Das eigene Fleisch und Blut
In der Schweiz ist eine stille Revolution im Gang: Den Familienbetrieben geht der Nachwuchs aus. Wo Betroffene und Experten die Gründe dafür sehen.
Walter Reif, 76, Metzgermeister
Eines Morgens betrat eine hübsche junge Frau vom Zürichberg unsere Metzgerei – eine Schulter aufreizend entblösst. Ich stand hinter der Theke und fragte, was sie wünsche. «Danke», antwortete sie, «aber ich kann warten, bis der Herr Reif frei ist.» Ich stutzte. Am nächsten Tag war diese Geschichte die Lachnummer an unserem Familientisch. «Endlich», jubelte mein Sohn, «jetzt ist der Generationswechsel vollzogen.»
Er hatte nicht Unrecht; wenn bis zu jenem Tag jemand in der Metzgerei verlangt wurde, dann ich, der Senior. Dabei hatte ich den Betrieb schon vor Jahren meinem ältesten Sohn übergeben. Ich helfe seither nur noch samstags aus und bin wochentags bestenfalls der Chef des «Gang-go-Clubs». Ich hab kein Problem damit. Das Traurigste ist doch, seine Nachfolger nicht machen zu lassen, sie immer nur als Kinder zu behandeln.
Ich habe meinem Walti wohl von Anfang an freie Hand gelassen. Ich habe ihn auch nicht gedrängt, in meine Fussstapfen zu treten. Ich habe ihm stattdessen geraten, Rechtsanwalt zu werden – bei seinem Mundwerk! «Walti», sagte ich, «das Geld lässt sich anderswo leichter verdienen.» Er ist trotzdem Metzger geworden, und der Jüngste auch.
Heute führen sie den Betrieb zusammen. Tja, und nicht nur meine beiden Söhne sind Metzger geworden, beide Töchter haben auch noch je einen Metzger geheiratet. Mich rührt das, weil es zeigt, dass ich und meine Frau kein abschreckendes Beispiel waren. Aber ich hätte auch damit leben können, wenn es anders herausgekommen wäre. Dann hätte ich den Betrieb eben verkauft oder einem tüchtigen Mitarbeiter übergeben. Das Erfolgsgeheimnis jedes Familienbetriebs ist ohnehin nicht der Chef, sondern die Frau dahinter.
Walti Reif, 46, Metzgermeister
Die Metzgerei war nie einfach das Geschäft meiner Eltern, es war immer unser Geschäft. Schon als Kind habe ich mitgeholfen und Spiessli gemacht. Nicht weil ich musste, sondern weil ich wollte. Der Betrieb war wie eine Grossfamilie. Das hat mir gefallen. Mein Vater hat mich nie zum Metzgerberuf gedrängt. Im Gegenteil. Später spürte ich jedoch schon einen gewissen Druck.
Nach der Lehre ging ich auf Reisen, bekam aber bald einen Brief vom Vater. Er meinte, ich möge doch nach Hause kommen, alleine kämen er und Mutter nicht mehr «zgang». Ich war 23. Zurückzukehren hat mich extrem «angegurkt». Als ich ankam, machte ich klar: Nach einem halben Jahr bin ich wieder weg. Sechs Monate später flog ich nach Australien. Nicht weil ich das unbedingt wollte. Ich ging, weil ich wusste, dass ich sonst nie mehr loskommen würde. Als ich heimkehrte, ging das «Gstürm» wieder los. Letztlich willigte ich ein und übernahm mit 27 Jahren die Metzgerei, allerdings zu meinen Bedingungen. Ich wollte das gesamte Aktienkapital, keine 50/50-Lösung mit meinem Bruder. Ich wollte einfach klare Verhältnisse. Mein Bruder hat das zum Glück verstanden.
Die erste Zeit nach der Übernahme war nicht einfach. Ich war jung und plötzlich der Chef von Leuten, die viel mehr Erfahrung hatten als ich. Und ich war ein Dickkopf; lieber lief ich mal gegen die Wand, als meinen Vater um Rat zu bitten. Aber ich hab das gebraucht, genauso wie die unfreiwillige Auszeit meines Vaters.
Wir waren uns eines Morgens in die Haare geraten. Er sagte: «Wenn es dir nicht passt, ziehe ich die ‹Schoss› ab und gehe nach Hause.» Ja, meinte ich, vermutlich wäre das das Beste. Er ging und tat ein Dreivierteljahr keinen Fuss mehr in «seine» Metzgerei. Aber ich habe das Band in dieser Zeit nie zerschnitten, ging regelmässig bei meinen Eltern essen. Irgendwann tauchte er wie zufällig wieder auf, und schon bald wars so, als wäre nie etwas vorgefallen. Wir haben nie darüber geredet, aber seither ist es tipptopp zwischen uns. Vielleicht hat es das einfach gebraucht, damit er sieht, dass ich es auch alleine kann.
