Mit Wanzen gegen AKWs
Aquarelle von verkrüppelten Insekten nährten vor 20 Jahren einen Verdacht: Schweizer Atomkraftwerke verstrahlen die Tiere. Die Wissenschaft entwarnte. Doch die Zeichnerin Cornelia Hesse glaubt noch heute an ihre These – und kämpft weiter.
Veröffentlicht am 28. September 2009 - 17:00 Uhr
Sie isst, wie sie spricht. Cornelia Hesse zerlegt und kaut ihren Fisch mit einer Bedächtigkeit, dass man sich gegenüber vorkommt wie ein Schaufelbagger. Irgendwie Zen, diese Frau. Genau so, stellt man sich zumindest vor, sammelt, präpariert und malt sie seit 40 Jahren ihre Wanzen.
1989 knallte die Zeichnerin mit der Durchschlagskraft eines Dumdumgeschosses in die nationalen Schlagzeilen. Das «Tages-Anzeiger-Magazin» publizierte ihre Wanzenbilder, die Story trug den Titel «Der Verdacht». Abgedruckt waren wunderschöne Aquarelle von Wanzen. Doch wer genauer hinschaute, entdeckte verkrüppelte Beine und missgebildete Flügel, Asymmetrien. Hesse hatte die Tiere im Umkreis von Schweizer Atomkraftwerken gefunden. «Die Missbildungen haben mich erschüttert. Ich hatte Alpträume», sagt die heute 65-Jährige. So etwas Grauenhaftes sei ihr vorher noch nie unter die Lupe gekommen.Was, so der schreckliche Verdacht, wenn die Missbildungen Folge der chronischen Niedrigstrahlung in der Nähe von Atomkraftwerken sind?
Zoologen und Genetiker heulten auf. Völlig unhaltbar, hiess es. Unwissenschaftlich. Experten hielten die Malerin schlicht für hysterisch. Ausser Biologieprofessor Willi Sauter von der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich. Er fand die Ergebnisse immerhin derart erschreckend, dass er eine Untersuchung forderte. Es war die schnelle einhellige Ablehnung des Verdachts durch die Zoologen, erinnert er sich, die ihn damals störte.
Als Folge des Artikels erhielt Hesse von der Uni und der ETH keine Illustrationsaufträge mehr. Der freischaffenden naturwissenschaftlichen Zeichnerin kam ihr Hauptverdienst abhanden. Schlecht für eine alleinerziehende Mutter zweier Kinder. Die Zoologen, ehemalige Kollegen, für die sie früher gezeichnet hatte, begannen, sie plötzlich zu schneiden. Seither ist sie eine Verstossene – jedenfalls fühlt sie sich so.
Die offizielle Schweiz sah sich, auch durch ein Buch, das sie nachlegte, genötigt, eine Stellungnahme abzugeben. Durch radioaktive Bestrahlung im Labor erhöhe sich die Mutationsrate von Fliegen von 48 auf 56 Promille, teilte das Bundesamt für Gesundheit mit. «Es ist offensichtlich, dass ein derartig kleiner Effekt in freier Natur nicht nachgewiesen werden kann.» Genausogut könnten Herbizide die Missbildungen verursacht haben. Oder es seien vielleicht rein mechanische Schädigungen daran schuld. Der Verdacht fiel in sich zusammen.
1993 legt ein ETH-Doktorand eine Dissertation über das Thema vor, die nicht annähernd mehr die Durchschlagskraft von Hesses Bildern erreichte. Fazit: Es bestehe «mit Sicherheit» kein Zusammenhang zwischen der radioaktiven Strahlung eines «AKW im Normalbetrieb» und den Missbildungen. Die Rate missgebildeter Wanzen sei so oder so sehr hoch. Am meisten Krüppeltiere fand der Forscher in Städten, nicht in der Nähe von Atomkraftwerken.
«Mumpitz!», wischt Hesse den Befund weg. Der habe die falschen Wanzen gesammelt. «Geht es um Atomzüügs, wird gelogen, vertuscht, manipuliert.» Dass die Wanzen radioaktiv verseucht sind, ist für sie heute so klar wie Quellwasser. «Doch die Behörden akzeptieren etwas nur, wenn Akademiker die Resultate bringen.» Eine Zeitlang hatte sie das Gefühl, ihr Telefon werde abgehört.
«Ich bin keine Akademikerin, habe keine Universität im Rücken, bin nur eine einfache Feldarbeiterin.»
