Margrit Schweizer
Im Bild oben links sieht man sie in einem seltenen Moment mit ihrer Mutter und ihrer Tochter.
Margrit Schweizer bittet und fleht an diesem Märztag 1966. Sie steht in der Solothurner Klinik Obach vor der Tür zum Säuglingszimmer, will ihre neugeborene Tochter holen und nach Hause. Doch Ordensschwester Maria verwehrt ihr den Zutritt. Sie muss das Baby auf Geheiss der örtlichen Vormundschaftsbehörde zurückbehalten. Denn Margrit Schweizer hat etwas getan, was nicht sein darf: Sie hat ein Kind zur Welt gebracht, ohne verheiratet zu sein.
Wie Margrit Schweizer erging es in der Schweiz während Jahrzehnten ungezählten Frauen. Noch in den siebziger Jahren trennten Vormundschaftsbehörden willkürlich Neugeborene von ihren oft noch minderjährigen Müttern. Weil sie aus ärmlichen Verhältnissen stammten, angeblich ein «liederliches Leben» führten oder weil ihre Männer Alkoholiker waren oder als «arbeitsscheu» galten.
Die Sozialbehörden ergriffen sogenannte fürsorgerische Zwangsmassnahmen. Die Kinder landeten bei Pflegefamilien, in Heimen, wurden an Bauern verdingt. Nicht allen erging es schlecht. Die meisten jedoch bekamen den Makel ihrer Herkunft deutlich zu spüren, wurden stigmatisiert, benachteiligt, ausgenutzt. Viele leiden bis heute darunter, dass sie als Jugendliche zur Nacherziehung in eine Anstalt oder ohne juristisches Verfahren in ein Gefängnis gesteckt wurden. Oder dass ihnen als junge Frauen das ungeborene Kind abgetrieben wurde – und dass man sie oft auch gleich noch sterilisierte.
Die offizielle Schweiz tut sich noch immer schwer, diese Vergangenheit zu bewältigen. Es geht nur in kleinen Schritten vorwärts. Ein Gesetzesentwurf sieht jetzt immerhin vor, die administrativ Versorgten zu rehabilitieren (siehe unten). Zudem plant Bundesrätin Simonetta Sommaruga für die Verdingkinder, deren Zahl in die Tausende geht, 2013 einen offiziellen Gedenkanlass. Jene, die gegen ihren Willen oder ohne ihr Wissen sterilisiert wurden, werden auf einen späteren Zeitpunkt vertröstet, und von den Frauen, denen man die Kinder raubte, ist zurzeit keine Rede.
Solche fürsorgerischen Zwangsmassnahmen hatten für Kinder genauso dramatische Folgen. Das zeigt die Geschichte von Rita Rotach, geboren 1952 in Luzern – unehelich. Die Vormundschaftsbehörde verpflanzte sie nach der Geburt in eine Pflegefamilie. Die genauen Umstände liegen im Dunkeln. Ihre leibliche Mutter ist vor einigen Jahren verstorben. Sie hatte nie viele Worte darüber verloren, genauso wenig wie der Stiefvater. Nach seinem Tod fand Rita Rotach vor knapp zwei Jahren einen Ordner voller Akten – aus Wut und Ohnmacht verbrannte sie das meiste. Ein Dokument von 1954 blieb erhalten. Es lässt erahnen, was man in den Amtsstuben von ihren leiblichen Eltern hielt. Die Behörden betitelten ihren Vater, der vor ihrer Geburt «an den Folgen eines Unglücksfalls» verstorben war, mit «Schwängerer». Der Mutter unterstellten sie einen «unzüchtigen Lebenswandel», das zweijährige Kind bevormundeten sie.
«Am 15. März 1966 gebar ich abends um 22.20 Uhr in der Klinik Obach in Solothurn eine Tochter. Ich war überglücklich, als ich sie im Arm hatte. Am nächsten Morgen stand der Präsident der Vormundschaftsbehörde neben dem Bett und eröffnete mir, ich müsse das Baby zur Adoption freigeben. Einen Grund nannte er nicht. Ich weigerte mich, das Formular zu unterschreiben. Meine Tochter konnte ich zweimal stillen. Dann strichen sie mir die Brüste mit Kampfersalbe ein und banden sie ab.
Ich war 20, als ich von meinem zehn Jahre älteren Freund schwanger wurde. Er war ein flotter Typ, sagte aber, er werde sein Leben lang nie heiraten. Stattdessen wollte er mir ein Kuvert mit Geld geben und die Sache so erledigen. Das wollte ich nicht. Ich freute mich auf mein Kind. Geplant war, dass meine Eltern zum Kind schauen, damit ich arbeiten konnte.
