Schneeschaufeln kratzen über den gefrorenen Silsersee, eine Motorsäge knattert. Einer schneidet, angeleint wie ein Hündchen, ein dreieckiges Loch ins Eis. Leute in Thermokleidung steigen mit leeren Händen die Treppe zum Parkplatz hoch und kommen mit vollen Kisten zurück. Einmal, zweimal, dreimal, viermal. Bis sich neben dem Eisloch kleine Berge erheben: Westen, Masken, Hauben, Taucherflaschen.

«Verdammt, wo hast du die Flossen jetzt wieder hingelegt?» – «Mach doch die Augen auf!» Einer steckt sich eine Zigarette zwischen die schiefen Zähne. Und dann noch eine. Und noch eine. Eine Frau tigert von Kiste zu Kiste, sucht dort ein Seil und da einen Haken, zerrt am Trockentauchanzug herum. «Beim Kurs fürs Trockenanzugbrevet habe ich darin Platzangst bekommen», sagt sie, die Augen aufgerissen.

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Das Thermometer zeigt minus zehn Grad. Ein steifer Wind weht über den See. Vier Gruppen von Taucherinnen und Tauchern haben sich für dieses Wochenende angekündigt, und der Eislochmeister der Gemeinde hat am Vortag vier Löcher gesägt. Über Nacht sind sie wieder zugefroren.

Warnungen à discrétion

Es gibt zwei Arten von Tauchenden: die Ferientaucher und die richtigen. Die einen erzählen von bunten Fischli und Korallen. Die anderen kriegen glänzende Augen, wenn sie von Schnecken im Bodensee berichten oder vom grossen Wels, den sie bei jedem Tauchgang besuchen wie einen alten Freund. Eistauchen ist nichts für Ferientaucher.

«Manche haben beim ersten Mal das Gefühl, die Eisdecke drücke auf sie herunter. Auch ich hatte Mühe damit», sagt Erwin Rudolf. Ihm gehört die Tauchschule Tiefenstein, die heute hier einen Einsteigerkurs durchführt. Wer mitmacht, darf sich danach «Ice Diver» nennen.

Eistaucher machen sich auf das Untertauchen in den vereisten und kalten See bereit. Ein Sprung unters Eis löst bei vielen Panik aus. Doch wer die Angst besiegt, wird mit einem überirdischen Erlebnis belohnt.

Wer den Sprung unters Eis wagt, darf sich danach «Ice Diver» nennen.

Quelle: Robert Hansen

Die Theorie gabs am Vorabend: Was tun, wenn der Atemregler vereist? Wie am Seil tauchen, ohne sich zu verheddern? Woran sich orientieren, wenn man nicht bis auf den Grund sieht? Viele Warnungen.

Die 15 Teilnehmenden gaben sich entspannt. Angst? Nein, man ist ja gesichert. Aufregung? Ach was, Vorfreude! Gegen die Kälte sei man gewappnet: Heizweste, Heizhandschuhe, Heizsocken, alles dabei, alles akkubetrieben. Ein Handy wird herumgereicht, darauf Bilder von beeindruckenden Ladestationen. «Das darfst du hier im Hotel aber nicht einstecken, sonst wird es dunkel.» Gelächter.

Beim Abendessen erzählte man sich Geschichten vom Flusstauchen in der Maggia und von einem Kormoran, der auf dem See aus heiterem Himmel angriff. Vielleicht wars auch ein Haubentaucher. Oder eine Ente. Eistauchen, ja, das wollte man halt einfach auch mal ausprobieren.

Sechs Personen braucht es pro Tauchgang mindestens. Alle haben eine Aufgabe. Jede und jeder soll jede Aufgabe einmal übernehmen.

Über Nacht ist es der einen oder dem anderen wohl doch mulmig geworden. Jetzt stehen alle ums Eisloch und hängen an den Lippen des Instruktors. Er erklärt nochmals die Handhabung des Seils, der Lebensversicherung der Eistaucher. Einmal kräftig ziehen heisst «mehr Leine, bitte», zweimal heisst «okay» und dreimal heisst «zieh uns sofort raus!».

Sechs Personen braucht es pro Tauchgang mindestens. Alle haben eine Aufgabe: Ein Taucherpaar ist im Wasser, ein zweites sitzt in Vollmontur neben dem Loch, bereit für einen Rettungssprung bei Problemen. Einer führt das Seil und achtet darauf, dass es nicht durchhängt, aber auch nicht zu straff ist. Ein Zweiter steht dahinter. Im Notfall müssen sie beide das Seil packen und die beiden Taucher sofort aus dem Wasser ziehen. Getaucht wird im Turnus. Jede und jeder soll jede Aufgabe einmal übernehmen.

Die Ersten zwängen sich in die Tauchanzüge, buckeln die Flaschen, testen den Atemregler. Dann passiert es: Ein lauter Knall, ein Ventil ist defekt. Beim anderen sind die Handschuhe undicht. Ein Dritter ist schon im Wasser, hat aber zu viel Auftrieb. «Ich komme nicht runter, hat jemand noch Blei?»

Den Frieden finden

Die, die am Vorabend die wildesten Geschichten erzählten, sitzen nun schmallippig auf einer Holzpalette neben dem Loch. «Ich bin nicht mehr sicher, ob das eine gute Idee war», raunt der eine dem anderen zu. «Morgen gehen wir wandern», sagt der andere nur halb im Scherz.

Eistaucher macht sich auf den Sprung in den vereisten See bereit. «Ich bin nicht mehr sicher, ob das eine gute Idee war»: Der Moment, in dem man sich fallen lassen muss. Ein Sprung unters Eis löst bei vielen Panik aus. Doch wer die Angst besiegt, wird mit einem überirdischen Erlebnis belohnt.

«Ich bin nicht mehr sicher, ob das eine gute Idee war»: Der Moment, in dem man sich fallen lassen muss.

Quelle: Robert Hansen

Dann lässt er sich fallen. Und erlebt diesen einen Moment, für den sich diese Strapazen lohnen.

Plötzlich ist da nur noch Frieden. Oben sprudelt es leise aus dem schwarzen Loch. Unten ist es, als wäre man durch einen Vorhang in eine andere Welt entschwebt. Kein Geräusch ist da mehr, kein Gewusel, nur diese absolute Stille.

Sonnenlicht scheint durch ein Loch in der Eisdecke in den kalten See.  Diesem Lichtstrahl kann sich niemand entziehen: Eisdecke des Silsersees von unten, 2022. Ein Sprung unters Eis löst bei vielen Panik aus. Doch wer die Angst besiegt, wird mit einem überirdischen Erlebnis belohnt.

Diesem Lichtstrahl kann sich niemand entziehen: Eisdecke des Silsersees von unten, 2022. 

Quelle: Robert Hansen

Luftblasen steigen hoch, wabern unter der Eisdecke Richtung Loch. Das Sonnenlicht spiegelt sich darin, zaubert glitzernde Kugeln ins Blau. Der Schnee auf der Eisdecke bildet ein Muster dunkler und heller Flecken. Durch das Loch scheint ein einziger starker Lichtstrahl. Seiner Kraft kann sich niemand entziehen.

So muss sich Sterben anfühlen – wenn man keine Angst mehr hat.

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