Wer Schallplatten will, muss Monate warten
Schallplatten verkaufen sich so gut wie lange nicht mehr, und doch herrscht Krise. Die Herstellungsindustrie ist schlicht überfordert. Zumindest in der Schweiz gibt es nun aber Hoffnung.
Veröffentlicht am 23. August 2021 - 17:57 Uhr
Das neue Album der Zürcher Künstlerin Evelinn Trouble heisst «Longing Fever» und erscheint im Oktober 2021. Wer sich die Songs auf Schallplatte anhören möchte, muss länger warten. Die LPs werden frühestens im Januar 2022 ausgeliefert, fast vier Monate später. Das sei kein schönes Gefühl, sagt die 32-Jährige. «So verpufft der Wow-Effekt.»
Trouble ist nicht die Einzige mit dem Problem. Künstlerinnen und Künstler auf der ganzen Welt stehen mit ihren Lockdown-Alben vor den Presswerken Schlange. Gleichzeitig bleiben viele Plattenregale in den Läden leer. Über dem Vinylmarkt tobt gerade ein perfekter Sturm. Der Grund dafür klingt absurd: Es läuft schlicht zu gut. Die Branche ist ein Opfer des eigenen Erfolgs geworden.
«Vinyl ist populärer denn je», sagt Christian Wicky, Vizepräsident des Verbands unabhängiger Musiklabels (Indiesuisse) und selbst Musiker. «Als virusbedingt keine Konzerte mehr stattfanden, gaben viele Fans das Ersparte für Plattenkäufe aus.» Die gegroundeten Bands ihrerseits nutzten die Zeit, um neues Material einzuspielen. Diesem beschleunigten Rhythmus können die weltweit wenigen verbliebenen Presswerke nicht folgen.
Früher vergingen zwischen Aufnahmeende und Releasedatum rund drei Monate, heute dauert es im Extremfall bis zu ein Jahr, ehe ein Album auf Vinyl erscheint. «Die Verspätungen sind gigantisch», sagt Christian Wicky. Und sie sind natürlich Gift für den schnelllebigen Musikmarkt.
«So verpufft der Wow-Effekt.»
Einer, der die Krise sehr konkret zu spüren bekommt, ist Serge Berthoud. Er führt in der Berner Altstadt den Plattenladen Serge and Peppers. Als der australische Musiker Nick Cave im Februar sein Album «Carnage» veröffentlichte, war die Fachpresse voll des Lobes. Das Label rührte kräftig die Werbetrommel. Die Musik aber spielte nur auf Spotify oder anderen Streamingplattformen.
In Serges Laden fehlte die Scheibe bis Ende Mai, Kunden mussten vertröstet werden. «Das ist natürlich verheerend», sagt Berthoud. Wäre die LP zum Veröffentlichungsdatum erhältlich gewesen, hätte er doppelt so viele Exemplare verkauft.
Während der Coronakrise haben Fabriken in den USA und in Europa ihre Belegschaft reduziert oder den Betrieb zeitweise ganz heruntergefahren. Kurz vor Ausbruch der Pandemie, im Februar 2020, brannte die Fabrik von Apollo Masters bei Los Angeles, die lacküberzogene Rohlinge für die Presswerke herstellte. Das US-Musikmagazin «Rolling Stone» schrieb damals: «Der Tag, den alle in der Vinylproduktion seit Jahren gefürchtet haben, ist gekommen.» Nun gibt es weltweit nur noch eine Manufaktur in Japan, die diesen wichtigen Schritt in der Produktionskette von Vinyl-LPs übernehmen kann.
Vorrang für grosse Labels
In den USA wurden letztes Jahr fast 15 Millionen Schallplatten verkauft. Das entspricht einer Verdoppelung gegenüber dem Vorjahr. In Deutschland erlebt Vinyl eine regelrechte Renaissance mit stark steigenden Absatzzahlen. Gleiches gilt für die Schweiz.
Dass man mit Vinyl wieder Geld verdienen kann, haben auch die grossen Plattenfirmen gemerkt. Mit Folgen gerade für kleinere Labels: Wenn ein internationaler Superstar mit einer Grossauflage etwa ein Presswerk in Tschechien für Monate in Beschlag nimmt, müssen kleinere Namen hintanstehen. 10'000 Stück lohnen sich eben mehr als 300. Verkauft ein Künstler 500 Vinyl-LPs, macht er ungefähr 5000 Franken Profit. Unbezahlbar ist aber die Bindung zwischen Musikerin und Fan, die nur ein physischer Tonträger herstellen kann. Das gilt für Vinyl noch mehr als für CDs. Was man in Händen halten kann, vergisst man nicht so schnell.
Eine Lösung für die Vinylknappheit wären mehr Presswerke. Dass diese nicht wie Pilze aus dem Boden schiessen, hat mit dem Herstellungsverfahren einer Schallplatte zu tun. Kurz: Es ist sehr kompliziert. Die Maschinen sind zum Teil 40 Jahre alt, und die Menschen, die wissen, wie man sie bedient, sind in der Regel noch älter. In der belgischen Fabrik, wo Labelchef und Indiesuisse-Vizepräsident Christian Wicky seine Platten pressen lässt, beträgt das Durchschnittsalter über 60 Jahre.
Erwachen im Aargau
Doch nun gibt es zumindest in der Schweiz Hoffnung. Die Aargauer Firma Adon, die seit 1984 im Tonträgermarkt aktiv ist, hat sich eine Pressmaschine gekauft. Im Oktober soll sie in Betrieb genommen werden und damit einen 17-jährigen Dornröschenschlaf beenden, während dessen in der Schweiz keine Schallplatten gepresst worden sind.
Man wolle sich auf Stückzahlen von 300 bis 2000 konzentrieren, sagt Adon-Chef Andreas Krüsi. «Anfragen grosser Labels nehmen wir gar nicht an.» Bereits existiert eine Warteliste mit Künstlerinnen und Künstlern, die im Aargau pressen wollen. Der Erste, der in den Genuss kommt, ist der Schweizer Blueser Philipp Fankhauser, mit einer Wiederveröffentlichung von 2006. Erscheinungsdatum: 15. Oktober.
Der Umsatz mit Schallplatten in der Schweiz ist in den letzten Jahren stetig gewachsen. Derzeit befindet er sich auf dem Niveau von 1992: auf knapp über vier Millionen Franken.
Dabei nicht eingerechnet sind die vielen Secondhandverkäufe. Schätzungen gehen davon aus, dass zwei- bis dreimal so viele gebrauchte Platten jährlich die Besitzer wechseln, wie neue verkauft werden – oft zu hohen Sammlerpreisen.
Mitte der Achtzigerjahre setzte die Industrie hierzulande mit Vinyl noch mehr als 100 Millionen Franken um, ehe der Markt nach dem Aufkommen der CD und der digitalen Angebote auf eine halbe Million im Jahr 2005 sank.