Als ich ein paar Tage nach der Geburt meine Tochter Karin im Säuglingszimmer holen wollte, drohte mir die Schwester, sie müsse auf Anweisung der Behörde die Polizei rufen, wenn ich das Baby mitnehme. Für mich brach eine Welt zusammen. Ich musste Karin dortlassen und allein nach Hause. Sechs Wochen lang besuchte ich sie in der Klinik, eines Tages war Karin nicht mehr dort. Man hatte sie zu einer Pflegefamilie gebracht. Später kam sie in ein Kinderheim nach Grenchen. Es war grauenhaft, ich war machtlos, ich war den Behörden ausgeliefert. Ich bin nie straffällig geworden, liess mir nie etwas zuschulden kommen und war auch nie bevormundet. Warum nur haben sie mir mein Kind weggenommen?
Ich wollte Karin unbedingt zurück. Nach ein paar Monaten kam sie zu einer Bauernfamilie. Dort wuchs sie auch auf. Immerhin hatte sie es gut dort. Wenn ich freihatte, durfte ich sie für ein paar Stunden abholen. Die Vormundschaftsbehörde sagte mir, wenn ich heiraten würde, könne ich mein Kind wiederhaben. Dann lernte ich einen Mann kennen, es war die Liebe meines Lebens. Wir hatten grosse Pläne, wollten heiraten. Doch ich war in einem Dilemma: Er lebte in Österreich. Wäre ich zu ihm gezogen, hätte ich meine Tochter endgültig verloren. Ich entschied mich für meine Tochter und liess meine grosse Liebe ziehen.
Doch ich verlor auch meine Tochter. Per Gerichtsbeschluss entzog man mir die elterliche Gewalt. Ich wurde nach Solothurn vorgeladen. Ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen. Die Behörden fragten meine Tochter: ‹Wen hast du lieber: Mama oder Mami?› Das war zu viel für mich, ich konnte nur noch schreien und lief davon. Meiner Tochter mache ich keinen Vorwurf, ich kann ihr nicht böse sein. Aber bis heute habe ich eine unglaubliche Wut auf die Behörden von damals.
Den Kontakt zu Karin konnte ich noch ein paar Jahre aufrechterhalten. Irgendwann brach er ab. Später einmal musste ich einen Geburtsschein besorgen. Da stand: ‹Vater: unbekannt›. Das ist unglaublich. Ich selber habe gesehen, wie die Schwester auf das Formular den Namen des Kindsvaters schrieb. Er hat auch jahrelang Alimente bezahlt.
In meinem Umfeld weiss fast niemand von meiner Geschichte, ich schäme mich dafür. Ich habe eine Tochter, aber ich konnte nie ihre Mutter sein.»
Rita Rotach hat sich weitergebildet und hochgearbeitet, sie hat zwei erwachsene Kinder, lebt in einem Einfamilienhaus. Sie könne zufrieden sein, sagt sie. Und trotzdem – sie kommen ihr immer wieder hoch, die Erinnerungen an die Zeit, in der sie nicht wusste, wohin sie gehörte. An die Loyalitätskonflikte, die Stigmatisierung, an der sie als Jugendliche beinahe zerbrach. Sie fragt sich oft, wie ihr Leben wohl verlaufen wäre, wenn die Behörden 1952 ihrer Mutter und ihr eine Chance und Unterstützung gewährt hätten, statt sie ihr einfach wegzunehmen. «Die Behörden haben uns so sehr voneinander entfremdet, dass wir nie eine normale Beziehung aufbauen konnten», sagt sie. «Sie haben uns umeinander betrogen.»
Die Mütter, denen man die Kinder raubte, empfinden oft sehr ähnlich. «Ich komme bis heute nicht darüber hinweg, dass ich meine Tochter verloren habe», sagt die inzwischen 67-jährige Margrit Schweizer. Für Eltern besonders schlimm: Zuerst nahm man ihnen ohne ersichtlichen Grund die Kinder weg, heute verwehrt man ihnen, mit diesen in Kontakt zu treten. Denn bis heute haben sie aufgrund des Adoptionsgeheimnisses keinerlei rechtlichen Anspruch, von den Behörden etwas über den Verbleib ihrer (erwachsenen) Kinder zu erfahren. Im Gegenzug können die Adoptivkinder selber ab dem 18. Lebensjahr Auskunft über die Personalien der leiblichen Eltern verlangen. Margrit Schweizer entdeckte Jahre später in einer Todesanzeige, dass ihre Tochter den Namen der neuen Pflegefamilie angenommen hatte. Ob ihre Tochter inzwischen Kinder hat, sie also Grossmutter ist, weiss sie nicht.
