es produziert durch die Narkosemittel viel Urin. Tierpfleger Zimmerli hält den Penis des 14-jährigen Wallachs, eine Studentin führt den Schlauch in die Harnröhre ein und bläst hinein. In letzter Sekunde lässt sie den Schlauch los, der Urin fliesst in Strömen. «Puh, ich habe nichts erwischt», sagt sie lachend. Zimmerli entfernt die Hufeisen, kratzt den Mist aus und schneidet das alte Horn weg. Am Boden liegt eine Urinlache, vermengt mit Hornresten, Mist und Blut. Es stinkt bestialisch im Vorbereitungsraum.
Zimperlich darf Zimmerli nicht sein. Der Tierpfleger ist der Mann fürs Grobe in der Klinik und könnte auch als Cowboy durchgehen: breite Schultern, Dreitagebart, verwegener Blick aus bergseeblauen Augen, das Nickituch leger um den Hals gebunden – nur noch die Marlboro im Mundwinkel fehlt. Doch dazu wird Zimmerli erst elf Stunden später kommen. Seit 33 Jahren arbeitet er hier, gehört sozusagen zum Inventar. Mit 15 hat er hier die Lehre als Hufschmied begonnen, dann als Tierpfleger gearbeitet, nun ist er verantwortlicher OP-Pfleger. Er kennt die Klinik wie seine Hosentasche, gibt über Diagnosen, Behandlungsmethoden und Operationsabläufe Auskunft. «Wenn du 30 Jahre um Akademiker herum bist, weisst du es irgendwann auch», sagt der 48-Jährige.
Chefchirurg Anton Fürst und die beiden Oberärztinnen Michelle Jackson und Muriel Federici schrubben sich minutenlang die Hände. «Pferde sind wahnsinnig empfindlich auf Infektionen, viel mehr als wir Menschen», erläutert Fürst. Der schlanke 42-Jährige mit Goldbrille und gelocktem Haar sieht aus wie ein Bilderbuchchirurg – nur die Gummistiefel verraten, dass sich sein Alltag nicht im klinisch reinen OP-Trakt eines Humanspitals abspielt.
Ruhig diskutieren die drei Chirurgen den geplanten Ablauf der Operation. Der Patient leidet unter einer Sehnenluxation – das Band, das die Sehnen des Sprunggelenks mit dem Knochen verbindet, ist gerissen. Die Sehne rutscht nach aussen und bereitet dem Pferd Schmerzen. Nun wird das gerissene Band durch ein Netz ersetzt, das mit Ankerschrauben am Knochen befestigt wird.
Nach der Operation wird Kali keine Turniere mehr springen können. Aber seine Aargauer Besitzer gönnen ihm ein schmerzfreies Dasein als Freizeitpferd. Dafür blättern sie etwa 7000 Franken auf den Tisch. Kalis Geldwert als Turnierpferd schätzt Chirurg Fürst auf 50'000 bis 100'000 Franken, sein emotionaler Wert ist nicht in Franken zu bemessen.
Mehr als 500 Pferde operiert das Team jährlich, Freizeitpferde und Esel genauso wie teure Sportpferde. «Uns muss es egal sein, ob auf dem Tisch ein teurer Springgockel liegt oder das Pony von Familie Rüdisüli», meint Zimmerli lakonisch. Die Patienten kommen aus ganz Europa, die Pferdeklinik hat einen exzellenten Ruf.
«Bei uns arbeiten hochspezialisierte Fachärzte in Arbeitsteilung. In normalen Tierkliniken macht ein Arzt alles», sagt Fürst. «Und wir haben den hübschesten Klinikchef der Alpennordseite», feixt Anästhesie-Chefärztin Regula Bettschart. Die Zürcher Uniklinik verfügt ausserdem über ein europäisches Unikum: einen «Swimmingpool» für operierte Pferde. 1000 Franken mehr kostet die Operation, wenn das Pferd vor dem Aufwachen mit einem Kran in den Pool gehievt wird. Auch Kali wird seine ersten Bewegungen im Wasserbecken tätigen. Damit sinke das Risiko erheblich, dass das Netz im Gelenk bei der ersten Bewegung wieder reisse, sagt Fürst.
Kali liegt auf dem OP-Tisch, zugedeckt mit sterilen Tüchern. Nur sein verkabelter Kopf mit der heraushängenden Zunge ragt noch hervor und das verletzte Bein, in gelbe Folie gepackt. Fürst setzt das Skalpell an. Er zieht die Klinge langsam durch die Folie und die Haut des Pferdes, hinterlässt eine feine rote Linie. Plötzlich schiesst Blut aus dem Schnitt, ein Schwall quillt über Kalis Sprunggelenk und fliesst als glänzendroter Bach übers grüne Tuch. Fürst spreizt die Haut auseinander, sucht in der offenen Wunde, ertastet die Struktur des Gelenks, ortet Adern, Sehnen, Muskeln, Knochen. Die Oberärztinnen saugen unentwegt mit Tupfern frisches Blut auf. Weisser Knochen blitzt hervor, die gerissenen Fasern werden sichtbar. Mit einem Brennstab werden die Adern verödet, der Blutstrom versiegt. Es ist ruhig im Saal. Nur die regelmässigen Stösse von Kalis Atemgerät und das rhythmische Piepsen der Messgeräte sind zu hören.
