Die Coolen und die anderen
Für die einen Kinder ist die Schule das Paradies, für andere die Hölle. Entscheidend ist oft die Stimmung in der Klasse – und die Lehrperson.
Veröffentlicht am 21. August 2023 - 06:00 Uhr
Wenn André Becchio vor einer Schulklasse steht und Zettelchen verteilt, ist schon vieles schiefgelaufen. Er ist dann, wie er sagt, «in Mordor», J. R. R. Tolkiens Reich des Dunklen, und nicht wie gewohnt «im Auenland». Dort, im zürcherischen Zumikon, ist Becchio Schulsozialarbeiter.
Zugleich macht er als Trainer für die Fachstelle für Selbstbehauptung «Respect!» auch Interventionen an anderen Schulen. Dann, wenn dort die Dinge aus dem Ruder gelaufen sind.Doch was heisst «aus dem Ruder gelaufen»? Und was hat es mit den Zettelchen auf sich?
André Becchio macht ein Beispiel. In einer Schulklasse haben sich zwei Gruppen herausgebildet: hier die Coolen, da die Übrigen. Die einen bestimmen, wer dazugehört, stiften andere an, gegen Regeln zu verstossen, um auch cool zu sein. Die Angepassten gehen unter.
Wenn sie sich im Unterricht melden, wird gekichert, in der Badigarderobe verschwinden ihre Unterhosen, auf dem Pausenplatz stellt man ihnen ein Bein. Irgendwann fliegen vielleicht sogar Fäuste.
«Sie erfahren, wie die anderen sie wahrnehmen, und merken vielleicht, dass sie sich selber ganz anders sehen.»
André Becchio, Schulsozialarbeiter in Zumikon
Anfänglich harmlos wirkende Neckereien entwickeln eine Dynamik, die irgendwann nicht mehr zu stoppen ist. Eine Klasse als «Wir» existiert nicht mehr.
Die Zettel sind eine von vielen Methoden, die Becchio anwendet, um den Kindern vor Augen zu führen, was gerade passiert. Sie sollen notieren, wie sie die anderen sehen: Wer ist der Chef? Wer der Clown, die Aussenseiterin, der Mitläufer, die Vermittlerin? Die Zettel werden an der Wandtafel befestigt, und schnell ist klar, wer welche Rolle einnimmt. Häufig bringe diese Übung die Kinder zum Staunen, sagt Becchio: «Sie erfahren, wie die anderen sie wahrnehmen, und merken vielleicht, dass sie sich selber ganz anders sehen.»
Auf jeden Fall sei dann eine Grundlage geschaffen, um ins Gespräch zu kommen und die Klasse bestenfalls wieder zu einer Einheit zu kitten. «Eigentlich wollen ja alle dasselbe: sich wohlfühlen in der Schule und eine gute Zeit haben. Darauf kann man aufbauen.»
Konflikte nicht verharmlosen
Die Alphatierchen, die gern den Ton angeben und Rollen verteilen, seien in einer neuen Klasse in der Regel schon nach wenigen Wochen erkennbar, sagt Becchio. «In der Primarschule sind es oft Jungs, die besonders sportlich sind und ein wenig frech. Die anderen bewundern sie und hören auf sie.» Das müsse nicht unbedingt negativ sein. «Es gibt auch gute solche ‹Chefs›, die für eine positive Stimmung sorgen.»
Wichtig sei, unfaires Verhalten sofort anzusprechen und von Anfang an einen Riegel zu schieben. «Ich erlebe manchmal Lehrpersonen, die Vorfälle verharmlosen, zu lange wegschauen oder denken, das Problem erledige sich über die Ferien von allein.»
Häufig sei es aber auch gar nicht offensichtlich, dass etwas in die falsche Richtung laufe. «Es kann sein, dass Gruppenkonflikte im Unterricht nicht spürbar sind», sagt Becchio. Die Neckereien und Machtspiele fänden nicht im Klassenzimmer statt, sondern auf dem Schulweg, in der Garderobe, auf dem Fussballplatz. «Ich habe schon erlebt, dass eine Lehrerin völlig vor den Kopf gestossen war, als sich Eltern beschwerten, ihre Kinder würden ausgegrenzt. Sie war der Meinung, es herrsche ein super Klassengeist.»
«Die Kinder testen die Lehrperson ab dem ersten Tag, da braucht es eine klare Linie»
André Becchio
Ein Patentrezept gegen eine negative Gruppendynamik gibt es nicht. «Was hilft, hängt von der Situation ab, von den Kindern und auch von den Eltern», sagt Becchio. Letztere müsse man auch ins Boot holen, ihnen kleine Aufgaben geben: mehr gemeinsame Familienzeit verbringen, den Medienkonsum einschränken. Das A und O sei eine gute Beziehung der Lehrperson zu jedem Schüler und jeder Schülerin. «Man sollte Kinder gernhaben, ihnen zuhören, auf ihre Anliegen eingehen.»
Zugleich müsse man manchmal auch Spielverderber sein und Grenzen setzen. «Die Kinder testen die Lehrperson ab dem ersten Tag, da braucht es eine klare Linie», sagt Becchio.
Wie Gruppen sich bilden und festigen, ist erforscht. Der amerikanische Psychologe Bruce Tuckman hat 1965 ein Modell entwickelt, das oft für Teambildungsprozesse herangezogen wird. Es unterscheidet vier Phasen: Findungsphase, Streitphase, Regelungsphase und Leistungsphase. Am Anfang sind alle damit beschäftigt, herauszufinden, wer die anderen sind und wie sie in die Gruppe passen. In der Streitphase werden die Rollen verteilt und anschliessend Regeln festgelegt. Die Übergänge sind fliessend.
Gemeinsame Erlebnisse planen
Mit diesem Wissen im Hinterkopf lasse sich der Prozess mitgestalten, sagt André Becchio. Lehrpersonen sollten insbesondere in der Streitphase präsent sein und die Regeln bestimmen. «Wenn die Rollen erst mal verteilt sind, bleiben sie häufig an den Kindern kleben.» Ziel müsse sein, dass die Klasse eine Gemeinschaft bilde, jedes Kind seine Rolle finde und sich darin wohlfühle. «Es kann auch sein, dass ein Einzelgänger dabei ist. Doch das ist nicht per se ein Problem. Ein Einzelgänger ist kein Aussenseiter, sondern ein Kind, das sich selbst genügt.»
Das beste Mittel gegen schlechte Stimmung und mangelnden Zusammenhalt seien gemeinsame Erlebnisse ausserhalb des Schulzimmers: «Wenn Sie sich an Ihre Schulzeit erinnern: Was kommt Ihnen da in den Sinn? Eine gelungene Mathematikstunde oder das Klassenlager im Berner Oberland?» Schon Ausflüge in den Wald könnten positiv wirken. Ein Störenfried entpuppt sich dort vielleicht als Holzschnitzkünstler – plötzlich kann er brillieren, statt zu nerven.
Häufig wendet Becchio auch gruppendynamische Spiele und Kooperationsübungen an. Dabei geht es stets ums Gleiche: Sie machen nur Spass, wenn alle am gleichen Strang ziehen. «All das ist keine Garantie für ein gutes Klassenklima», sagt Becchio. «Aber es steigert die Chance.»