Dass Kühe nur Milch geben, wenn sie ein Kalb bekommen haben, ist vielen nicht bewusst. Auch wenn es logisch ist: Die Kuh ist ein Säugetier und produziert Milch, um ihr Junges zu säugen. Will der Mensch die Milch trinken, muss man ihr das Kalb wegnehmen. Gleich nach der Geburt. So wird es auf fast allen Bauernhöfen in der Schweiz gemacht. Das Kalb wird mit Milch aus dem Eimer oder Automaten aufgezogen, die Mutter gemolken.

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Vielleicht muss man wie Evelyn Scheidegger eine Quereinsteigerin sein, um die einfachen Fragen zu stellen: Muss man Mutterkuh und Kalb tatsächlich trennen? Ginge es nicht anders?

Tierärzte, Käser und Bauern waren sich einig: Eine Kuh, die ihr Kalb säugt, kann man nicht melken – das gibt nur Probleme. Die Milch könnte verunreinigt werden, wenn das Kalb vor dem Melken am Euter saugt. Und die Kälber seien häufiger krank, wenn sie Kontakt mit erwachsenen Tieren haben, hiess es. Ihr schwaches Immunsystem käme nicht mit deren Keimen klar.

Doch Scheidegger, die Betriebswirtschaft und Ökologie studiert hatte, liess nicht locker. Sie las Studien und Artikel, besuchte einen Bauernhof in Süddeutschland. Als sie und ihr Ehemann ihren Hof im Emmental, 850 Meter über Meer, auf Bio umstellten Biologischer Landbau Der Wechsel trägt Früchte , sagten sie sich: Wir probieren das.

Nichts zu bemängeln

Nala kam am 9. Mai zur Welt, draussen auf der Weide. Schon nach einer Stunde stand das Kälbchen auf, suchte das Euter der Mutter – und trank. Nadine sei eine fürsorgliche Mutter, schwärmt Scheidegger. «Sie hat ihr Kalb nach der Geburt ausgiebig geleckt und ruft es sofort zu sich, wenn es sich entfernt.»

Ab dem zweiten Lebenstag verbrachte Nala den Tag je hälftig bei der Mutter und im «Kindergarten» – in einem Abteil direkt neben den Kühen. So können die Mütter und ihre Jungen über das Gatter hinweg die Köpfe zusammenstecken und den Kontakt halten.

Am Morgen und am Abend vor dem Melken öffnet die Bäuerin das Kälberabteil – dann macht Nala einen Freudensprung und rennt zu Mutter Nadine. Mutter und Kind beschnuppern sich, und während das Kalb trinkt, fliegt sein kleines Schwänzchen hin und her. Ist es satt, putzt Evelyn Scheidegger Nadines Euter, melkt sie und bringt die Milch in die Käserei. Dort durchläuft sie die Hygienekontrollen, beanstandet wurde die Milch noch nie. Nach Schätzungen der Bäuerin trinkt das Kalb nur rund 20 Prozent der Milch.

In der Fleischproduktion ist die Mutterkuhhaltung längst etabliert. In der Milchviehhaltung ist sie dagegen erst seit diesem Juli legalisiert, dank einer Motion der SP-Nationalrätin Martina Munz. Bis dahin galt, dass die Bauern «das ganze Gemelk» abgeben mussten. Damit wollte man sicherstellen, dass die Milch nicht abgeschöpft und der Fettanteil reduziert wird.

Wegen dieses Verbots nahm man den Kühen die Kälber weg. Die ersten Lebenswochen verbringen die Jungtiere in der Regel einzeln in knapp drei Quadratmeter grossen Kälberiglus ausserhalb des Stalls. Der Sozialkontakt zur Mutter wird komplett unterbunden.

Gesund und busper

«Kälber sind krankheitsanfällig», verteidigt Reto Burkhardt vom Verband der Schweizer Milchproduzenten diese Einzelhaltung. «Die Haltung an der frischen Luft mit Auslauf und Sichtkontakt zu anderen Kälbern führt dazu, dass die Kälber robuster werden und man weniger Antibiotika einsetzen Kuhmilch Schweizer Bauern spritzen rekordmässig Antibiotika muss.» Sie ist noch aus einem weiteren Grund beliebt: Die Kälber saugen sich nicht gegenseitig an Ohren und Zitzen, Verletzungen an den Eutern werden verhindert.

Solche Verhaltensstörungen gebe es nur, weil die Kälber den natürlichen Saugtrieb nicht befriedigen können, kritisiert Claudia Schneider vom Forschungsinstitut für biologischen Landbau (Fibl). Sie berät Bauern, die ihren Milchkühen eine natürlichere Aufzucht ermöglichen wollen. «Mit der Einzelhaltung versucht man ein unnatürliches Haltungssystem zum Funktionieren zu bringen.»

