Beobachter: Gemäss einer breitangelegten Umfrage sind Krankenschwestern jene Berufsgruppe, der die Schweizer Bevölkerung am meisten vertraut. Überrascht Sie das?
Carsten Köllmann: Überhaupt nicht. Das hat wohl damit zu tun, dass wir uns sehr verwundbar fühlen, wenn es um Krankheiten geht. Entsprechend setzen wir grosse Hoffnungen in die Personen, die uns dann versorgen. Auch eine allgemeine Vorstellung von der Nützlichkeit der Tätigkeit spielt da wohl mit.
Beobachter: Wir halten die Tätigkeit der Krankenschwester für nützlich – sollte sich das nicht auch in ihrer Entlöhnung niederschlagen?
Köllmann: Das ist sicher eine zu vereinfachte Vorstellung, wenn man es so interpretiert, dass die Krankenschwester eigentlich an der obersten Stelle der Einkommenshierarchie stehen sollte.
Beobachter: Warum?
Köllmann: Es klingt eher nach einem sozialistischen Modell, in dem die Gesellschaft den Einzelnen ihre Aufgaben zuweist, deren Nützlichkeit bewertet und dann entsprechend für Verteilungsgerechtigkeit sorgt. Doch so funktionieren eine moderne Gesellschaft und ihre Wirtschaft nicht.
Beobachter: Lässt sich der Wert messen, den eine Arbeit für die Gesellschaft hat?
Köllmann: Ich bin da sehr skeptisch. Wir haben alle unsere eigenen Wertvorstellungen, unsere Lebensziele. Wenn Sie diesen Werte- und Zielpluralismus im Hintergrund haben – wie wollen Sie dann die Nützlichkeit von Tätigkeiten objektivieren?
Beobachter: Aber es gibt doch bestimmte Grundwerte.
Köllmann: Stimmt, es gibt ein paar Werte, auf die sich wohl die meisten einigen könnten. Man kann dann entsprechende Berufe auszeichnen, von denen man sagt: Das sind wichtige Tätigkeiten – wie zum Beispiel jene der Krankenschwester. Aber es wird schnell komplizierter. Der Bankensektor zum Beispiel steht in den Augen vieler Menschen gerade nicht sehr gut da, manche fragen sich vielleicht sogar, was Banker überhaupt tun und welchen Wert ihre Arbeit hat. Eine genauere Analyse würde ihnen aber vielleicht zu der Erkenntnis verhelfen, dass der Bankensektor trotz jüngsten Exzessen grundsätzlich sehr produktiv ist.
Beobachter: Krankenschwestern ergeht es wie Leuten, die mit Kindern, Behinderten oder Betagten zu tun haben: Sie üben Tätigkeiten aus, auf die alle angewiesen sind, und trotzdem tummeln sie sich am unteren Ende der Lohnskala. Zahlt es sich nicht aus, mit Menschen zu arbeiten?
Köllmann: Ich glaube nicht, dass es sich grundsätzlich nicht auszahlt, mit Menschen zu arbeiten. Ärzte zum Beispiel verdienen ganz gut. Vielleicht weil wir trotz der Wertschätzung für die Krankenschwester schlussendlich glauben, dass es der Arzt ist, der uns gesund macht, und nicht die Krankenschwester – mit welcher Berechtigung auch immer.
Beobachter: Dennoch: Viele Menschen im Betreuungs- und Gesundheitssektor werden schlecht bezahlt.
Köllmann: Tätigkeiten mit Menschen sind sehr arbeitsintensiv. Während eine Krankenschwester ihre Arbeit macht, hat sie jeweils ein Eins-zu-eins-Betreuungsverhältnis. Dagegen können, um ein drastisches Gegenbeispiel zu nennen, die Rolling Stones während eines Konzerts sozusagen 50'000 Menschen gleichzeitig betreuen. Sie können auch einfach nur CDs verkaufen, dann müssten sie inzwischen gar nichts mehr machen und betreuen sozusagen immer noch zahlreiche Leute, sobald diese ihre CDs anhören. Die Rolling Stones profitieren hier von einem technologischen Multiplikator, der einer Krankenschwester in ihrer Tätigkeit nicht zur Verfügung steht.
Beobachter: Also muss man einfach das Glück haben, in der richtigen Branche zu arbeiten?
Köllmann: Genau. Banker verdienen sicher nicht deshalb mehr Geld, weil sie mit Geld arbeiten statt mit Menschen, sondern weil es in ihrem Bereich einfacher ist, mehr zu verdienen.
Beobachter: Womit der Grundstein für soziale Ungerechtigkeit gelegt ist.
Köllmann: Jedenfalls scheint es plausibel, dass ab einem bestimmten Lohngefälle das Gehalt nicht mehr nur der eigenen Leistung geschuldet ist. Da kann man durchaus einen Ausgleich für notwendig halten – auf dem Weg der Besteuerung und Umverteilung.
Beobachter: Was ist ein gerechter Lohn? Wie hoch muss er sein, damit man sagen kann: «Das geht in Ordnung»?
Köllmann: Über die absolute Höhe lässt sich kaum etwas sagen. Was die Bestimmungsgründe angeht, behaupte ich, dass wir schon zuerst an die Leistung und weniger an den Bedarf denken, wenn wir über einen gerechten Lohn sprechen. Allerdings ist Lohngerechtigkeit nicht alles. Nehmen wir einmal an, wir wären uns alle einig, wie verschiedene Leistungen zu bewerten sind: Dann könnte man sich durchaus vorstellen, dass manche so wenig leisten, dass ihr gerechter Lohn ihnen zum Leben nicht reicht. Hier würde ich sagen: Diese Leute müssen dennoch mehr Geld bekommen.
Beobachter: In Form eines Mindestlohns?
Köllmann: Zum Beispiel. Und zwar nicht, weil man sagt: Alles, was unter dem Mindestlohn liegt, ist ein ungerechter Lohn. Sondern weil es einfach ein unanständiger Lohn ist. Egal, wie viel es für ihren Arbeitgeber wert ist, was diese Leute leisten – ein bestimmtes Minimum zu unterschreiten ist einfach nicht zumutbar. Ihre Tätigkeit scheint ja gebraucht zu werden, sonst würde man sie nicht beschäftigen. Und jeder Mensch sollte genug verdienen, um nicht nur gerade so zu existieren, sondern um auch am sozialen Leben teilnehmen zu können.
Beobachter: In absehbarer Zeit wird über die «1:12»-Initiative abgestimmt. Sie fordert, dass der höchste Lohn in einer Firma höchstens zwölfmal höher ist als der niedrigste. Was halten Sie davon?
Köllmann: Ich habe wegen ihres Symbolwerts durchaus Sympathie für die Initiative, weil sie darauf aufmerksam macht, wie weit die Einkommen inzwischen auseinandergehen. Und letztlich sind wohl die Leistungsunterschiede auch geringer, als wir uns das in unserer Eitelkeit manchmal vorstellen. Diese verhältnismässig kleinen Leistungsungleichheiten übersetzen sich inzwischen einfach in sehr grosse soziale Ungleichheiten. Es ist also gut, dass diese Initiative sagt: Die Unterschiede dürfen nicht zu gross werden.
Beobachter: Aber?
Köllmann: Moderne Gesellschaften sind nun einmal sehr komplex, man kann ihre Funktionsmechanismen nicht einfach per Gesetz ausser Kraft setzen. Insofern bin ich skeptisch, wieweit man Einkommensunterschiede mit gesetzlichen Vorschriften wirklich in den Griff bekommen wird.