«Meine Mutter arbeitete im Service, zuerst auf dem Land, dann in Luzern. Dort hat sie meinen Vater kennengelernt, einen Süsswassermatrosen auf dem Vierwaldstättersee. Ein hübscher Mann, lebenslustig, immer gut angezogen, nie einen Rappen in der Tasche. Ein One-Night-Stand. Sie sagte mir immer, sie wisse nicht, wie er geheissen habe, obwohl ich in den Dokumenten später sah, dass sie seinen Namen gekannt hatte. Er starb, als meine Mutter schwanger war. Fiel von einer Leiter. Es heisst, jemand habe die Leiter umgestossen, aber man ging der Sache nie nach.
Meine ersten Erinnerungen stammen aus der Zeit bei der Pflegefamilie. Ich fühlte mich wohl dort. Meine leibliche Mutter sah ich selten, sie kam hin und wieder für ein paar Stunden zu Besuch. Ich wusste nicht, wer diese Frau war. Ich hielt sie für eine Tante, empfand keine besondere Bindung zu ihr – später warf mir meine Mutter einmal vor, ich hätte ihr als Dreijährige gesagt, dass ich sie nicht gernhabe. Als ich fünf war, holte sie mich nach Basel, wo sie inzwischen geheiratet hatte. Ich sehe noch immer das Bild vor mir, wie ich bei ihr in Basel ankomme. Da steht ein Mann in Militäruniform, und die Frau, die ich kaum kenne, zeigt auf ihn: ‹Das ist jetzt dein Papi.› Ich bin verwirrt, denke: ‹Aber ich habe doch schon Mami und Papi.›
Wir versuchten, eine normale Familie zu sein. Wir hatten schöne Zeiten, wenigstens zu Beginn. Doch das änderte sich etwa ab 1958, als meine Mutter wieder ein Mädchen gebar, und verschärfte sich mit jedem weiteren Kind. Meine Eltern waren überfordert. Die Situation war angespannt, das Geld reichte nur knapp, trotzdem wuchs die Familie beständig. Später erfuhr ich, dass mein Stiefvater mit seiner unbewältigten Vergangenheit als Verdingbub Schweres mit sich herumtrug. Ich wurde regelrecht verprügelt, immer wieder, von der Mutter und vom Stiefvater. Als ich 15 war, eröffnete er mir, ich sei nicht seine leibliche Tochter. Ich schwor mir damals: ‹Der fasst mich nie wieder an.›
Mein Stiefvater und mein gesamtes Umfeld gaben mir immer zu verstehen, dass ich nicht viel wert sei. Tochter eines Flittchens, dumm wie Stroh, gerade gut genug für einen Job in der Fabrik. Das schlug sich auf mein Selbstwertgefühl nieder, jahrelang, bis heute. Es grenzt fast schon an ein Wunder, dass ich mich überhaupt an die Pflegerinnenausbildung wagte.
Ich war 19, als ich erstmals meine Pflegeeltern in Luzern wieder besuchte. Sie kochten mein früheres Lieblingsessen: sauren Braten mit Kartoffelstock und Bananencreme. Sie waren es, die mir sagten, meine Mutter habe noch eine andere Tochter, die sie habe weggeben müssen. Jahre später sagte ich meinem Stiefvater: ‹Ich hätte gern von euch erfahren, dass ich noch eine Schwester habe.› Er erwiderte: ‹Deine Mutter und ich fanden, das gehe dich nichts an.› Eine Mauer des Schweigens, erbaut aus Verdrängung, Scham und Schmach. Ich war 39, als ich meine Schwester kennenlernte.»
Wie viele Opfer dieser Behördenpolitik in der Schweiz leben, ist nicht bekannt. Sogar Fachleute wagen nicht, zu schätzen, wie hoch die Zahl der Kinder ist, die gegen den Willen der Mütter zur Adoption freigegeben wurden. «Eine Schätzung ist noch schwieriger als bei den Verdingkindern», sagt Loretta Seglias, Historikerin mit Schwerpunkt fürsorgerische Zwangsmassnahmen.