Seit die Kälber bei ihren Müttern saugen, wachsen sie schneller und strotzen nur so vor Gesundheit, beobachtet Bäuerin Evelyn Scheidegger. Durchfallerkrankungen gebe es kaum mehr, Antibiotika musste sie bislang nicht einsetzen.

«Das Kalb baut sein Immunsystem über das Saugen auf», sagt sie mit Anspielung auf den Kuhflüsterer Martin Ott. «Ein Kalb mit einer bakteriellen Infektion erhält von der Mutter innert weniger Stunden über die Milch entsprechende Immunglobuline als Antikörper und bekommt die Krankheit in den Griff.» Schneider plant dazu eine wissenschaftliche Untersuchung. Bestätigen kann sie bereits jetzt, dass Kälber, die am Euter saugen dürfen, weniger oft Magen-Darm-Probleme haben.

Die Agronomin hält selber Kälber. Sie sind zuerst bei der Mutter in der Abkalbebox, werden aber auch von Hand getränkt. So kann Schneider kontrollieren, ob das Kalb genügend Erstmilch von der Mutter aufnimmt, sogenannte Biestmilch. Die Kälber gewöhnen sich dabei an sie und hätten später keine Angst vor Menschen. Die schiere Menge Milch, die ein Kalb trinkt, sei während der Aufzucht entscheidend: Saugende Kälber trinken 10 bis 16 Liter täglich, Kälber, die aus dem Kessel getränkt werden, nur halb so viel. Kein Wunder, sind sie weniger kräftig.

Kälber, die bei der Mutter trinken, entwickeln auch ein besseres Sozialverhalten. Sie lernen, wie sie sich in der Herde verhalten müssen, was gerade im Laufstall wichtig ist. Gemäss einer Studie des Thünen-Instituts für ökologischen Landbau und der ETH Zürich macht es keinen Unterschied, ob die Kälber nur zweimal für 15 Minuten pro Tag oder die ganze Zeit bei der Mutter sind.

Das Saugen allein sei aber kein Garant für gesunde Tiere, sagt Claudia Schneider. So nehmen etwa Atemwegserkrankungen wegen der tierfreundlichen Haltung nicht zwingend ab. «Wenn es im Stall Zugluft hat oder die Kälber nicht trocken liegen, können auch saugende Kälber krank werden.»

Mutterkuh oder Ammenkuh

Die Mutter-Kalb-Haltung birgt weitere Herausforderungen. So sei der Trennungsschmerz noch grösser, wenn man der Mutter das Kalb erst nach Monaten wegnehme, berichten manche Bauern. Sie geben ihre Kälber deshalb lieber Ammenkühen zum Säugen. Auch deshalb sagt Agronomin Schneider: «Jeder Bauer muss selbst herausfinden, welche Haltung in seinem Stall möglich und für seine Tiere am besten ist.»

Evelyn Scheidegger kennt dieses Problem nicht. Sie entwöhnt das Kalb erst von der Mutter, wenn ihr das Säugen «verleidet». Bei ihren Swiss-Fleckvieh-Kühen sei das nach fünf, sechs Monaten der Fall. Die ammengebundene Aufzucht sei zwar effizienter. Ammenkühe könnten bis zu vier Kälber aufziehen. Doch den Mehraufwand nehme sie gern in Kauf: «Es geht ja gerade um die Mutter-Kind-Beziehung.»

Macht sie die Milchbüchleinrechnung, so steht eine geringere Milchmenge, die sie in der Käserei abliefern kann, auf der einen Seite – und stehen die Einsparungen beim Tierarzt auf der anderen. Der Liter Milch müsste etwa 20 Rappen mehr kosten, damit die Rechnung für sie aufgehe.

Über ihren Verein Cowpassion verkauft sie Käse aus muttergebundener Kälberaufzucht. Wenn man eine Kundschaft dafür finde, seien solche Produkte eine gute Nische, sagt Reto Burkhardt vom Verband der Milchproduzenten. «Die Wertschöpfung ist gut, das Tierwohl hoch.» Bislang haben erst wenige Bauern die Nische für sich entdeckt. Doch Bäuerin Scheidegger ist überzeugt, dass es eine Nachfrage gibt. « Gerade Frauen reagieren sensibel auf das Thema.»

Milchkühe: Trächtig ohne jede Pause

Kühe haben eine natürliche Lebenserwartung von 20 Jahren. Ab dem zweiten Lebensjahr werden sie jedes Jahr künstlich befruchtet und sind fast ununterbrochen trächtig – damit sie, wenn ihre Milchleistung abnehmen würde, erneut gebären und weiter Milch geben. Die auf Leistung getrimmte Milchproduktion, die ständigen Schwangerschaften sowie haltungs- und fütterungsbedingte Krankheiten führen zu Verschleisserscheinungen und verkürzen das Leben von Milchkühen massiv. In der Schweiz werden sie im Durchschnitt rund sechs Jahre genutzt.

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Julia Hofer, Redaktorin
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