Dieser Artikel ist Bestandteil unseres Themendossiers «Sportförderung in der Schweiz nach der Corona-Krise».

Beobachter: Hippolyt Kempf, welchen Schaden richtet Corona beim Sport an? 
Hippolyt Kempf: Einen grossen. Aktuell geht es darum, das Überleben zu sichern. Gleich zu Beginn des ersten Lockdowns, im März 2020, wurde uns bewusst: Wir müssen möglichst schnell wissen, was für ein Stabilisierungspaket nötig ist. Anfangs war von 100 Millionen Franken die Rede. Ich vermutete schon damals: Das reicht nicht, wir brauchen 700 Millionen.

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Der Sport bekommt nun 550 Millionen. Und es entstand das Strategieprojekt «Sportwirtschaft 5.0», das den Weg in die Zukunft aufzeigen soll. In welche Richtung geht es?
Wir haben verschiedene Szenarien angeschaut. Als zentrale Megatrends haben sich Digitalisierung und Mobilität erwiesen. Im Lockdown war die Mobilität sehr eingeschränkt, die Leute mussten daheim trainieren. Dank der Digitalisierung konnten die Athletinnen und Athleten ihre Fortschritte aufzeichnen und messen, plötzlich gab es zum Beispiel virtuelle Velorennen. Diese beiden Trends werden bleiben.


Sie sagten es: Zuerst einmal gehts ums Überleben. Wie steht es nun?
Bei der Elite, im Spitzensport, sind die Einbussen definitiv geringer als bei den Kantonen und Gemeinden. Diese leisten einen riesigen Beitrag von jährlich 1,3 Milliarden Franken an die Sportförderung, indem sie die ganze Infrastruktur zur Verfügung stellen. Auch die 19'000 Sportvereine im Land leiden, ihre Wertschöpfung ist hoch, vor allem deshalb, weil sehr viel auf ehrenamtlicher Basis passiert. Letztes Jahr fand das regionale Turnfest nicht statt, so sparte der Verein sogar. Aber wenn das Fest diesmal auch wieder ausfällt – wer weiss, ob man dann im nächsten Jahr noch genügend Helfer findet. Das sind verdeckte Effekte, die wir nicht kennen.


Die Wirtschaftskrise fiel bis jetzt geringer aus als befürchtet. Hilft das auch dem Sport?
Das sicher. Aber es fand eine riesige Umverteilung statt. Gewisse Industrien traf es brutal, andere kaum. Auch im Sport sind die Unterschiede extrem: Die Spitzenschwinger schwingen immer noch nicht wettkampfmässig, die Unihockey-Saison wurde abgesagt, Hobbyfussballer können noch nicht richtig spielen, für Kinder und Jugendliche gab es bis vor kurzem keine Wettkämpfe. Auch viele Laufveranstaltungen wurden gecancelt. Insgesamt sind wir trotzdem mit einem blauen Auge davongekommen. Die Weltcup-Skirennen zum Beispiel fanden fast alle statt. 


Lässt sich dieses «blaue Auge» beziffern? 
Der Spitzensport wird einigermassen über die Runden kommen. Das effektive Ausmass des Schadens kann man aber noch nicht beziffern, weil das System mit den Hilfsgeldern am Leben erhalten wurde. Erst wenn 2022 die Bundesförderung ausläuft, wird man sehen, wie schlimm es ist. Klar ist: Es wird hart.


Hart nur für den Spitzensport oder auch für den Breitensport?
Für beide. Der Breitensport musste stark zurückstecken, es gab keine Grümpelturniere, keine Vereinsfeste. Die Frage ist, ob die Kraft für den Wiederanfang reicht. Kann man die Ehrenamtlichen wieder aktivieren, oder geht das Netzwerk verloren? Als Optimist glaube ich: Sobald Sporttreiben wieder ohne Angst möglich ist, wird es einen riesigen Nachholeffekt geben. Der Sport kommt wieder, aber gewisse Anpassungen sind unvermeidbar. Wie vor der Krise wird es nicht mehr werden.


Was meinen Sie damit?
Durch die Krise wurden sowohl der Leistungs- wie der Breitensport gezwungen, sich viel früher und besser zu organisieren, alles digital. Jeder musste sich in Listen eintragen, Apps herunterladen. Früher sagte ich vor einem Skispringen: Morgen um sechs Uhr ist Besammlung. Heute muss ich vier Wochen vorher ein Schutzkonzept eingeben und alles picobello organisiert haben. Diese Qualität wird nun erwartet, die muss ich auch künftig bieten.


