Viagogo gewinnt auch vor Bundesgericht

Nachdem das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) 2017 mit einer Klage gegen Viagogo beim Handelsgericht Zürich unterlag, zog es das Urteil weiter ans Bundesgericht. Auch das höchste Gericht kam zum Schluss, dass die Nutzer von Viagogo nicht getäuscht werden. Für den Durchschnittskunden sei erkennbar, dass auf der Online-Plattform von Viagogo Tickets weiterverkauft würden. Das Unternehmen gebe nicht an, Erstverkäufer zu sein und mache auch sonst keine falschen Angaben über sich und sein Geschäftsmodell.

Update vom 6.1.2021

Offiziell klingt alles plausibel. Viagogo ist eine Plattform, auf der jeder sein Ticket für ein Konzert oder ein Fussballspiel verkaufen kann, falls er nicht selber hingehen kann. Ein Zweitmarkt. Dahinter steckt ein raffiniertes, undurchsichtiges Geschäftsmodell. Kunden aus der ganzen Welt klagen seit Jahren, weil Preise auf Viagogo überrissen oder Tickets plötzlich ungültig sind.

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1300 Beschwerden stapeln sich beim Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco). Auch beim Beobachter melden sich fast täglich verärgerte Kunden. Einer davon ist Bruno Enz aus Adliswil ZH: Im Frühling wollte er für das Monumentalspektakel Fête des Vignerons zwei Tickets kaufen. Auf seiner Internetsuche landete er bei Viagogo und buchte dort.

«Die Plätze konnte ich nicht auswählen. Weil aber der Gesamtbetrag auffallend hoch schien, dachte ich, ich hätte eine sehr gute Sitzkategorie erhalten.» Als die Billette eintrafen, musste er leer schlucken. Es waren zwei Plätze der schlechtesten Kategorie, Originalpreis 79 Franken pro Ticket. Bezahlt hatte er je 191 Franken, dazu kamen Gebühren: alles in allem Fr. 578.80.

Es kam noch dicker. Auf den Tickets waren Name und Adresse einer Frau aus Rostock aufgedruckt. Bruno Enz glaubte, diese Frau habe ihre Tickets auf Viagogo überteuert zum Verkauf angeboten. Er machte seinem Ärger Luft und schrieb ihr einen Brief. Das Schreiben erreichte die Ticketverkäuferin aber nie, es war unzustellbar und kam postwendend zurück.

Eine Adresse in Genf, mehrere Briefkastenfirmen

Vermutlich gibt es die Frau nicht. Wie es bei Viagogo überhaupt vieles nicht gibt. Oder im Hintergrund anders funktioniert, als es den Anschein macht.

Das Versteckspiel beginnt am Hauptsitz in Genf. Hier gibt es nicht einmal einen Briefkasten, nur eine Adresse bei einem professionellen Bürodienstleister. Ob der einzige Verwaltungsrat, Prabhat Shah, in der Schweiz lebt, ist unklar.

Recherchen zeigen: Die Viagogo-Bosse sitzen in London und New York. Das operative Zentrum liegt in Limerick, Irland, und in Taipeh, Taiwan. Die Eigentümer verstecken sich hinter der weitgehend unbekannten Muttergesellschaft Pugnacious Endeavors Inc., einer im US-Steuerparadies Delaware domizilierten Briefkastenfirma. Die technische Abwicklung läuft über eine weitere Briefkastenfirma, die YSG Safe Processing Ltd. mit Sitz in Malta.

Der starke Mann hinter Viagogo und Pugnacious Endeavors Inc. heisst Eric Baker. Das geht aus Unterlagen der US-Börsenaufsicht und des britischen Firmenregisters hervor. Der Amerikaner Baker hatte vor Jahren eine ähnliche Ticket-Verkaufsplattform aufgebaut und sie angeblich für mehrere Hundert Millionen Dollar an Ebay verkauft. Bis heute hält sich Baker im Hintergrund. So wie die früheren Tennisstars Steffi Graf und Andre Agassi, die bei Baker investierten und ihre Beteiligung immerhin bestätigten.

Blick ins Handelsregister

Wie man ein Firmenkonstrukt aufstellt und die Hintermänner verbergen kann, lässt sich aus den Angaben im Handelsregister nachvollziehen.

Am 30. Dezember 2011 sitzen in Basel zwei Mitarbeiter einer renommierten Anwaltskanzlei zusammen. Gemäss Gründungsakten vertritt der eine die Pugnacious Endeavors Inc. als Auftraggeber. Sein Arbeitskollege beglaubigt als Notar den Gründungsakt.