Bekannt ist, dass in den sechziger Jahren jährlich bis zu 400 Kinder unehelich geboren wurden. Ein Teil der Frauen habe das Kind unter Zwang zur Adoption freigegeben, vermutet Seglias. Dokumentierte Fälle würden darauf hinweisen, dass Frauen zwar die Adoptionserklärung unterschrieben, trotzdem aber oft nicht damit einverstanden waren. Offensichtlich konnten sie nicht anders: «Immer wieder wurden Frauen systematisch dazu gedrängt, ihr Kind wegzugeben. Etwa von Mitarbeitenden des Spitals, vom Vormund oder auf Druck der eigenen Eltern», sagt Seglias.
Wie das konkret ablief, zeigt das Beispiel von Eveline Kuster*. Die heute 60-Jährige, aufgewachsen in einem Waisenhaus und später in einer Erziehungsanstalt, beichtet Mitte August 1970 ihrem Vormund, sie sei schwanger. Am 27. August notiert er nach einem Treffen mit der damals 18-Jährigen, sie wolle das Kind «unbedingt» behalten. Er unterstütze sie und schrieb, er werde einen Platz im örtlichen «Mütterheim» reservieren. Doch wenige Tage später, das belegen die Akten, ist alles anders: Der Vormund wirkt so lange auf die junge Frau ein, bis sie schliesslich «freiwillig» unterzeichnet, ihr Kind nach der Geburt wegzugeben. Später schreibt der Vormund konsequent nur noch von «freiwilliger» Adoption.
«Er hat mir immer und immer wieder gesagt, ich würde mir meine Zukunft verbauen, mein Leben kaputtmachen, falls ich das Kind behalte», sagt sie. «Man hat mir eingeredet, ein Kind sei schlecht für mich.» Möglichkeiten, sich mit jemandem auszutauschen, hat Eveline Kuster während der Schwangerschaft nicht, die Erziehungs-anstalt trennt sie von den übrigen Insassinnen. Im Spital, unmittelbar nach der Geburt, nimmt man ihr das Kind weg. Im Wochenbett liegt die junge Mutter neben Frauen, die ebenfalls geboren haben. Nur: Die anderen haben ihre Kinder bei sich.
Viele Frauen haben ihre Geschichte für sich behalten, teils während Jahrzehnten – aus Scham, ihre Mutterpflichten nicht erfüllt zu haben. Als der Beobachter 2006 die Schicksale der Mütter und ihrer geraubten Kinder publik machte, reagierten auch Politiker betroffen. 69 Parlamentarierinnen und Parlamentarier von links bis rechts forderten vom Bundesrat, das Adoptionsgeheimnis für solche Fälle zu lockern.
Der Bundesrat zeigte sich sogar bereit, «das Anliegen zu prüfen». Geschehen ist nichts. Im Jahr 2009 doppelte die Zürcher SP-Nationalrätin Jacqueline Fehr nach. Und wieder reagierte der Bundesrat verständnisvoll. Auch Nationalrat und Ständerat stellten sich hinter eine Gesetzesänderung – doch passiert ist wieder nichts. Jetzt wird die Änderung beim Justiz- und Polizei-departement weiter auf die lange Bank geschoben: «Es ist nicht absehbar, wann der Bundesrat einen Vorentwurf in die Vernehmlassung schicken wird», sagt Sprecher Folco Galli.
Margrit Schweizer gibt nicht auf. Ihr sehnlichster Wunsch ist, zu erfahren, was aus ihrer Tochter geworden ist. Seit einem Jahr kontaktiert sie Gemeindebehörden, schreibt dem Staatsarchiv. Sucht Akten, Hinweise, die ihr die Begründung liefern können, warum man ihr das Kind weg-genommen hat. Klammert sich an die Hoffnung, ihrer heute 46-jährigen Tochter irgendwann ihre Geschichte erzählen zu können. Vor einigen Wochen dann: Margrit Schweizer fährt auf der Autobahn von Solothurn Richtung Aarau. Da klingelt ihr Handy, die Tochter ist dran. «Das gibts ja nicht», entfährt es ihr. Das Gespräch ist kurz. Zu kurz. Es reicht nicht einmal, um zu erfahren, wo die Tochter lebt und wo sie erreichbar wäre.
Später will sie die Telefonnummer aufschreiben, doch die 67-Jährige hat mit ihrem Handy schon länger technische Probleme. Die Nummer ist weg. Nun hofft sie, dass ihre Tochter wieder anruft.