Aber was, wenn ein Verein das nicht leisten kann? Wenn etwa das technische Know-how fehlt?
Weitermachen wie vorher geht nicht. Die Krise deckt auf, wie traditionell viele Vereine noch unterwegs sind. Sie müssen sich entwickeln, modernisieren. Wer in den Umbau investiert, in digitale Strukturen, der kommt schneller aus der Krise raus und wird gestärkt und besser weitermachen können. 


Schaffen es die Sportvereine so, neue Leute für sich zu gewinnen?
Ein Beispiel: Die Jungen waren im Lockdown begeistert von den virtuellen Wettkämpfen, sie schickten einander Videos ihrer Leistungen zu. Dadurch hat der Sport neue Zielgruppen erschlossen. Leute, die grundsätzlich daran interessiert sind, sich mit anderen zu messen. Im Verein passiert die Sozialisierung, das ist ein grosses Plus gegenüber dem Individualsport. Die Vereine müssen jetzt aber Angebote kreieren, um dieses Potenzial auch tatsächlich aufzufangen. Schnupperabos zum Beispiel, ohne dass ich mich gleich verpflichte, jeden Dienstag um 19 Uhr ins Training zu gehen.

«Natürlich wollen wir Erfolg, aber nachhaltig und mit hoher Qualität, gerade auch im Nachwuchssport.»

Hippolyt Kempf, Sportökonom und Ex-Olympiasieger

Wird die Schweizer Sportlandschaft gerade umgepflügt?
Sie wird auf den Kopf gestellt. Es ist ein Umbruch, wie das in der Hotellerie mit Airbnb passiert ist. Digitale Wettkampfformate zeigen das auf: Auf dem Hometrainer kann ich heute gegen einen Avatar fahren. Oder ganz neu aufgezogene Events wie kürzlich der Engadin-Skimarathon, den 3000 Leute während einer ganzen Woche ausführten.


Eine gute Entwicklung?
Meine Kinder finden es super, das ist die Zukunft. Aber etwas wird bleiben: Sport findet an einem Ort statt, er wird erlebt. Letztlich will ich live mit den Skiern auf der Piste stehen oder mit dem Velo bei Sonnenuntergang um den Thunersee fahren. Das ersetzt kein virtueller Event. Realer Sport wird immer Bestand haben. Ich sehe das Virtuelle als Ergänzung, und Vielfalt ist aus ökonomischer Sicht immer gut. Ich wünsche mir am nächsten Engadiner 14'000 Menschen vor Ort, 14'000 am virtuellen Engadiner sowie 300'000 am Bildschirm.


Sportministerin Viola Amherd will, dass vermehrt auch der Breiten- und Individualsport gefördert wird. Ein Paradigmenwechsel?
Neu ist, dass das Geld mit klaren Auflagen vergeben wird. Das Credo lautet: fordern und fördern. Ich helfe nicht mehr nur der individuellen Athletin Franziska oder dem Athleten Peter, sondern vermehrt dem Verein, der Sportanlage, dem Leistungszentrum. Es gibt also einen starken Fokus auf die Organisationen.


Wenn vermehrt die Basis gefördert wird: Wirkt sich das auf die Erfolgsbilanz an der Spitze aus?
Früher waren die Medaillen in den olympischen Disziplinen das A und O. Heute spüren wir ein Umdenken: Das elitäre Leistungssportdenken ist nicht mehr salonfähig. Natürlich wollen wir Erfolg, aber nachhaltig und mit hoher Qualität, gerade auch im Nachwuchssport. Auswüchse, wie der übermässige Drill und weitere Schikanen bei den Turnerinnen, so etwas darf nie mehr passieren. Eine verantwortungsvolle Förderung ist das Wichtigste. Und der Ausbildungsauftrag im Leistungs- wie im Breitensport bezieht sich ja nicht nur auf den Olympiazyklus.

Zur Person

Hippolyt Kempf, 55, ist Co-Leiter der «Sportwirtschaft 5.0». 1988 wurde er in Calgary Olympiasieger in der nordischen Kombination. Der studierte Sportökonom ist seit 2020 Nordisch-Direktor von Swiss Ski und betreut für das Bundesamt für Sport den Bereich Forschung/Innovation.

Dieser Artikel ist Bestandteil unseres Themendossiers «Sportförderung in der Schweiz nach der Corona-Krise». 

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