Die «Lektion für die Zukunft» beginnt auf die Minute genau, und wer gekommen ist, um ihr beizuwohnen, steht im Arbeitsalltag selber vorn: 4000 Lehrpersonen aus dem Kanton Bern sind an diesem verregneten Novembernachmittag in die Hauptstadt gekommen, um für bessere Arbeitsbedingungen zu demonstrieren – und für bessere Löhne.

Anna Linder gehört zu jenen, die die Lektion erteilen. Sie habe ihren Beruf aus Überzeugung gewählt, ruft die Lehrerin in die Menge, doch es stimme sie nachdenklich, dass ihre Leistungen nicht entsprechend entlöhnt würden. «Denn damit werden meine Leistungen auch nicht anerkannt», sagt Linder. «Der Lohn, den ich für die hohe zeitliche Arbeitsbelastung und das innere Engagement erhalte, ist zu klein.» Unter ihren Kolleginnen und Kollegen bricht Applaus aus, kämpferische Pfiffe werden laut. Die Demonstrierenden fordern den vollen Teuerungsausgleich und 1,5 Prozent mehr Salär.

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Es ist ein Schauspiel, wie es jährlich um diese Zeit landauf, landab stattfindet. Vordergründig wird verbissen um Zehntelprozente gerungen, doch dahinter verbirgt sich der Aufschrei ganzer Berufsgruppen: «Wir verdienen nicht, was wir verdienen!»

Hohes Ansehen, tiefer Lohn

Die Klage der Berner Lehrer ist mehr als bloss das Jammern auf hohem Niveau eines Stands, den viele wegen seiner angeblich so langen Ferien gern belächeln. Ihre vergleichsweise tiefen Löhne sind verbürgt, und zwar von unverdächtiger Stelle: Laut einer Studie der wirtschaftsnahen Beratungsfirma PriceWaterhouseCoopers haben Berner Junglehrer in ihrer ganzen Karriere keine Aussicht darauf, auch nur annähernd so viel wie andere Staatsangestellte zu verdienen, geschweige denn so viel wie Softwareentwickler oder Investmentbanker.

Viel Arbeit, viel Verantwortung und als Entschädigung dafür ein Salär, das weit hinter anderen herhinkt: Die Lehrer sind nicht die Einzigen, die sich in dieser Lage befinden. Ähnlich ergeht es Pflegefachfrauen, Kleinkinderzieherinnen, Sozialpädagogen, Behindertenbetreuern. Lauter Berufe aus dem Bildungs-, Sozial- und Gesundheitsbereich. Auffällig ist, dass gerade diese Tätigkeiten in der Gesellschaft oft hohes Ansehen geniessen: In einer grossangelegten Befragung des Magazins «Reader’s Digest» zum Vertrauen in verschiedene Berufsstände belegten Krankenschwestern in mehreren Ländern Platz eins, auch in der Schweiz. Die Lehrer kommen hierzulande immerhin noch auf Platz sechs – und liegen damit weit vor Finanzberatern, Autoverkäufern und Journalisten.

Die Gesellschaft findet es offensichtlich wichtig und sinnvoll, dass es Leute gibt, die Kranke pflegen, die sich um Betagte kümmern, Kinder betreuen oder ihnen Bildung vermitteln – doch an deren Lohntüten geht diese Wertschätzung vorbei. Die hohen Gehälter streichen die Angestellten aus dem Dienstleistungssektor und der Industrie ein. Mit Menschen zu arbeiten, so scheint es, zahlt sich nicht aus. «Ich kann eine Gruppe Kinder gut durch den Tag bringen. Da frage ich mich schon, ob das weniger wichtig ist, als wenn jemand am Computer ein paar Millionen von einem Konto aufs andere verschiebt», wundert sich etwa die Kleinkinderzieherin Regula Riniker aus Basel.

Der Markt bestimmt den «Wert» von Arbeit

Katja Gentinetta, Vizedirektorin der liberalen Denkfabrik Avenir Suisse, erklärt die Lohnunterschiede mit den Gesetzen des Marktes. «Die Höhe eines Lohns richtet sich im Grunde danach, welchen Wert die Tätigkeit eines Arbeitnehmers für einen Arbeitgeber hat, und dieser Wert wiederum hängt von der Produktivität des Mitarbeiters und dem Ertrag seiner Leistung auf dem Markt ab», sagt sie. Und wenn es möglich ist, mit einem Produkt oder einer Dienstleistung viel Geld zu verdienen, «kann dies eine Auswirkung auf die Löhne haben».

Das klingt nicht gut für Berufstätige im Gesundheits-, Sozial- oder Bildungswesen: Sie stellen nichts her, was sich teuer verkaufen liesse. Nach Auffassung des Schweizer Sozialethikers Hans Ruh kommt dazu, dass die Gesellschaft «menschliche Zuwendungsleistungen» wohl achtbar und unentbehrlich findet, sie verglichen mit anderen Tätigkeiten aber letztlich doch als weniger wertvoll einstuft. «Wir definieren Gesellschaft und Zivilisation sehr stark über den technologischen Fortschritt», sagt der Verfasser von Werken wie «Die Zukunft ist ethisch – oder gar nicht». «Was uns stark und mächtig macht, ist uns daher mehr wert als das Feine, das uns menschlich macht», sagt der 77-Jährige.

Wer als Krankenschwester oder Jugendbeauftragter tätig ist, hat einen weiteren gewichtigen Nachteil: Der Effekt seiner Arbeitsleistung ist nicht wirklich messbar. Wie soll da der volkswirtschaftliche Wert einer Arbeit und damit der Lohn dafür bestimmt werden?

