Die Unbeirrbaren
Eigentlich braucht niemand mehr Videotheken, Plattenläden und Internetcafés. Und doch haben einige wenige überlebt. Wie das?
Veröffentlicht am 18. August 2021 - 13:44 Uhr
Ein Gewölbekeller in der Berner Altstadt: der Teppich grün mit gelben Blüten und Punkten. Fünf Computer starren auf Ficuspflanzen, die niemals Wasser brauchen. Beim Eingang stehen ein Kaffeeautomat und ein Kasten, der Münzen schluckt. Acht Franken die Stunde. Wer einen Fünfliber einwirft, erhält 50 Rappen Rabatt. Das Angebot: Surfen im Internet. Wer braucht so was im Jahr 2021?
«Super! Es ist super hier», sagt einer und schaut hinter dem Bildschirm hervor. Ein Mann um die 50, roter Pulli, breites Grinsen. Er hält den Daumen hoch. Hier müsse man sich nicht mit der Swisscom rumärgern. Ausserdem komme man mal raus.
Ein zweiter Besucher hockt jeden Tag im Keller. Wozu? «Um Youtube-Filme zu gucken oder nach Miniautos zu suchen.» Daheim habe er weder PC noch Internet. Wegen der Strahlung. Er verbringe etwa drei bis vier Stunden im Café, immer am selben Platz. Ebenfalls wegen der Strahlung.
In den 1990ern waren Internetcafés magische Orte. Auf klebrigen Tastaturen tippte man die ersten E-Mails, falls man jemanden kannte, der so was Verwegenes besass wie einen Macintosh oder einen Windows-95-PC. Man kam sich sehr modern vor. Heute sind 95 Prozent der Haushalte ans Internet angeschlossen. Die meisten Leute haben ein Handy und können so lange surfen, wie sie wollen. Wie kann ein Internetcafé da überleben?
«Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit.»
«Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit», sagt Robert Belle. Ihm gehört das Weblane, das Lokal im Herzen von Bern. Das alte Sprichwort mit der Zeit meint er keineswegs ironisch. Sein erstes Internetcafé ging 2001 in Lyss ans Netz. Die Zeit fürs Surfen stoppte er mit einer Eieruhr. Im Weblane läuft alles vollautomatisch, Belle muss nicht mal anwesend sein. Daran hat er jahrelang getüftelt. «Alles ist sauber, die Geräte sind robust, die Bildschirme so platziert, dass man Privatsphäre hat.»
Reicht das? Man ahnt: Es gibt noch einen anderen Grund. Er steht direkt neben der Kaffeemaschine: ein Drucker und Kopierer. Aussendienstler drucken schnell eine Offerte aus, Leute mit Fernweh kopieren ihren Antrag für ein Visum. Die Dokumente bearbeiten sie vorher an den PCs. Der Gewölbekeller ist ein Büro für Bürolose.
Drei bis zwanzig Kunden kommen laut Robert Belle pro Tag. Mehr als ein Trinkgeld wirft das nicht ab. Das Weblane betreibe er «aus Freude». Hauptberuflich verkauft er schräg gegenüber Material für Cosplayer – Leute, die Kostüme bekannter Charaktere aus Filmen und Videospielen nachbauen.
Fenster in die Vergangenheit
Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit. Die Digitalisierung forderte schon viele Opfer: Videotheken, CD-Läden, Telefonkabinen.
Und doch gibt es sie noch: Fenster in die Vergangenheit, kleine Inseln des Analogen. Etwa das Dezibelle in der Aarauer Innenstadt. Draussen baumeln an einem Kleiderständer Schallplatten, drinnen dreht sich die neuste Scheibe der Kings of Convenience auf dem Teller. Hinter der Theke steht seit 23 Jahren Dimitri «Dimi» Denage. Einer, der im Zeitalter des Streamings noch Tonträger verkauft. Nutzt er selber Dienste wie Spotify? Dimi reisst die Augen auf: «Sicher nicht! Nur die dümmste Sau wählt ihren Metzger selber.»