Dass Eric Baker mit zwei Gefolgsleuten hinter der Pugnacious Endeavors Inc. steht, müssen die Basler Anwälte niemandem verraten. Sie müssen auch nicht bekannt geben, weshalb sie wenige Tage später den Firmensitz nach Genf verlegen – vermutlich hatte das steuerliche Gründe.

Seit Jahren beissen sich verärgerte Kunden und Kläger an diesem Konstrukt die Zähne aus. Auch Veranstalter laufen gegen die Plattform Sturm. Bei vielen Grossevents sind Tickets heute personalisiert Tickets zu Wucher-Preisen Das Prinzip Viagogo . Wer über Viagogo kauft, erhält darum ungültige Karten. Erboste Konzertbesucher stehen sich vor Stadien die Beine in den Bauch, Veranstalter müssen eigene Schalter für Viagogo-Opfer einrichten. Auf Reklamationen antwortet die Firma mit Standardschreiben.

Woher stammen die Viagogo-Tickets?

Ehemalige Mitarbeitende berichten, sie hätten sich bei populären Konzerten und Sportveranstaltungen selber systematisch mit Tickets eindecken müssen, um sie auf der Plattform zu verkaufen. Einiges deutet darauf hin, dass Viagogo auch auf elektronischem Weg Tickets abgreift, Mittelsmänner beauftragt und mit Grosshändlern zusammenarbeitet.

Viagogo streitet das ab und betont in einer Stellungnahme, man bringe lediglich Verkäufer und Käufer zusammen, die Preise würden nicht von der Plattform bestimmt. «Millionen von Kunden nutzen jedes Jahr Viagogo, und sie kommen immer wieder zurück.»

Elena Mamonova, der tschechische Ticket-Verkaufsprofi

Ein Testkauf der Westschweizer Sängerin Sonia Grimm belegt: Wer bei Viagogo kauft, löst einen Bestellvorgang aus – und bezahlt teuer. Grimm kaufte auf Viagogo einen Eintritt für ihr eigenes Konzert, für das der Verkauf gerade erst begonnen hatte. Viagogo hätte darum noch gar keine Karten anbieten können sollen. Das Ticket wurde erst am folgenden Tag besorgt, und zwar von einer Elena Mamonova bei Sonia Grimms Verkaufsstelle.

Elena Mamonova ist ein Profi, sie operiert aus Tschechien. Seit 2016 hat sie sich in der Schweiz mit über 1500 Tickets eingedeckt, bestätigt der Anbieter Ticketcorner dem Beobachter. Das gleiche macht Mamonova in anderen Ländern: In Finnland und in Dänemark besorgte sie sich über 1000 Tickets pro Jahr, wie Kristian Leider Olsen von Danmarks Radio recherchierte. Mamonova tritt auch in Frankreich und in Australien als Käuferin und Verkäuferin auf.

In der Schweiz benutzte sie eine Reihe von Kreditkarten mit unterschiedlichen Adressen. Am Telefon in Tschechien meldet sich ein Vladimir. Vielleicht ist er Elena.

Die Vermutung liegt nahe: Elena Mamonova arbeitet im Auftrag von Viagogo und kassiert für jedes Ticket eine Provision. Allein mit den Tickets aus der Schweiz dürfte sie gut und gern 100'000 Franken Gewinn gemacht haben. Kaum vorstellbar, dass ihr Viagogo diese traumhafte Marge einfach überlässt.

Immer mehr Verfahren gegen Viagogo

Womöglich fällt das Kartenhaus bald zusammen. Viagogo ist weltweit in juristische Verfahren verwickelt. In der Schweiz sind Strafanzeigen von Uefa, Fifa und der Westschweizer Konsumentenorganisation FRC hängig sowie von der Sängerin Sonia Grimm. Nach wie vor hängig ist zudem ein Verfahren vor dem Zürcher Handelsgericht. Geklagt hat dort das Staatsekretariat für Wirtschaft (Seco).

Auch Google will mit Viagogo nichts mehr zu tun haben und verzichtet auf Werbeaufträge. Jahrelang hatte sich die Firma bei Google die obersten Suchresultate gekauft.

Der Name der Muttergesellschaft ist zum Programm geworden: Pugnacious Endeavors bedeutet «kämpferische Unterfangen». Tatsächlich kämpft Viagogo an vielen Fronten. In Genf ermittelt der Staatsanwalt seit zwei Jahren, nächste Woche steht eine weitere Anhörung an.

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Otto Hostettler, Redaktor
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