Heute sind meine Eltern beide Mitte 70, aber stehen noch immer regelmässig hinter der Theke. So alt werden wie sie, im Wissen, dass man nicht muss, aber darf, wenn man will – das möchte ich auch mal erleben. Dafür lohnt es sich, in einem Familienbetrieb zu «chrampfen». Wie es nach uns weitergeht? Keine Ahnung. Ich und meine Frau sind kinderlos. Ein Sohn meines Bruders steht als Metzgerlehrling und potentieller Nachfolger jedoch bereits in den Startlöchern. Aber wir werden se-hen. Ich nehms, wies kommt. Nur keinen Zwang.
Tierarzt war Walti Reifs Traumberuf, Metzger ist er geworden. Oder besser: «Fleischverarbeiter», wie er sagt. Tiere metzgen kann er nämlich nicht – «dafür wäre ich zu sensibel». Einen schöneren Job könnte er sich heute gleichwohl nicht vorstellen. In dritter Generation führt Reif den gleichnamigen Betrieb am Fuss des Zürichbergs. 1991 hat er die Firma von seinem Vater übernommen, drei Jahre später ausgebaut und den Umsatz seither fast vervierfacht. Mittlerweile ist der 46-Jährige Patron über 27 Mitarbeiter, darunter auch sein sechs Jahre jüngerer Bruder. «Auch wenn ich alleiniger Inhaber bin, ist mein Bruder gleichberechtigter Partner», betont er.
Walter Reif senior, 76, ist zusammen mit seiner Frau noch heute regelmässig hinter der Verkaufstheke anzutreffen. Er ist stolz auf seine Söhne. «Es ist ein Wunder, wie sie das Ganze gemeinsam meistern.» Die Quartierbewohner honorieren es auf ihre Art; bis zu 1000 Kunden betreten die Metzgerei täglich, einige haben das Fleisch schon zu Grossvaters Zeiten bei den Reifs gekauft.
Es sind Betriebe wie diese, welche die Schweizer Wirtschaft in Gang halten. Laut einer Studie der Uni St. Gallen im Auftrag der CS sind 88 Prozent aller hier ansässigen Firmen Familienunternehmen, die meisten von ihnen KMU. Sie stemmen geschätzte 60 Prozent des Bruttoinlandprodukts, knapp 65 Prozent aller Angestellten arbeiten in einem Familienbetrieb. Kurz: Die Grossen machen die Schlagzeilen, die Kleinen halten die Maschine am Laufen.
Ins Stocken gerät sie nicht selten dann, wenn im Familienbetrieb ein Generationswechsel ansteht. 15 bis 20 Prozent aller Firmenkonkurse und -liquidationen gehen letztlich auf ungelöste Fragen rund um die Nachfolgeregelung zurück. «Die Zeit des Wechsels ist eine der kritischsten Phasen im Lebenszyklus eines Unternehmens», weiss der Ökonom Frank Halter, der am Institut für Klein- und Mittelunternehmen der Uni St. Gallen eine Doktorarbeit zum Thema geschrieben hat. Hellhörig macht, dass in den nächsten fünf Jahren ein Viertel aller KMU vor dem Generationswechsel steht. Fast jeder dritte Arbeitnehmer ist betroffen, es geht um fast eine Million Arbeitsplätze.
Acht von sechzehn Kollegen, die mit Walter Reif seinerzeit die Meisterprüfung ablegten, arbeiteten später wie er im elterlichen Betrieb. «Die Hälfte davon hat heute kein eigenes Geschäft mehr», sagt er. Tatsächlich bleiben Familienbetriebe immer seltener in Familienhand. Die CS-Studie spricht von einer «stillen Revolution», die im Gang sei. Bei einer repräsentativen Befragung gaben letztes Jahr nur 40 Prozent der Unternehmer an, dass sie die Firma innerhalb der Familie weitergeben wollen. Vier Jahre zuvor waren es noch 60 Prozent gewesen. Heute strebt die Hälfte aller Unternehmer eine familienfremde Lösung an.
Unternehmen in der Schweiz, in Prozent sowie nach Grösse der Firma
Urs Schwald, 66, ehemaliger Inhaber Schwald Fenster AG
Mein Weg war von Anfang an vorgespurt. Obwohl ich lieber Tierarzt geworden wäre, begann ich nach der Schule eine kaufmännische Lehre. Freiwillig zwar, aber mit ein wenig Bedauern. Als ich zusammen mit meinem Bruder den Betrieb übernahm, war ich erst 21, er 29. Unser Vater war völlig unerwartet gestorben; wir wurden ins kalte Wasser geworfen. Vielleicht ist diese Erfahrung auch ein Grund, weshalb ich mir schon früh Gedanken machte über meine eigene Nachfolge.
Bei meinen Kindern zeigte sich bald, dass die Interessen in eine andere Richtung gingen. Ich erinnere mich, dass Marcel und Evelyne am Sonntag immer ein Theaterstück für uns inszenierten. Natürlich hätte ich mir gewünscht, einer der beiden würde meine Nachfolge antreten. Aber man kann die Entwicklung seiner Kinder nicht erzwingen. Die Firma war nie gross Thema am Familientisch, über die Nachfolge haben wir nie gesprochen. Mir war klar, dass ich eine andere Lösung finden musste. Ich habe die Firma an zwei langjährige Mitarbeiter verkauft und glaube, damit sind alle glücklich.
