Servieren bis zum Umfallen
Ein Kellner klappt zusammen und landet in einer psychiatrischen Klinik. Seine Arbeitsrapporte zeigen: Er war bis zu 17 Tage am Stück im Einsatz.
Veröffentlicht am 11. Mai 2015 - 09:34 Uhr
Der Hauptbahnhof Zürich ist eine gigantische Verpflegungsmaschinerie: Gegen 50 Restaurants, Cafés und Take-aways gibt es hier. Gut zwei Dutzend davon betreibt die Zürcher Candrian Catering AG – vom Imbissstand über das Restaurant Au Premier bis zu den Filialen von Nordsee und Burger King. Ein gutes Geschäft bei den bis zu 400'000 Leuten, die den Bahnhof täglich frequentieren.
Ein gutes Geschäft, aber auch viel Arbeit. Etwa für Milenko Ivanovic. Er ist ab 2010 Kellner im Candrian-Restaurant Atrio in der historischen Bahnhofshalle – ein erfahrener Serviceangestellter, der seit 1988 in Schweizer Restaurants arbeitet. Doch der Job im «Atrio» ist zu viel. Anfang 2014 bricht Ivanovic zusammen. Der 51-Jährige ist seither krankgeschrieben. Nach Monaten in einer psychiatrischen Klinik ist er bis heute auf Medikamente angewiesen. Candrian Catering hat ihm vor einem Jahr gekündigt. Ivanovic sagt: «Die Arbeitsbelastung war so gross, dass die freien Tage nicht mehr ausgereicht haben, um mich auszuruhen.»
Tatsächlich leistet der gebürtige Montenegriner ein imposantes Pensum, das zeigen seine Arbeitsrapporte. Etwa im Frühling 2011: elf Tage am Stück, dann – nach einem einzigen freien Tag – 17 Tage ohne Unterbruch. Nach zwei Wochen Ferien gehts weiter im selben Takt: zwölf Tage arbeiten, einen Tag frei, elf Tage arbeiten. Ein Muster, das sich ständig wiederholt. Regelmässig überschreitet Ivanovics Arbeitsplan die gesetzlich erlaubte Höchstarbeitszeit von 50 Stunden pro Woche.
Seine Gesundheit macht das nicht ewig mit. Nach einiger Zeit kämpft er mit Schlafproblemen, liegt nächtelang wach. Anfang 2012 kommt es erstmals zu einer Krisenintervention durch einen Psychiater. Doch so richtig fängt sich der Kellner nicht mehr, zumal er auch weiterhin bis zu 13 Tage am Stück arbeitet. Gesetzlich erlaubt sind maximal sechs Arbeitstage pro Woche.
«Ich wollte meinen Job behalten, also habe ich nie protestiert.»
Milenko Ivanovic
Umstritten ist, wie es zu diesen langen Arbeitseinsätzen kommt. Gemäss Tina Candrian, Sprecherin des Unternehmens ihrer Familie, hat Ivanovic sie selber beantragt: «Er wollte längere Zeit am Stück bei seiner Familie in Montenegro verbringen, bat darum um lange, zusammenhängende Einsätze. Sein Vorgesetzter ist ihm da entgegengekommen.» Ivanovic widerspricht: Der Vorgesetzte habe die langen Einsätze verlangt und ihm das Gefühl gegeben, er gefährde sonst seine Stelle. «Ich wollte meinen Job behalten, also habe ich nie protestiert.»
Aus seiner Sicht wurde Ivanovic systematisch eingeschüchtert. Laut Unterlagen, die dem Beobachter vorliegen, wird ihm im Sommer 2012 etwa vorgeworfen, er bediene unfreundlich und nehme Bestellungen falsch auf; das «Atrio» habe seinetwegen «einige Gäste verloren». Er erhält drei Monate Zeit, sich zu verbessern. Sonst muss er mit der Kündigung rechnen. Das Gespräch nach Ablauf der Bewährungsfrist findet jedoch nie statt. Stattdessen wird Ivanovic im Sommer 2013 in einem Formular plötzlich als «bester Mitarbeiter» und «Vorbild» gelobt und als Kadermitarbeiter ins Gespräch gebracht. Er ist überzeugt: «Die Rüge damals sollte mich unter Druck setzen, damit ich weiterhin über meine Grenzen hinausgehe.»
Tina Candrian weist diesen Vorwurf zurück. Die Beurteilungen zeigten bloss, dass es 2012 Probleme gegeben habe, die 2013 behoben gewesen seien. «Angestellte so unter Druck zu setzen, können wir uns bei unserer Grösse und Exponiertheit gar nicht leisten.» Nicht bestreiten kann sie, dass Ivanovic zu lange arbeitete: «Das war ein Fehler, solch ausserordentliche Einsätze werden bei uns nicht mehr möglich sein.»
Vor Arbeitsgericht haben sich die Firma und Ivanovic auf eine Entschädigung von 2000 Franken geeinigt. Der Kellner will nun nach vorn schauen: «Ich versuche, gesund zu werden, damit ich mich wieder nach einer Stelle umsehen kann.»