Quelle: Thinkstock Kollektion
Spitzenbanker auf Kosten der Gesellschaft

Ökonomen der britischen New Economics Foundation (NEF) haben es 2009 versucht. Und kamen zu einem erstaunlichen Ergebnis: Spitzenbanker sind aus volkswirtschaftlicher Sicht weniger wertvoll als Kinderbetreuerinnen. Die NEF-Ökonomen verglichen die Einkommen von Spitzenbankern mit ihrer Wirtschaftsleistung, also mit ihren Steuerzahlungen und der Anzahl der geschaffenen Jobs. Resultat: Für jedes Pfund, das Spitzenbanker verdienen, zahlt die Gesellschaft sieben Pfund drauf. Ganz anders die Kinderbetreuerinnen. Sie schaffen für jedes Pfund, das sie verdienen, einen Mehrwert von fast zehn Pfund, weil die Eltern weiterhin arbeiten gehen können und die Kinder bei guter Betreuung in ihrer Entwicklung gefördert werden.

Die Studie ist umstritten, die meisten Ökonomen halten sie für ideologisch verbrämt. Und doch wirft sie eine wesentliche Frage auf: Sollen wir nicht einfach gewisse Tätigkeiten, die wir als relevant erachten, besser entlöhnen? Braucht es also quasi Subventionen, um zumindest eine Teilgerechtigkeit bei den Löhnen zu erreichen?

«Man kann durchaus einen Ausgleich für notwendig halten – auf dem Weg der Besteuerung und Umverteilung», sagt Carsten Köllmann (siehe Interview, rechts). Er hat sich im Rahmen eines Nationalfonds-Projekts mit gerechten Löhnen befasst. Das sei aber eine Frage der sozialen Gerechtigkeit, nicht der Lohngerechtigkeit, so der promovierte Ökonom, aus dem ein Ethiker geworden ist.

Katja Gentinetta winkt ab, denn für sie ist klar: Arbeitnehmer und Arbeitgeber beziehungsweise die Sozialpartner sollen darüber entscheiden, wie hoch die Saläre in den einzelnen Branchen sind. Dabei müssten sie sich am Markt ausrichten – und daran, wie stark dieser Ausbildungsgrad, Verantwortung, Aufwand und Leistung belohnt. «Sonst führen wir am Schluss Volksabstimmungen darüber durch, welche Berufe nun wichtig sind und welche nicht.»

Eine interessante Idee. Glaubt man der Vertrauensrangliste von «Reader’s Digest», dann könnten Krankenschwestern und Lehrpersonen bei einem derartigen Votum auf markant höhere Löhne hoffen.

Wo die Gehälter gestiegen sind – und wo nicht

Nachfolgende Grafik zeigt, wie sich die Löhne in ausgewählten Berufen oder Funktionen im letzten Jahrzehnt entwickelt haben. Angegeben sind die teuerungsbereinigten Bruttolöhne ohne 13. Monatslohn und ohne weitere Zulagen. Wo nicht anders erwähnt, wurden die Angaben den Gesamtarbeitsverträgen entnommen, die in den jeweiligen Branchen zwischen den Vertragsparteien ausgehandelt wurden.

Quelle: Thinkstock Kollektion
Quelle: Thinkstock Kollektion

* = Lohnempfehlungen der Arbeitgeber- und Berufsverbände
** = Angaben aus statistischen Erhebungen (Zentralwerte)

Mehr Frauen mit niedrigen Löhnen, mehr Männer bei den Grossverdienern

Anteil Vollzeitbeschäftigte, die einer bestimmten Lohnklasse angehören; Bruttolöhne/Monat, 2008

Quelle: Thinkstock Kollektion

Lesebeispiel: 21 Prozent aller vollzeitbeschäftigten Frauen verdienten im Jahr 2008 monatlich 6001 bis 7000 Franken.

Der Arbeitsort kann für den Lohn entscheidend sein

Verhältnis der Zürcher Branchenlöhne (100 Prozent) zu den Löhnen der anderen Schweizer Grossregionen (zwei ausgewählte Beispiele)

elektrische Geräte und Einrichtungen, Feinmechanik

Quelle: Thinkstock Kollektion

Finanzdienstleistungen

Quelle: Thinkstock Kollektion

Lesebeispiel: Ein Arbeitnehmer, der in Zürich 5000 Franken verdient, erhält im Espace Mittelland nur 3400 Franken (5000 x 0,68).

Wo stehen Sie mit Ihrem Lohn?

Schlagen Sie nach im «Lohnbuch 2008» (PDF, 4 mb; Ausgabe 2010 ist elektronisch nicht verfügbar)

Lohnvergleich

Lohnrechner zeigen anhand von möglichst vielen konkreten Daten, welche Löhne in einer Branche üblich sind. Passt Ihr Salär in dieses Raster? Überprüfen Sie im Beobachter-Lohnvergleich

Das «Lohnbuch 2010»

Die Zahlen zur Lohnentwicklung 2000 bis 2010 stammen aus Erhebungen über Mindestlöhne sowie orts- und berufsübliche Löhne in der Schweiz. Das «Lohnbuch 2010», herausgegeben von der Volkswirtschaftsdirektion des Kantons Zürich, ist das bisher umfassendste Nachschlagewerk und bietet einen Überblick über mehr als 7300 gültige Saläre.

Philipp Mülhauser: «Lohnbuch 2010»; Orell-Füssli-Verlag