Marcel Schwald, 33, selbständiger Theaterschaffender
Die Firma war in meiner Kindheit sehr präsent. Ich war oft im Betrieb und habe dort an der Schreibmaschine meines Vaters Sekretär gespielt, manchmal zusammen mit meiner Schwester auch bei einfachen Arbeiten geholfen. Im Grunde wusste ich aber immer, dass ich beruflich etwas anderes machen wollte. Im Kindergarten haben wir einmal das Stück «Die sieben Raben» gespielt. Mir hat es so gut gefallen, in eine andere Rolle zu schlüpfen, von da an wollte ich nur noch «theäterlen».
Ich war mir aber sehr lange nicht sicher, welche Erwartungen die Familie an mich stellt und wie autonom ich wirklich über meine Zukunft entscheiden kann. Ich trug das sehr lange mit mir herum. Ich spürte keinen Druck, doch die Hoffnung und den Wunsch. Obwohl ich eigentlich wusste, dass ich die Firma nicht übernehmen wollte, habe ich meinen Vater und den Chef einer Zürcher Fensterbaufirma je eine Woche lang zur Arbeit begleitet, um Einblick zu erhalten. Ich erinnere mich aber nur noch an den Opernbesuch in Zürich.
Erst nach Abschluss der Matura war klar, dass ich den Betrieb nicht übernehmen würde. Eines Tages fragte ich meine Eltern einfach. Ich bin dankbar, dass sie mich meinen Weg gehen liessen.
Dies nicht unbedingt, weil sie es sich so wünschen. Oft lassen die Umstände nichts anderes zu. «Man soll den Bock nicht zum Gärtner machen», sagt der frühere Patron der Basler Fensterbaufirma Schwald AG, Urs Schwald, treffend. Er meint es nicht böse, im Gegenteil: «Meine Kinder sollten das machen können, wofür ihr Herz schlägt. Vielleicht auch, weil ich es selber nicht konnte.» So wurde aus der Tochter eine ausgebildete Sängerin und aus dem Sohn ein Regisseur und Performancekünstler.
Geschmerzt habe es schon ein wenig, dass er seine Firma nicht vererben konnte, gesteht der 66-Jährige beim Gespräch am Firmensitz, wo er bis heute regelmässig ein und aus geht. Schwald steckt noch immer voller Unternehmergeist. Und er ist zu sehr Geschäftsmann, als dass er seine Firma in Hände legen würde, die nicht danach greifen wollen. Aus betriebswirtschaftlicher Sicht kann es sinnvoller sein, einen externen Nachfolger zu suchen oder die Firma gar zu verkaufen, sagt Experte Frank Halter.
Doch auch Veränderungen auf gesellschaftlicher Ebene erleichtern heute manch einem Patron den Entscheid, den Familienbetrieb zu verkaufen. «Früher gab es gar keinen Markt hierfür», sagt Franziska Müller Tiberini, die selber einen Familienbetrieb führte und seit über zehn Jahren als Coach für Familienunternehmen arbeitet. Ausserdem war es damals verpönt, den eigenen Betrieb ausserhalb der Familie zu verkaufen. «Wer das tat, galt als Verlierer», so Frank Halter. Das habe sich geändert. «In meinem Umfeld wunderte sich keiner, dass ich die Firma nicht übernahm», bestätigt Urs Schwalds Sohn, Marcel Schwald.
Nicht selten erschweren auch psychologische Faktoren eine Übernahme durch Familienangehörige. Die Gefahr steigt, dass sich die Beteiligten in die Haare geraten, sei es, weil der Nachwuchs alles ganz anders anpackt, sei es, weil der Alte sich nicht lösen kann. Vor allem kann beiden aber der Rollenwechsel zu schaffen machen: «Der Patron, bei dem alle Fäden zusammenliefen, wird plötzlich zum Berater degradiert. Der Sohn oder die Tochter dagegen wird im Betrieb zum Leader, der den Vater überragt», erklärt Halter. Ladina Schmidt, Psychologin und Expertin in Arbeits- und Organisationspsychologie, spricht von einer «Doppelbindungssituation»: «Unterwerfen sich die Nachfolger, bleiben sie auch vor Angestellten auf ewig der Sohn oder die Tochter. Entwickeln sie die starke Unternehmerpersönlichkeit, die sich ihr Vater insgeheim wohl wünscht, sind Konflikte gegenüber dem scheidenden Patron programmiert.»
Dass der Generationswechsel gleichwohl gelingen kann, beweist das Beispiel der Familie Reif. «Man darf einfach nicht aufs Maul sitzen, wenn einen etwas stört», sagt Walti Reif. Ein simples, aber vielversprechendes Rezept.
Kleinere und mittlere Familienunternehmen (bis 250 Mitarbeiter) in der Schweiz und ihre bevorzugte Nachfolge, in Prozent (Mehrfachnennungen möglich)
Buchtipp
Franziska Müller Tiberini: «Erben in Familienunternehmen»; 2008, 176 Seiten, CHF 39.80