«Als ich Jugendlicher war, hätte ich wohl auch nicht mein Nachbar sein wollen», meint Karl Barsch (Name geändert) am Schluss des Beratungsgesprächs nachdenklich. Vielleicht sei es ja nichts als gerecht, dass er heute selbst unter Lärmbelästigung leide, erklärt er der Beraterin Annalies Dürr von der Zürcher Stiftung Domicil, die sich der Förderung der Wohnqualität verschrieben hat.

Schliesslich habe er damals die von starker Migräne geplagte Nachbarin seines Elternhauses auch gehörig mit lauter Musik und Unflätigkeiten gepeinigt. Annalies Dürr schüttelt nur den Kopf. «Eine Wohnung ist etwas sehr Intimes. Dahin will man sich zurückziehen, sich abgrenzen können», sagt sie. «Eine Wohnung ist wie eine zweite Haut. Unter diesem Gesichtspunkt kann Lärm nicht gerecht sein.»
 

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Früher regierten die Hausmeister

Seit bald zehn Jahren wohnt Karl Barsch nun schon in einer einfachen und günstigen Genossenschaftswohnung in Zürich-Wiedikon. Es ist ein klassisches, sozial stark durchmischtes Stadtquartier. Hier wohnen Junge und Alte, Arme und Erfolgreiche, Singles und Familien, Ausländer und Superschweizer – nebeneinander und miteinander.

Als Barsch an der Rotachstrasse einzog, sorgte noch ein altes Hauswartehepaar für Ruhe und Ordnung. Es herrschte ein eisernes Regime: Waschen am Wochenende war strengstens verboten, das Treppenhaus hatten die Mieter selber zu putzen, die Fensterbänke mussten freigehalten und die Velos am Sonntag im Keller verstaut werden. Warum, konnte einem niemand erklären. Es war, wie es war.

Allfällige Verstösse gegen die geltenden Regeln wurden mit Zurechtweisungen in erhobener Stimme geahndet, die das Treppenhaus jeweils hundertfach widerschallen liess. Doch die günstigen Mietzinsen machten es Karl Barsch leichter, über diese Standpauken hinwegzusehen.

Irgendwann schien auch dem Hauswartehepaar das Reklamieren und Ermahnen vergangen zu sein, und so zog es nach über 30 Jahren Hausherrschaft weg. Doch jetzt hielt an der Rotachstrasse das nächstgrössere Ärgernis Einzug: eine allein erziehende Mutter brasilianischer Herkunft mit ihrem schwer pubertierenden Sohn.

«Die Erste, die die Wände hochging, war die Ärztin von zuoberst», erzählt Barsch. Sie wohnt direkt über den Neuzuzügern. Lange, anspruchsvolle Arbeitstage und ein unregelmässiger Dienstplan – der Alltag verlangt ihr viel ab. Wenn sie endlich Feierabend hat, dürstet die Ärztin nur nach einem: nach Ruhe.

Doch damit ist es von nun an vorbei. Künftig muss zu allen Tages- und Nachtzeiten mit störender Unbill gerechnet werden: rauschende Partys unter der Woche, Stöckelschuhgeklapper mitten in der Nacht, wummernde Hiphop-Beats rund um die Uhr.

Reklamationen der Ärztin quittiert die junge Mutter mit dem Generalvorwurf des Rassismus: Sie sei halt aus einer anderen Kultur, das müsse man respektieren. Ist der Sohn allein zu Hause, öffnet er nicht einmal die Tür und lärmt fröhlich weiter.
 

 

Ein Gespräch mit Scheinlösung

Schon wenige Wochen nach Einzug der Neuen ist die Ärztin am Rand eines Nervenzusammenbruchs. Nach einem halben Jahr will sie ausziehen. Es muss etwas getan werden. Karl Barsch, vom Lärm nicht direkt betroffen, da er auf der anderen Seite des Treppenhauses wohnt, bietet sich als Schlichter an. «Ausziehen? Kommt nicht in Frage! Man darf sich doch nicht einfach verdrängen lassen», so Barsch.