Das muss die Schweiz endlich tun
2010 titelte der Beobachter: «Wiedergutmachung, aber richtig!» Seither warten Zwangssterilisierte, Verding- und Heimkinder und Opfer von Zwangsadoptionen auf eine offizielle Entschuldigung.
- Es braucht einen runden Tisch. Ein Gremium aus Vertretern von Betroffenen, Bund, Kantonen, Landeskirchen, Sozialinstitutionen sowie der Wissenschaft soll festlegen, wie die diskriminierende Sozialpolitik aufgearbeitet werden kann.
- Der Staat muss sich entschuldigen. Der Bundesrat hat sich bei den administrativ Versorgten entschuldigt, ein Anlass für Verdingkinder ist geplant. Einen offiziellen Akt braucht es auch für Heimkinder, Sterilisierte und Opfer von Kindswegnahmen.
- Es braucht Geld. Aus einem Fonds sollen Härtefälle unterstützt werden. Zudem ist das Geld, das die Eltern der Opfer für die «Erziehungsmassnahmen» entrichten mussten, zurückzuzahlen. Auch Zwangsarbeit soll endlich entschädigt werden.
- Das Adoptionsgeheimnis muss gelockert werden. Frauen, denen als ledige Mütter nach der Geburt die Kinder weggenommen wurden, müssen ihre heute erwachsenen Kinder wiederfinden können.
- Es braucht eine Historikerkommission. Einige Gemeinden, Kantone und Institutionen sind daran, ihre Geschichte aufzuarbeiten. Nun braucht es eine koordinierte Erforschung der Schweizer Sozialpolitik bis in die achtziger Jahre.
Gesetz soll Hindelbank-Frauen rehabilitieren
Es geht ein Ruck durch die Politik: Gegenwärtig befindet sich der Entwurf für ein Bundesgesetz in Vernehmlassung, mit dem die Eidgenossenschaft erstmals anerkennen würde, dass den administrativ Versorgten Unrecht angetan wurde. Er sieht zudem eine historische Aufarbeitung vor – möglicherweise sogar durch eine unabhängige Historikerkommission.
Der Gesetzesentwurf ist ein Meilenstein – auch wenn er sich auf die administrativ Versorgten beschränkt und die Opfer anderer Zwangsmassnahmen ausklammert, darunter etwa Verdingkinder, Zwangssterilisierte oder Mütter, die von den Behörden dazu gezwungen wurden, ihre Kinder zur Adoption freizugeben.
Doch aus Sicht der damals Betroffenen hat das geplante Gesetz einen Pferdefuss – eine finanzielle Entschädigung schliesst es explizit aus. Betroffene reagieren irritiert: «Wir wollen keine Almosen», sagt Ursula Biondi, die 1967 als 17-Jährige in der Strafanstalt Hindelbank landete, obwohl sie nie eine Straftat begangen hatte. «Aber die Kosten für die nie erbrachten Leistungen müssen zurückerstattet werden.» Tatsächlich mussten Eltern damals oft noch dafür bezahlen, dass ihre Kinder zur «Nacherziehung» in Anstalten und Gefängnissen versorgt wurden.
Mit dem Ausschluss finanzieller Ansprüche müsse man leben, sagt der St. Galler SP-Ständerat Paul Rechsteiner, der mit einer parlamentarischen Initiative den Gesetzesentwurf angestossen hat: «Das war eine Bedingung der bürgerlichen Parteien, die ein Rehabilitierungsgesetz sonst nicht unterstützen würden.» Fragt sich, ob das Gesetz den Kantonen und Gemeinden nicht einen willkommenen Vorwand liefert, sich dereinst vor Entschädigungszahlungen zu drücken. Rechsteiner winkt ab. «Das Gesetz sieht zwar keine Zahlungen des Bundes vor, schliesst aber Wiedergutmachungen auf Kantonsebene nicht aus.» In Bern verlangte das Kantonsparlament bereits, der Regierungsrat müsse sich auf schweizerischer Ebene für einen Härtefonds einsetzen. Und die Stadt Zürich ist bereits weiter: In acht Fällen hat sie Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen unterstützt – in Form von materieller Hilfe wie Zahnbehandlungen oder Pflegebetten im Wert von 5000 bis 10'000 Franken.
Aufruf
Wer von den Behörden der Stadt Zürich administrativ versorgt wurde, kann sich weiterhin melden:
Sozialdepartement der Stadt Zürich
Sekretariat Zentrale Verwaltung
Administrative Versorgungen
Werdstrasse 75
Postfach
8036 Zürich
1 Kommentar