Nach 40 noch studieren?
Im fortgeschrittenen Alter alles über den Haufen werfen und ein Studium beginnen? Nur zu! Aber stellen Sie sich vorher ein paar Fragen.
Veröffentlicht am 14. März 2017 - 10:45 Uhr
Ganz vorne im Hörsaal sitzen die Streber, hinten die Gamer. Emil Looser entscheidet sich für die Mitte. Auch deshalb, weil der 43-Jährige zuhinterst nicht mehr alles hört.
Bis vor kurzem war der vierfache Vater Geschäftsführer mehrerer Zürcher Bars und Cafés. Heute studiert er Wirtschaftsingenieurwesen an der Hochschule für Technik in Rapperswil. «Die vielen Nachteinsätze in den Bars waren auf Dauer nicht familienverträglich. Daher wollte ich mich beruflich neu orientieren», sagt er.
Neben dem Nachtleben gibt es noch einen Faktor. Dank seinem Vater sitzt Looser seit einigen Jahren im Verwaltungsrat einer Technologiefirma, spezialisiert auf Mikromechanik und Sensorik für die Automobilindustrie. Allerdings hatte er keine Ahnung von der Materie. «Zuerst habe ich eine Weiterbildung gesucht. Ich habe aber bald gemerkt, dass ich nicht um ein Studium herumkomme, wenn ich mit Konstrukteuren und Entwicklern auf Augenhöhe sprechen möchte.» Also entschloss sich Looser zu drei Jahren Vollzeitstudium.
2016 studierten an Schweizer Hochschulen über 20'000 Leute über 30, die Hälfte davon älter als 35. Warum gibt es so viele ältere Semester?
«Die Sinnfrage ist heute sehr relevant. Die meisten hinterfragen in regelmässigen Abständen sich und ihre Tätigkeit», sagt Stefan Gerig, Leiter Studien- und Laufbahnberatung am Berufsinformationszentrum Oerlikon. Er berät immer wieder Leute über 30, die ein Studium in Erwägung ziehen. Oft beginne der Denkprozess mit Unzufriedenheit im Job, sagt Gerig. «Man will etwas korrigieren und dadurch im Arbeitsleben wieder zufriedener werden.» Und so setzt man sich mit Entwicklungswegen auseinander, die früher eher unüblich waren.
Muss es aber gleich ein Studium sein? Wäre eine Weiterbildung nicht sinnvoller? «Das kommt sehr auf die Ausgangslage und den späteren Berufswunsch an», so Gerig. «Manchmal ist der Wunsch nach Veränderung so gross, dass eine Weiterbildung schlicht nicht in Frage kommt.»
Mit über 40 wieder bei null anzufangen hat weitreichende Folgen. Die grösste Hürde ist meist die Finanzierung. Da gilt es genau zu überprüfen, ob sich die zeitliche und die finanzielle Investition am Ende auszahlen.
Manche Arbeitgeber sehen den ungewöhnlichen Werdegang und ein solches Engagement im fortgeschrittenen Alter vielleicht als Beweis für Elan und Ehrgeiz. Doch je nach Branche ist ein Berufseinstieg nach 35 auch schlicht undenkbar.
«Im Bereich Gesundheit und Soziales hat ein später Absolvent bessere Chancen als in der Bank- und Versicherungsbranche», sagt Berufsberater Gerig. Er rät daher, vor dem Entscheid den Stellenmarkt genau zu studieren, um ein Gefühl dafür zu entwickeln, ob ein 40-jähriger Studienabgänger willkommen ist. Letztlich sei es aber ratsamer, ein gewisses Risiko einzugehen, als todunglücklich an Ort und Stelle zu verharren. «Man ist nie zu alt, um kritisch zu hinterfragen, ob man den richtigen Weg eingeschlagen hat.»