Das Gespräch mit der Mutter verläuft hoffnungsvoll. Man sitzt am selben Tisch, trinkt ein Bier und schwatzt. Die Mutter erklärt sich, verweist auf den Umstand, dass sie halt eben Brasilianerin sei und allein erziehend und dass die anderen deswegen Toleranz üben müssten. «Klar», erwidert Karl Barsch, aber Toleranz sei keine Einbahnstrasse. «Toleranz ist nur gegen Rücksicht zu haben», so seine Überzeugung. Man einigt sich darauf, künftig besser aufeinander zu achten. Und tatsächlich herrscht einige Wochen lang Ruhe. Es ist die Ruhe vor dem Sturm.
 

 

Die Vermieter drücken sich

«Es mag banal klingen, aber dass Konfliktparteien miteinander sprechen, ist sehr wichtig», erklärt Annalies Dürr von Domicil. Gerade im interkulturellen Bereich sei es entscheidend, dass sich Mieter ein bisschen kennen. Denn oft sind bei Nachbarschaftskonflikten Missverständnisse und Vorurteile im Spiel. Sprache spiele dabei eine grosse Rolle. Fast die Hälfte aller Beratungsgespräche von Domicil drehen sich um Lärmprobleme in der Nachbarschaft. «Eigentlich ist es unverständlich, dass sich die Vermieter nicht besser darum kümmern, die neuen Mieter den alten vorzustellen», so Dürr. Schliesslich seien Mieter Kunden – es könne doch nur im Interesse der Vermieter sein, dass in ihren Häusern Frieden herrsche.

Tatsächlich fühlen sich laut Gesundheitsbefragung 2002 des Bundesamts für Statistik gut 17 Prozent aller Schweizer durch Lärm von Nachbarn gestört. In Kantonen mit hohem Anteil an städtischer Bevölkerung wie Zürich, Basel-Stadt oder in den Tessiner Agglomerationen leiden deutlich mehr Menschen unter Nachbarschaftslärm als in Kantonen mit ländlicher Bevölkerung. Im Kanton Genf fühlen sich 27 Prozent der Leute durch den Lärm von Nachbarn belästigt – schweizweit ein Spitzenwert: Lärm wird als umwelt- und gesundheitsrelevante Grösse unterschätzt.

Es geschieht am Tag der Streetparade – einem Tag, an dem sich Zürcher gewohnt sind, einiges an Lärmbelastung in Kauf zu nehmen. Exakt um 5 Uhr 30 in der Frühe verwandeln sich die Mauern der Rotachstrasse in «Radio Energy». Die ganze Strasse steht im Bett. Alle sind wach. Ausser jene, die den Lärm verursachen. Rufen, Klopfen, Kratzen – da hilft alles nichts, die Tür bleibt stumm, die Wohnung gellend laut. Bis Karl Barsch zum ersten Mal in seinem Leben die Polizei ruft.

Die Polizisten müssen lachen, als sie das Treppenhaus betreten. «Ein lustiges Nachtvölkchen hier», stellen sie ironisch fest. Dann hämmern sie mit ihrem Mehrzweckstock an die verschlossene Tür, dass es allen Anwesenden angst und bang wird. Nach einiger Zeit öffnet die Mutter die Tür, verschlafen, irritiert. Alle schauen sie die Krach machende Nachbarin an, und es galoppiert die Fantasie: «Wie verladen muss man sein, um bei diesem Lärm schlafen zu können», denkt sich Barsch. Als er der Mutter am nächsten Tag erklärt, dass er es gewesen sei, der die Polizei gerufen habe, ist die Zeit des Dialogs vorbei. Die Toleranzgrenze sinkt von Tag zu Tag.
 

 

Wie die Freude im Lärm untergeht

Ein halbes Jahr später übernimmt Barsch eine grössere Wohnung im selben Haus. Es ist ein richtiger Glücksfall – das glaubt er zumindest. Die neue Wohnung befindet sich zuoberst im Haus. Sie ist erheblich heller und hat ein kleines, charmantes Zimmer mehr als die alte Wohnung. Was Barsch aber nicht weiss, weil der Grundriss des alten Hauses arg verwinkelt ist: Sein neues Zimmerchen liegt direkt über jenem des pubertierenden brasilianischen Sohns. Die Stunde der Wahrheit kommt bereits am Samstagabend nach dem Einzug und nach einer langen Arbeitswoche kurz vor 18 Uhr, als sich Barsch das Recht nimmt und eine Etage tiefer geht. «Machst du bitte die Musik etwas leiser?», fragt er. «Warum?», erwidert der Krachmacher. «Weil es mich stört», sagt Barsch. «Hey, das isch mir scheissegal!», hustet der Junge. «Ich bin jung. Ich muess läbe», bellt er und schlägt die Wohnungstür zu. Barsch, stumm, kocht vor Wut.
 