Tierpfleger Zimmerli rennt fast pausenlos herum, stellt Instrumente bereit, sorgt für Materialnachschub, leert den Urinkessel. Er hat Arthrose in den Füssen. «Mit 50 bist du körperlich verheizt wie ein Bauarbeiter.» Trotz Schmerzen ist er den ganzen Tag auf den Beinen und wuchtet immer wieder eine halbe Tonne Pferd herum. «Der Arzt meint, ich muss die Scheichen versteifen lassen.» Manchmal wünscht er sich leichtere Büez, doch eine Pensumsreduktion liegt nicht drin. Er ist geschieden und muss Alimente für seine neunjährige Tochter aufbringen.
Pfleger Zimmerli und Chirurg Fürst kennen sich schon eine halbe Ewigkeit. Fürst war noch Student, als sie sich vor 29 Jahren zum ersten Mal über den Weg liefen. «Jetzt ist er mein Chef. Er hat die steilere Karriere gemacht als ich», meint Zimmerli grinsend. Die beiden arbeiten ständig zusammen. Das klappt gut – grundsätzlich. «Der Chef ist manchmal ein bisschen zu spontan, dann muss ich rennen und improvisieren», sagt Zimmerli. «Und Zimmerli ist ganz schön kritisch», sagt Fürst lachend.
Kalis Bein ist geflickt und zugenäht – mit dreifacher Naht und einer Reihe Bostitchklammern, damit die Keime aus dem Pool nicht in die Wunde gelangen. Nun muss das 640-Kilogramm-Pferd vom Tisch in den Pool gebracht werden. Fürst packt mit an. Zimmerli hebt den riesigen Pferdeleib an und legt ein Netz darunter, sein Kollege zerrt von der anderen Seite. Das Netz wird an einen Deckenkran gehängt, das imposante Tier in die Höhe gehievt und in den Pool heruntergelassen.
Kali hängt im Netz und schläft. Zehn Augenpaare beobachten ihn still, minutenlang. Tierpfleger, Assistenzärzte und Studenten haben sich um das Wasserbecken gruppiert. Kali atmet angestrengt, seine Nüstern plustern sich alle zehn Sekunden weit auf, ein tiefer Schnaufer entweicht in die Stille. Kali wacht auf, die Augäpfel zucken nervös hin und her. Bewegen mag er sich noch nicht, nur die Ohren folgen jedem Geräusch. Nun wird der Boden des Pools Zentimeter für Zentimeter angehoben, damit er sein operiertes Bein langsam belasten kann. Er setzt mit der Hufspitze an, balanciert von einem Bein aufs andere. Der Boden wird ganz hochgefahren.
Und da steht er, gross und stolz, reckt den Kopf und offenbart eine Ahnung von seiner Pracht. Noch wirkt er verletzlich. Die Kniekehlen zittern, die Flanken beben. Er versucht einen ersten Schritt, das Bein donnert unkontrolliert auf den Boden. Der zweite Schritt gelingt schon besser. Von hoch oben schaut er hinab auf die kleinen Menschen, die an ihm hantieren, den Verband erneuern, den Katheter entfernen.
Das Risiko, dass Kali an einer Infektion stirbt, liegt bei zehn Prozent. Sechs Wochen muss er in der Pferdeklinik bleiben, ein Netz wird ihn davon abhalten, sich hinzulegen, damit sich sein Sprunggelenk erholen kann.
Es ist Mittag. «Aber für eine Mittagspause haben wir keine Zeit», sagt Fürst und verteilt Sandwiches, die eine Pferdebesitzerin mitgebracht hat. Meist arbeitet das Team von morgens um sieben bis abends um sieben durch. Die nächste Operation steht bereits an, das Dressurpferd Roseline muss in den Computertomographen gefahren werden, um die genaue Bruchlinie an seinem Fesselbein sichtbar zu machen. Die Operation wird mit Arthroskopie durchgeführt, eine Minikamera wird durch eine Kanüle eingeführt, ebenso das Operationsbesteck. Zurück bleibt nur eine kleine Narbe. Roseline dürfte weiter Turniere bestreiten können.
Es ist 18 Uhr. Roseline hat die Operation gut überstanden und wird zur Box zurückgebracht. Kali wirkt bereits munter, tut sich an Heu und Kraftfutter gütlich. Fürst erteilt nebenan noch einen Kurs für Turniertierärzte. Erst spätabends wird er nach Hause fahren, zu Frau, vier Kindern und dem Familienpferd.
Zimmerli setzt sich kurz hin und gönnt sich die erste Zigarette nach einem langen Tag. Zu Hause erwarten ihn keine Pferde, seine beiden Freiberger hat er nach der Scheidung weggegeben – keine Zeit und kein Geld mehr dafür. Später wird er sich ein Feierabendbier genehmigen. Doch erst muss er den Operationstrakt putzen.