Beobachter: Wenn es um die Wiederbelebung von Gewässern geht, hört man nicht selten: «Ach, wegen ein paar Fischen!» Was geht Ihnen bei solchen Bemerkungen durch den Kopf?
Christine Weber: Als Biologin denke ich an die ökologische Bedeutung der Gewässer. Es bekümmert mich, wenn es den Flüssen und den Lebewesen darin schlechtgeht. Doch dann denke ich auch an die Menschen. Denn Flüsse und Bäche erfüllen unterschiedliche Funktionen – für die Natur und für die Gesellschaft. Deshalb geht es bei Revitalisierungen um viel mehr als bloss um «ein paar Fische».

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Beobachter: Sind sich die Leute dessen bewusst?
Weber: Wahrscheinlich nicht so ausgeprägt, wie man es sich wünschen würde. Denn die Fakten müssten eigentlich aufrütteln. Bäche und Flüsse gehören zu den am stärksten bedrohten Ökosystemen der Schweiz. Und wir sprechen hier von einer Ressource, die für uns Menschen enorm wichtig ist.

Beobachter: Wieso ist uns das eigentlich so wenig bewusst?
Weber: Das hat sicher damit zu tun, dass vieles im Verborgenen abläuft. Man sieht oft nicht auf den ersten Blick, wie es um die Wasserqualität wirklich steht. Selbst scheinbar naturnahe Gewässer können stark belastet sein.

Beobachter: Eine neue Untersuchung zeigt, dass gerade kleine Bäche stark mit Pestiziden belastet sind. Die Eawag-Studie hat 
128 giftige Wirkstoffe nachgewiesen. Erschrecken Sie solche Zahlen?
Weber: Ja natürlich, das ist ein besorgniserregender Befund. Solche Meldungen beschäftigen aber auch Menschen, die beruflich nichts mit Ökologie zu tun haben. Das merke ich an den Reaktionen aus meinem Umfeld. Die Leute fragen mich: Was bedeutet das für unser Trinkwasser?

Beobachter: Und was bedeutet es für unser Trinkwasser?
Weber: In intakten Fliessgewässern rieselt das Flusswasser durch die Kiessohle ins Grundwasser. Dabei wird es durch 
eine riesige Vielfalt von Kleinstlebewesen gereinigt. In einem beeinträchtigten Gewässer, etwa wenn der natürliche Geschiebetransport nicht mehr gewährleistet ist, kann der Porenraum in der Kiessohle verstopfen. Das vermindert die Filterwirkung und somit die Selbstreinigung. Das ist gerade für uns in der Schweiz relevant, wo viel Trinkwasser aus dem Grundwasser bezogen wird.

Beobachter: Was ist bei der biologischen Vielfalt 
das grösste Problem bei kanalisierten Bächen und Flüssen?
Weber: Sie verlieren das, was ein naturnahes Fliessgewässer ausmacht – die enorme Vielfalt an unterschiedlichen Lebensräumen. Das reicht von ganz nass bis ganz trocken, von schnell fliessendem bis zu stehendem Wasser. An diese Lebensräume und ihre Dynamik, etwa bei Hochwasser, haben sich die Tiere und Pflanzen in und an den Gewässern angepasst, viele sind gar davon abhängig. Kanalisierte Bäche hingegen sind eingeengt und eintönig. So finden spezialisierte Arten die Bedingungen nicht mehr, auf die sie angewiesen sind. Nicht umsonst ist in den Lebensräumen am Wasser der Artenrückgang deutlich höher als an Land.

«Man sieht oft nicht auf den ersten Blick, wie es um die Wasserqualität wirklich steht.»

Christine Weber, Biologin

Beobachter: In und an Schweizer Bächen und Flüssen stehen rund 100'000 Bauwerke. 
Hat das Folgen?
Weber: Natürliche Fliessgewässer sind mit 
ihrem Umland eng vernetzt – in der Fliessrichtung von der Quelle bis zur Mündung, seitlich mit Ufern und Auen, nach unten mit dem Grundwasser. Künstliche Hindernisse zerstückeln das Gewässersystem, sie unterbrechen diese Vernetzung. Dann spielen viele natürliche Prozesse nicht mehr, etwa die Fischwanderung.

Beobachter: Das Gesetz fordert schon für kleinere Bäche beidseits je 15 Meter Uferstreifen. Weshalb braucht es einen solch breiten Gewässerraum?
Weber: Zum einen geht es um den Hochwasserschutz. Nur wenn ein Fluss genügend Platz hat, kann Hochwasser geordnet abfliessen. Der Gewässerraum ist aber auch für die Vernetzung und die Vielfalt der Lebewesen wichtig. So finden in den Uferstreifen seltene Insekten- oder Amphibienarten ihren Lebensraum. Und nicht zuletzt hat 
der Gewässerraum eine beachtliche Pufferwirkung. Schon ein zehn Meter breiter Uferstreifen kann das Einschwemmen von Nährstoffen aus der Landwirtschaft ins Gewässer um 95 Prozent reduzieren.

Beobachter: Revitalisierung heisst sinngemäss: 
das Leben zurückbringen. Gelingt das?
Weber: Je nach der Zielsetzung einer Aufwertung kann sich sogar relativ schnell ein positiver Effekt zeigen. Gut untersucht ist der Liechtensteiner Binnenkanal, ein Zufluss des Alpenrheins. Vor der Revitalisierung lebten dort sechs Fischarten. Knapp vier Jahre später waren es schon 16 – vor allem dank der Entfernung eines künstlichen Hindernisses an der Mündung. Dazu muss man aber sagen, dass die eingewanderten Fischarten bereits in der Nähe waren. Womit wir wieder bei der Bedeutung der Vernetzung sind. Auch die am besten gelungene Revitalisierung wie an der Thur bringt uns den Lachs nicht zurück. Bei Fliessgewässern müssen wir in grossen Räumen denken. Alles hängt zusammen.

Beobachter: Immerhin gibt es Hoffnung. Von den fünfziger bis in die siebziger Jahre schien die Lage hoffnungslos. Damals machten Aufnahmen von verseuchten Bächen mit Schaumkronen die Runde.
Weber: Das stimmt. Der Schweizer Gewässerschutz ist eine Erfolgsgeschichte, solche Bilder gibt es bei uns heute nicht mehr. Anderseits waren die Beeinträchtigungen damals noch gut sichtbar. Die Problematik als solche ist aber nicht verschwunden, sie liegt einfach weniger offen zutage. Heute spielen auch andere Belastungen eine Rolle, etwa Mikroverunreinigungen aus der Siedlungsentwässerung. Die Arbeit ist noch längst nicht getan.

Zur Person

Christine Weber, 42, ist Biologin 
und leitet die Forschungsgruppe Flussrevitalisierung am Institut Eawag (Eidgenössische Anstalt für Wasserversorgung, Abwasserreinigung und Gewässerschutz), das zur ETH gehört.

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