Debatten funktionieren am einfachsten, wenn sie an zwei Polen aufgehängt werden. So hat sich zur «Zersiedelung» der «Dichtestress» gesellt – eigentlich ein Begriff aus der Tierbiologie. Und weil sich jeder selbst zurechtlegen kann, was er darunter versteht, fördert der Begriff raumplanerische Scheindebatten. Denn niemand muss ausführen, was den Widerstand gegen Verdichtung eigentlich schürt – und wie damit verbundene Herausforderungen stressfrei gelöst werden könnten.

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Bauen, wo niemand wohnt

Da wären erstens strukturelle Faktoren. Über lange Zeit wurde in der Schweiz vor allem dort gebaut, wo niemand wohnt: am Siedlungsrand. Weil an den Siedlungsrändern in der Regel Bauzonen für Einfamilienhäuser entstanden, wurde auch immer weiter in die Breite gebaut.

Das hat Konsequenzen: Einerseits befinden sich heute gerade einmal zehn Prozent des Wohnungsbestands im vierten Stock oder höher. Oder umgekehrt formuliert: 90 Prozent wohnen zwischen Erdgeschoss und drittem Stockwerk. Anderseits haben sich durch das Bauen in die Fläche hinaus die Wege zu Arbeitsplätzen, zu Einkaufsmöglichkeiten oder zu Freizeitangeboten deutlich verlängert. An «Dichtestress» leiden deshalb genervte Pendler, die im Stau und in vollen S-Bahnen stecken – nicht etwa weil sie aus Reflex die Mengen scheuen, sondern weil an zentralen Lagen nicht genügend Wohnraum entsteht.

Am meisten leiden Stadtrand-Städter

Zweitens wäre da der Hang zu Trendwenden: Seit rund zehn Jahren wird vermehrt im bewohnten Gebiet verdichtet, das heisst, man stockt bestehende Bauten auf oder ersetzt sie durch grössere – in der Regel dort, wo Planer Reserven orten. Und dies ist insbesondere in locker bebauten Gartenstadt-Quartieren der Fall. Dabei weiss man aus Befragungen, dass «grösser und mehr» an dicht bebauten städtischen Lagen viel eher akzeptiert wird als in peripheren, oft dörflich geprägten Quartieren. An «Dichtestress» leiden deshalb Stadtrand-Städter, die Wohnqualitäten bedroht sehen, die sie gerade hier gesucht haben, anstatt in die Innenstadt zu ziehen: eine gleichgesinnte Nachbarschaft, viel Grün und Ruhe sowie genügend Abstand zum öffentlichen Leben.

Man will Konflikte vermeiden

Drittens wären da Konfliktvermeidungsstrategien: Statt mit den Besitzern umliegender Grundstücke zu streiten, verbaut man heute vermehrt grüne Wiesen oder Industriebrachen im Quartier. Das ermöglicht es zwar mehr Menschen, an zentralen Lagen zu wohnen, verbaut aber wertvolle Freiräume und erhöht den Druck auf die verbleibenden öffentlichen Räume. An «Dichtestress» leiden deshalb auch eingefleischte Städter – nicht weil sie von invasiven Arten oder hohen Häusern bedrängt werden, sondern weil sich die wenigsten daran erinnern, wann das letzte neue Freibad oder der letzte neue öffentlich nutzbare Park gebaut wurde.

Ehrliche Diskussion tut not

Vieles deutet also darauf hin, dass «Dichtestress» eine Fehldiagnose ist: Statt «Zersiedelung» und «Dichtestress» gegeneinander auszuspielen, wäre es an der Zeit, eine ehrliche Diskussion darüber zu führen, wo bauliche Veränderungen in welcher Form akzeptiert werden und was es braucht, damit das Bevölkerungswachstum nicht zu einer Nivellierung von Raumtypen und Wohnqualitäten führt. Die Akzentuierung städtischer und ländlicher Qualitäten in den Städten und die Bereitschaft, städtebauliche Ideologien zu hinterfragen und in einem kooperativen Prozess mit Eigentümern und Anwohnern langfristige Lösungen anzugehen, bringen sicher mehr, als den Weg des geringsten Widerstands zu gehen und die letzten Flächen zu verbauen – oder angesichts des «Dichtestresses» das Handtuch zu werfen.

Zur Person

Joëlle Zimmerli hat Soziologie studiert und sich in Gemeinde-, Stadt- und Regionalentwicklung weitergebildet. Sie ist Inhaberin des Planungs- und Beratungsbüros Zimraum in Zürich sowie Dozentin an verschiedenen Hochschulen.

Quelle: Daniel Müller/Illumueller