Dimis Plattenladen ist nicht viel grösser als ein Wohnzimmer. Etwas erhöht steht die Theke, daneben ein Plattenspieler fürs Reinhören. In den Gestellen reihen sich die Platten, sortiert nach Genre, Alphabet oder Thema. Von Nick Cave bis zu persischer Popmusik aus den 1970er-Jahren – Dimi hat alles. Fast alles. «Primitiven deutschen Rap verkaufe ich nicht. Gewaltverherrlichende Inhalte lehne ich ab und helfe nicht, das zu verbreiten», sagt er.
Einmal habe er sich geweigert, einem 14-Jährigen eine solche CD zu bestellen. Danach sei er mit seinen Eltern wiedergekommen. «Ich habe ihnen erklärt, was auf der Scheibe zu hören ist. Sie waren sehr dankbar.» Jugendschutz nach Dimi-Art.
«Ich glaube, die Leute haben wieder mehr Lust, bewusst Musik zu hören.»
Auch wenn es aussieht, als wären die Umwälzungen der Musikindustrie spurlos am Dezibelle vorbeigezogen: Dimi Denage ging mit der Zeit. Als er den Laden 1998 eröffnete, hatte er hauptsächlich Platten für DJs in den Gestellen. Sie standen bei ihm Schlange. Die Konkurrenz setzte auf CDs.
Als ein CD-Laden nach dem anderen schloss, nahm Dimi auch populärere Musik ins Sortiment auf und stellte auf CDs um. Vor einigen Jahren bekamen viele plötzlich wieder Lust auf Vinyl. Also machte Dimi erneut eine Kehrtwende und verkauft seither fast nur noch Platten. Hin und wieder verschlage es Teenager zu ihm, sie fragen nach Billie Eilish oder Harry Styles. «Ich glaube, die Leute haben wieder mehr Lust, bewusst Musik zu hören», sagt er.
Kann es sein, dass der Mensch im Grunde nicht umgehen kann mit der Fülle an Inhalten, die immer und überall verfügbar ist? Geht das Gefühl für das Besondere verloren?
Digitale Nostalgie
Nicht nur die Platte feiert ein Comeback. Die Lust auf Vinyl scheint Teil einer Bewegung zu sein. Der deutsche Medienforscher Dominik Schrey nennt es digitale Nostalgie. Damit meint er Phänomene wie die vor ein paar Jahren aufgeflammte Nachfrage nach Polaroidkameras oder den regen Gebrauch von Analogfiltern für Handyfotos. Es sei ein Versuch der Entschleunigung.
Diesen Trend spürt man auch anderswo: Altes, langsames Handwerk wie Stricken oder Häkeln ist wieder interessant, Selbstversorgung ebenso. Dabei sagte das Gottlieb-Duttweiler-Institut (GDI) schon vor vier Jahren das «Ende des Konsums» voraus. Strassen und Gassen voller Ladengeschäfte werde es nicht mehr geben. Der Kühlschrank, der sich selber füllt, ist Realität, und das sei nur der Anfang. Wird der Retrotrend, die Sehnsucht nach Handfestem, diese Entwicklung aufhalten?
Karin Frick, Forschungsleiterin am GDI, glaubt nicht daran. Gegentrends seien normal. «Alles, was verschwindet, wird dadurch auch wieder interessant», sagt sie. Die meisten Dinge verschwänden nie ganz, sondern erhielten einen neuen Wert. «Kerzen brauchen wir nicht mehr als Lichtquelle, aber für die Stimmung.»
Aus Sicht von Trendforscherin Frick zeigt die Erfahrung: Langfristig setzt sich das Bequemere und Effizientere durch. «Bisher ist kein Land aus der Elektrizität ausgestiegen, und niemand wäscht seine Kleider von Hand.» Trotzdem werde es immer Nischen geben für das Besondere, das verloren zu gehen drohe. «Es bietet die Möglichkeit, sich abzuheben von der Masse und sich als Kennerin hervorzutun.»