 

Der Lärm geht an die Substanz

Der Brief, den Barsch am nächsten Tag per Einschreiben an die Mutter und den Hausverwalter schickt, bleibt unbeantwortet. Der Verwalter mag sich mit dem Fall nicht beschäftigen. Er empfiehlt, sich jeweils direkt an die 117 zu wenden. «Die Polizei kommt nur ein-, zweimal – das wird sehr schnell sehr teuer», meint er lapidar. Wenn es den Menschen ans Portemonnaie gehe, reagieren die meisten sehr rasch. «Die Polizei steckt klare Grenzen ab», sagt auch Annalies Dürr. Wenn die Ordnungshüter auftauchen, ist allen klar, dass nun fertig lustig sei. Aber wann ist dieser Schritt gerechtfertigt?

«An der ganzen Situation wurmt mich am meisten, dass ich nicht mehr in der Lage bin, diesen Konflikt distanziert anzugehen. Dass ich nicht mehr der nüchterne Aussenstehende bin, der ich einmal war», erklärt Barsch. «Heute gehe ich schon wegen der kleinsten Störung an die Decke. Zumindest sofern sie von der jungen Familie kommt», sagt er.

«Was müsste denn geschehen, damit Sie sich in Ihrer Wohnung wieder wohl fühlen?», fragt Annalies Dürr zum Schluss des Gesprächs. «Eigentlich nicht viel. Ich möchte nur das Recht haben, sagen zu dürfen, wenn ich mich gestört fühle, und wissen, dass ich damit auf Resonanz stosse», sagt Barsch.

Laut Dürr bewähren sich in solchen Fällen Haussitzungen, an der die Wohnparteien ihre Bedürfnisse einbringen können und ein Reglement geschaffen werden kann, das allen gerecht wird. «Es ist doch absurd, in einem Haus mit Kindern Ruhezeiten von 12 bis 14 Uhr durchsetzen zu wollen, wie es die meisten Hausordnungen vorsehen», sagt Dürr. Aber eben: Für Haussitzungen bräuchte es die Einsicht aller, dass sich etwas ändern muss. Und davon ist man im Haus von Karl Barsch weit entfernt. Es herrscht das Recht des Lauteren.

«Seit neustem dengelt jemand im unteren Stock nachts mit etwas Metallischem an der Heizung», erzählt Barsch. Die Frage sei jeweils nur noch, was einem mehr Schlaf raube: dieses nervige und durchdringende Ding-ding-diding des Heizkörpers oder – falls man sich zur Reklamation überwindet – der Ärger darüber, dass man sich schon wieder habe anschnoddern lassen müssen.
 

Organisationen

 

  • Stiftung Domicil, Kanzleistrasse 80, 8004 Zürich, Telefon 044 245 90 25, Fax 044 245 90 39; Internet: www.domicilwohnen.ch
  • Bundesamt für Umwelt, Wald und Landschaft (Buwal), Abteilung Lärmbekämpfung, 3003 Bern, Telefon 031 322 92 49; E-Mail: noise@buwal.admin.ch; Internet: www.umwelt-schweiz.ch
  • Cercle Bruit Schweiz, Vereinigung kantonaler Lärmschutzfachleute, c/o Amt für Umweltschutz des Kantons Luzern, Postfach, 6002 Luzern; E-Mail: beat.marty@lu.ch; Internet: www.cerclebruit.ch
  • Tiefbauamt des Kantons Zürich, Fachstelle Lärmschutz, Europa-Strasse 17, 8152 Glattbrugg; Telefon 044 809 91 51, Fax 044 809 91 50; E-Mail: fals@bd.zh.ch; Internet: www.laerm.zh.ch