Kritik an den Kontrollen von Bund und Kantonen
Jeder Betrieb ist selber für sein Schutzkonzept verantwortlich. Gewerkschaften kritisieren das. So werde die Gesundheit von Personal und Kunden gefährdet.
Veröffentlicht am 29. April 2020 - 14:09 Uhr
Landauf, landab werden dieser Tage Schutzkonzepte erarbeitet. Für alles, was jetzt oder schon bald wieder möglich sein soll: Tennis spielen, Beerdigungen, Coiffeurbesuche.
Trotz aller Freude über die Rückeroberung eines Stücks Normalität – das birgt auch Risiken: «Je mehr Branchen und Betriebe öffnen, desto grösser wird die Gefahr unseriös umgesetzter Schutzkonzepte und umso grösser das Risiko von Neuansteckungen», sagt deshalb Luca Cirigliano, Zentralsekretär des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds SGB und Leiter Arbeitsbedingungen. «Die Schutzkonzepte müssen hohe Gesundheitsschutz-Standards erfüllen, ansonsten macht sich der Arbeitgeber gegenüber Arbeitnehmenden und Kunden strafbar.» Er kritisiert das Vorgehen des Staatssekretariats für Wirtschaft Seco. Es sei fahrlässig, dass das Amt lediglich Vorlagen zur Verfügung stelle, die individuellen Schutzkonzepte aber nicht vorgängig kontrolliere.
Auf der Webseite backtowork.easygov.swiss, auf der sowohl ein Musterschutzkonzept für Branchenorganisationen als auch mehrere Standard-Varianten für Unternehmen heruntergeladen werden können, heisst es explizit: «Die Umsetzung der Schutzkonzepte liegt in der Verantwortung jeder einzelnen Unternehmung. Es erfolgt keine Validierung der einzelnen Schutzkonzepte, weder durch den Bund noch durch die Kantone.» Branchenverbände sollen «unter Anhörung der betroffenen Sozialpartner und bei Bedarf unter Beizug von Fachspezialisten» Vorlagen für ihre Mitglieder zur Verfügung stellen. Letzteres ist aber freiwillig.
Das sei ungenügend, findet der Gewerkschaftsbund. Wenn Kontrollen stattfänden, dann nur nachträglich und stichprobenartig durch die zuständigen kantonalen Arbeitsinspektorate. «Das System des Seco funktioniert nur in einer idealen Welt und begünstigt schwarze Schafe», sagt er. Andere Länder wie etwa Frankreich würden viel weiter gehen und hätten von Anfang an umfassende Vorgaben pro Branche gemacht.
Aber ist es nicht illusorisch zu fordern, dass die Behörden jedes einzelne Unternehmen kontrollieren? Es gebe auch andere Lösungen, sagt der Gewerkschaftssekretär. Der Bund könne anordnen, dass Fachpersonen beigezogen werden um eine individuelle Risikoanalyse zu machen. Also Arbeitssicherheitsexperten, wie etwa Arbeitsärzte, Sicherheitsfachleute oder Arbeitshygieniker. Das sei jetzt auch für die Arbeitgeber besonders angezeigt, weil sie sonst nicht nachweisen könnten, dass sie ihre erhöhte Sorgfaltspflicht erfüllt hätten. Gebe es jetzt keine wasserdichten Konzepte, fürchtet Cirigliano Wildwuchs und «Discount-Konzepte».
«Es ist ein Experiment auf dem Buckel der Arbeitnehmer und Kunden. Man stelle sich vor, Kunden probieren Kleider an und dann die nächsten, ohne dass sie zwischendurch gewaschen oder sterilisiert werden. Oder der Barbier schneidet den Bart, ohne die Werkzeuge zu sterilisieren. Im schlimmsten Fall kontrolliert das niemand, bis jemand reklamiert, weil es zu Neuansteckungen kommt.»
Die seit dieser Woche wiedereröffneten Gärtnereien und Gartenfachgeschäfte erhielten von ihrem Branchenverband JardinSuisse am 17. April eine Vorlage eines Schutzkonzeptes, das jeder Betrieb selber entsprechend anpassen konnte.
«Wir haben unsere Mitglieder speziell darauf hingewiesen, dass die geltenden Bestimmungen dringendst eingehalten werden müssen, da ein Betrieb bei Nichteinhaltung von den kantonalen Behörden geschlossen werden kann», sagt Martina Hilker, Leiterin Kommunikation und Politik bei JardinSuisse. Sie hätten einen guten Kommunikationsfluss mit den Mitgliedern und sie befürchte deshalb keinen Wildwuchs. Es habe vereinzelt Verunsicherung gegeben, wo man denn das individuelle Schutzkonzept «einreichen» müsse.