Wie hiess noch mal dieser Film aus Südamerika mit dem grimmig blickenden Hund, der an Wettkämpfe fährt? Die Antwort findet man im Netz, wenn man lange sucht. Oder man fragt den Menschen hinter der Theke des Les Videos im Zürcher Niederdorf. Der sagt, ohne nachzudenken: «Bombón, el perro». Und nennt im gleichen Atemzug drei weitere Filme, die man gesehen haben muss.
Das Les Videos ist eine der letzten Videotheken im Land. Auf drei Stockwerken, verbunden über knarzende Holztreppen, gibt es Filmperlen, Schund und alles dazwischen. In jeder noch so kleinen Nische stehen DVDs. Sogar in der Miniküche hinter der Theke stapeln sich die Scheiben. Etwa 1000 Stück sind ständig im Umlauf. «Was wir nicht haben, können wir in den meisten Fällen beschaffen», sagt Fabio Feller.
«Bei uns findet man Filme, die es im Netz nicht gibt.»
Feller hat den Laden Anfang der 2000er-Jahre übernommen. Damals brummte das Geschäft. DVDs waren neu und revolutionär. Man konnte sie auf dem Laptop abspielen: «Die nackte Kanone» im eigenen Bett! Am Sonntagmittag in die Videothek schlurfen – das gehörte zum Wochenende wie der Brummschädel. Es gab an jeder Ecke eine. Heute sind die meisten weg.
Das Les Videos hat überlebt. Warum? «Wir waren schon immer speziell und sehen uns auch nicht als Gegenpol zu Streamingangeboten, sondern als Ergänzung», sagt Fabio Feller. Das Les Videos sei ein Filmarchiv, eine kulturelle Institution. «Bei uns findet man Filme, die es im Netz nicht gibt.»
Vielleicht ist es auch dieses wohlige Gefühl, das einen ergreift, sobald man den Laden betritt. Es gibt eine Kiste mit «Schnäppchen» und eine Ecke mit persönlichen Filmtipps der Mitarbeitenden. Man spürt: Hier sind Menschen mit Hingabe am Werk. Kundinnen schreiben Postkarten, Liebesgrüsse aus Moskau und anderswo. «Bitte macht weiter, es ist gut, dass es euch gibt!»
Dennoch: Auch das Les Videos musste mit der Zeit gehen. Es gibt ein Abo wie bei Netflix. Seit 2016 ist es ein Verein, ohne Spenden geht es kaum. Das Team hat sich die Löhne gekürzt und das Obergeschoss untervermietet. Das hiess Abschied nehmen: «Wir hatten Berge von VHS-Kassetten und mussten vieles entsorgen, was es auch auf DVD gab oder keinen besonderen Nutzen hatte», sagt Feller. Er brachte die Ware eigenhändig zur Kehrichtverbrennungsanlage.
Was lässt ihn weitermachen? «Unsere Kundschaft, die Mitarbeitenden und die Tatsache, dass so viel mehr verloren ginge als nur ein paar DVDs. Das ganze gesammelte Wissen.» Einer, der das nie wieder erleben möchte, ist Co-Geschäftsführer Dominic Schmid. Er arbeitete früher in einer Videothek in Biel. «Als wir den Ausverkauf durchziehen mussten, brach es mir fast das Herz.»
Das Buch – unzerstörbar?
Nur ein Medium hat die Digitalisierung bisher relativ unbeschadet überstanden: das Buch. E-Books haben sich nicht im grossen Stil durchgesetzt. Das Buch sei ein Spezialfall, sagt GDI-Trendforscherin Karin Frick. «Es steht für sich allein. Man braucht kein Gerät, um es nutzen zu können.» Es sei aber nur eine Frage der Zeit, bis auch das Buch abgelöst werde.
Es könnte ihm ähnlich ergehen wie der Kerze: Es erhält einen neuen Zweck und dient nur noch als Deko. Ein Büchergestell mit E-Books? Das macht einfach nichts her.
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