Diese Frage stellte sich auch Francine Buchwalder. Sie begann mit 50 ein Bachelor-Studium in Sozialer Arbeit. Die gelernte Fotografin hatte sich über viele Jahre zur stellvertretenden Betriebsleiterin in einem Zentrum für Therapie und Rehabilitation hochgearbeitet. Beim Lohn stiess sie aber immer an eine Grenze – ihr fehlte ein Hochschulabschluss. Trotz Weiterbildungen blieb ihr Salär schlecht.
«Ich brauchte einen Bachelor, um endlich das Gehalt zu erhalten, das in meiner Position üblich ist.» Fünf Jahre lang hat die heute 56-Jährige sich durchs Studium geboxt, im September konnte sie dann ihr Bachelor-Diplom entgegennehmen.
Das Studium sei weniger schwierig gewesen als befürchtet. «Es gab zwar sehr viel zu lernen. Doch vieles wusste ich schon. Heute kann ich dieses Wissen einfach viel besser einordnen», sagt Buchwalder.
Über die Frage, was für ein Gehalt Stellensuchende aufgrund ihrer Fähigkeiten und Joberfahrungen beim Interview einfordern dürfen, zerbrechen sich die meisten den Kopf. Wie man sich darauf vorbereitet, erfahren Sie als Beobachter-Mitglied in der Checkliste «Regeln für die Lohnverhandlung».
Wirklich schwierig sei aber das Finanzielle gewesen. Neben dem Studium arbeitete Buchwalder weiter an zwei Tagen pro Woche im Therapiezentrum. Zusammen mit ihren Ersparnissen reichte es gerade so zum Leben. Trotzdem sagt sie: «Ich bin überzeugt, dass es die richtige Entscheidung war.»
Finanzielle Sorgen hat der angehende Wirtschaftsingenieur Emil Looser nicht. Doch das Lernen geht nicht mehr ganz so einfach wie mit 20 Jahren. Neben den 30 Stunden Präsenz stehen auch noch rund 15 Stunden Selbststudium an. «Ich muss immer dranbleiben. Dann geht es», sagt Looser. Besonders während der Prüfungen stelle er fest, dass er nicht mehr so schnell sei wie während der Zeit im Gymnasium.
Und auch die Versagensängste sind grösser als früher. «Meine Frau unterstützt mich sehr. Aber ich habe trotzdem ein schlechtes Gewissen, dass ich ihr so viel Arbeit aufbürde. Da will ich meine Sache zumindest gut machen und alle Prüfungen auf Anhieb bestehen.» Bislang hat er das geschafft, denn Looser ist top motiviert. «Ich weiss schliesslich ganz genau, wofür ich das hier mache.»
Studieren, statt auf die Frühpension spähen? Ein Interview mit Neuropsychologe Lutz Jäncke.
Beobachter: Ist unser Gehirn irgendwann zu alt für ein Studium?
Lutz Jäncke: Das Gehirn ist ein formbares Organ, das sich noch bis zu den letzten Atemzügen durch Erfahrungen und Gelerntes verändern kann. Es gibt zwar altersbedingte Veränderungen des Gehirns. Sie hängen stark vom Gebrauch oder Nichtgebrauch der neuronalen Netzwerke ab. Teilweise finden sich gerade bei den Älteren erhebliche Leistungsunterschiede. Manch einer erbringt noch hervorragende Leistungen. Das Prinzip lautet «Use it or lose it» – «Nutz es oder verlier es».
Beobachter: Es gibt also keine grundsätzlichen Unterschiede zwischen einer 20- und einer 50-jährigen Studentin?
Jäncke: Die gibt es natürlich schon. Schnelles, analytisches Denken fällt Jüngeren vergleichsweise leichter als Älteren. Auch die Gedächtnisfähigkeit ist in jungen Jahren im Schnitt höher, man kann sich einfacher Dinge merken.
Beobachter: Welche Vorteile hat ein 50-jähriger Student?
Jäncke: Viele Ältere haben durch entsprechende Bildung ein umfangreicheres Wissensnetzwerk. Neues Wissen kann so einfacher in ein bestehendes Netzwerk eingebunden und abgerufen werden.