Cornelia Hesse, naturwissenschaftliche Zeichnerin
Hesse sieht sich nicht als Wissenschaftlerin, sondern als eine, die «instinktmässig» handelt. An den Wänden ihrer Wohnung im Zürcher Seefeldquartier hängt Kunst, Minimal Art. In einer Ecke steht ein Piano, aufgeschlagen darauf eine «Auswahl leichter Klavierstücke». Gediegene Kunstbände schmücken die Wand hinter dem Arbeitstisch, präsentiert auf weissen Bücherborden: Werke ihres Vaters, des Bildhauers und Malers Gottfried Honegger, der mit Max Frisch befreundet war. Und Bücher der Grossmutter, der Schriftstellerin Mary Lavater-Sloman, die historische Romane schrieb. Und Arbeiten ihrer Mutter Warja Lavater, der Grafikerin und Illustratorin, die den Bankverein-Schlüssel entworfen hat und bekannt ist für ihre Leporellos. Ziemlich avantgardistisch. Und, neben all der Kunst, eine ansehnliche Bibliothek über Tschernobyl. Auch Tochter Cornelia wollte immer zur Avantgarde gehören, «im Sinne von: vorne mit dabei sein». Mit den deformierten Insekten war sie endlich vorn mit dabei, hatte eine «Aufgabe» gefunden.
Und statt mit den «AKW-Wanzen», wie sie sie nennt, aufzuhören, startete sie nun erst richtig durch. Mit der einer Insektensammlerin eigenen Hartnäckigkeit kämpft sie seither gegen die Atomkraft, schüttelt wie besessen Wanzen von den Sträuchern, narkotisiert die reiskorn- bis fingerkuppengrossen Tierchen mit Essigäther und legt sie unters Binokular. Vier Wochen malt sie an einem Aquarell. Kniffs und Tricks hat ihr damals noch ihr Vater beigebracht, der berühmte Künstler. Die Tochter verfeinerte die Technik über die Jahrzehnte bis zur Perfektion, sozusagen eine Eigenentwicklung, auf die sie stolz ist.
Mit ihren Malutensilien reist Hesse seither in der halben Welt herum: ins französische La Hague (Wiederaufbereitungsanlage), ins englische Sellafield (Wiederaufbereitungsanlage), ins deutsche Gundremmingen (AKW), nach Hanford, USA (ehemalige Plutoniumfabrik), nach Tschernobyl (AKW), nach Nevada und Utah (unterirdische Atombombentests).
16'000 Stück zählt ihre Sammlung mittlerweile, nummeriert, aufgespiesst und geklebt auf Plastikplättchen, lagern die Insekten in Kästen aus Glas, übereinandergestapelt in ihrem Schlafzimmerschrank. Eine etwas gruselige Käfergruft.
«Cornelia, was häsch gmacht?», fragt sie sich manchmal. So unglaublich naiv sei sie da hineingerasselt. «Ich bin keine Akademikerin, habe keine Universität im Rücken, bin nur eine einfache Feldarbeiterin.» Sie gibt sich bescheiden, duckt sich wortreich. Immer wieder flackert dabei Misstrauen, ja Abneigung gegenüber studierten Wissenschaftlern auf, die «Schiss» hätten, «ehrliche Arbeit» zu liefern. Sie sei die einzige, die noch in die freie Natur hinausgehe und sich anschaue, was da draussen passiert. Es klingt heroisch, wenn sie das sagt.
Spricht sie über ihre Arbeit als Malerin, öffnet sich der Vorhang der Wissenschaft und gibt den Blick frei auf eine andere Bühne. Da treten Pollock auf und Cézanne und Picasso. «Als Kind liebte ich Vermeer und Holbein», verrät Hesse, nicht ohne Pathos. «Ein Künstler visualisiert etwas, was da ist, was man aber nicht sieht. Meine Aufgabe ist es, etwas sichtbar zu machen.» Nur die Kunst vermöge das.
Die Käfer bescherten Hesse nicht nur Alpträume, sie machten sie auch berühmt. «In meiner schlimmsten Zeit, als ich kein Geld mehr hatte, sagte ich mir, so, jetzt muss ich Arbeit finden, und der liebe Gott schickte mir die Fabric Frontline.» Sie erhielt das Angebot, für die junge Zürcher Seidenfirma Stoffe zu entwerfen. Hesses Tiermotive liefen hervorragend. Yves Saint Laurent klopfte an und wollte Schmetterlinge. Designerin Jil Sander orderte Nacktschnecken, Seesterne und Korallen, Popstar Elton John ein Gilet mit Hesse-Marienkäfern. Das Warenhaus Globus produzierte Ökotaschen mit Hesse-Motiven. Sie war aus dem Schneider und finanzierte mit dem Erlös fortan ihre «Forschung», wie sie ihre Wanzenarbeiten nennt.
Zurzeit sucht die Rastlose Wanzen im Entlebuch. Denn auch dort, im Biosphärenreservat, soll es massenhaft Tiere mit Missbildungen geben. Ursache: Gösgen. «Warum tun Sie das eigentlich, Frau Hesse?» – «Als Künstlerin kann man sich nicht aussuchen, was man macht.» Das falle einem zu, seufzt sie.
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