Beobachter: Spielt es eine Rolle, ob jemand schon einmal studiert hat oder nicht?
Jäncke: Jede Lernerfahrung bringt Vorteile für neue Lernerfahrungen, ein früheres Studium kann also begünstigend wirken. Aber es ist keine zwingende Voraussetzung. Andere Erfahrungen, zum Beispiel aus dem Berufsleben, können für den Studienerfolg auch hilfreich sein.
Beobachter: Was braucht es sonst noch für den Studienerfolg im Alter?
Jäncke: Extrem wichtig sind Selbstdisziplin, Fokussierfähigkeit und eine hohe Motivation. Wer das hat, kann mit 50 ein ebenso guter Student sein wie mit 20. Vielleicht sogar ein besserer.
Beobachter: Warum besser?
Jäncke: In diesem Alter entscheidet man sich in der Regel sehr viel bewusster zu diesem Schritt. Man weiss, warum man es macht, und ist deshalb motivierter. Das wiederum hat einen positiven Einfluss auf die Selbstdisziplin.
Beobachter: Es gibt also keinen Grund, mit 40 nicht nochmals zur Schule zu gehen?
Jäncke: Im Gegenteil. Ich würde sogar dafür plädieren, dass viel mehr Leute im Alter von 40 oder 50 studieren sollten. Schliesslich werden wir immer älter. Doch das biologische Alter entspricht heute nicht mehr zwangsläufig dem kognitiven. Das hat mit dem Lebensstil, der medizinischen Versorgung und der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung zu tun. Heutzutage kann ein 50-Jähriger viel mehr leisten als ein 50-Jähriger vor 40 Jahren.
Beobachter: Warum also nicht länger das Leben geniessen, statt wieder auf Feld eins zurückzugehen?
Jäncke: Kann es nicht auch genussvoll sein, endlich Shakespeares Dramen zu verstehen oder Differenzialgleichungen anwenden zu können? Ganz generell sollte man in Zukunft seine Einstellung zur Rente überdenken. Warum sollen wir alle recht früh in Rente gehen? Menschen benötigen Aufgaben und Ziele, um ihre angeborene Neugierde zu befriedigen. Wenn sie keine Ziele mehr verfolgen, wird das Gehirn nicht mehr ausreichend «beschäftigt», es wird gewissermassen träge. Mit zunehmender Trägheit baut das Gehirn ab. Wenn man auf diese Weise altert, bewegt man sich zwangsläufig in eine Abwärtsspirale.
Beobachter: Inwiefern?
Jäncke: Betrachten wir doch einmal den typischen Lebensweg eines Mitteleuropäers. Man geht zur Schule, bewältigt Ausbildungen, gründet eine Familie, baut ein Haus und geht zahlreiche Verpflichtungen ein. Nachdem man diese Anfangshürden überwunden hat, späht man mit 45 allmählich aufs Rentenalter. Als Folge davon verharrt man die nächsten 20 Jahre weitgehend in der gleichen Position, beschäftigt sich nur noch mit dem, was man schon immer getan hat, und widmet sich dem, was man ohnehin bereits beherrscht. Durch dieses Verhalten leiten wir so etwas wie eine selbstverantwortete Degeneration des Gehirns ein. Viel schlauer wäre es, mit 50 nochmals fünf Jahre in eine spannende Ausbildung zu investieren und danach weitere 20 Jahre motiviert einen neuen, spannenden Beruf auszuüben.
Beobachter: Mit diesem Vorschlag machen Sie sich wohl nicht nur Freunde.
Jäncke: Kann sein. Doch die beste Anti-Aging-Pille ist nun mal, lange sozial, kognitiv und körperlich aktiv zu bleiben. Alles andere kann man mehr oder weniger vergessen. Dafür spricht im Übrigen sogar die Sterberate: Sie steigt in den ersten drei bis vier Jahren nach der Pensionierung massiv an.
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