Mehr Sorgen macht sich Dagmar Jenni, Geschäftsführerin von Swiss Retail Federation, dem Verband der mittelständischen Detailhandelsunternehmen. «Die Kantone haben im Vollzug unterschiedliche Ansichten, zum Beispiel bei der Höhe der Plexiglasscheiben. Der Bund hat dazu keine Vorgaben gemacht und jetzt beginnen die Kantone damit, unterschiedliche individuelle Höhen vorgeben zu wollen», sagt sie. Nachdem der Detailhandel lange alleine gelassen worden sei und Millionen von Franken investiert habe, kämen die Kantone jetzt und wollten das diskutieren.
«Das geht nicht an! Insbesondere nicht, nachdem das Seco in seinen eigenen Muster- und Standard-Konzepten keine Mindesthöhen vorgegeben hat», sagt Jenni.
Der Druck in den Betrieben und das Bewusstsein für die Verantwortung sei gross, jetzt alles korrekt umzusetzen. «Niemand will seinen Laden schliessen, das würde zu einem riesigen Renomée-Verlust führen.» Auch die Detailhändler, die in normalen Zeiten Zusatzkosten scheuten, hätten jetzt klar erkannt, dass man den Schutz priorisieren muss. Wenn die Leute im Laden sich nicht sicher fühlten, würden sie auch nicht kommen. Natürlich liesse sich aber nicht gänzlich ausschliessen, dass Einzelne es weniger streng nehmen.
Swiss Retail Federation hätte sich allerdings vom BAG und Seco gewünscht, dass die Verbands-Empfehlungen formal abgenommen werden. «Wir haben den Wunsch angebracht, aber sie wollten es aus Kapazitätsgründen nicht, weil sie es sonst für jede Branche hätten tun müssen», sagt Dagmar Jenni. Es wäre ihr aber lieber gewesen und sie findet, das wäre in dieser Krise auch ein vertretbarer Aufwand für die Behörden.
Beim Seco ist man anderer Meinung und findet die Vorgaben klar genug, um Wildwuchs zu verhindern. Man habe während des Lockdowns bei den Unternehmen, die weiter gearbeitet haben, gesehen, dass die Hygiene- und Verhaltensregeln des BAG umgesetzt worden seien.
«Die Message wurde in der Wirtschaft sehr gut verstanden. Es gibt keinen Grund zur Annahme, dass die Präventionsmassnahmen nun weniger gut befolgt würden», sagt Nadine Mathys, Seco-Mediensprecherin. Und schliesslich zeige der ausserordentlich hohe Traffic auf ihrer Webseite mit den Vorlagen, dass die Betriebe und Branchen weiterhin die Vorgaben umsetzen wollen. Das Vorgehen sei zielführend: Die Behörden geben die Schutzziele vor und die Betriebe sind für die Umsetzungsmodalitäten verantwortlich.
In den nächsten Tagen und Wochen veröffentlicht das Seco weitere tätigkeitsspezifische Standard-Schutzkonzepte für Betriebe ohne Branchenverband, wie Mathys ankündigt.
In der Zwischenzeit beginnen die kantonalen Arbeitsinspektorate zu kontrollieren, ob die Bestimmungen eingehalten werden. In St. Gallen startete die Behörde die Kontrollen am 28. April und setzt einen Grossteil seiner personellen Ressourcen dafür ein, um zu überprüfen, ob die Schutzkonzepte eingehalten werden. Die Leiterin des Amts für Wirtschaft und Arbeit des Kantons St. Gallen, Karin Jung, sagt: «Wir stellen fest, dass die Firmen ihre Aufgabe ernst nehmen. Wir haben viele Anfragen von Betrieben erhalten, wie sie ihre Konzepte ausgestalten sollen und worauf sie achten müssen.»
Im Kanton Bern sind die Kantonspolizei, die Gemeinden, die Suva und das Amt für Wirtschaft gemeinsam für die Kontrollen zuständig, die bereits im Gange sind. Corona-Kontrollen werden priorisiert und die Ressourcen an anderen Orten dafür zurückgefahren. «Da es im Kanton Bern rund 70'000 Unternehmen gibt, ist eine vollständige Überprüfung nicht möglich, in gewissen Branchen werden aber alle Betriebe kontrolliert», heisst es bei der Medienstelle.
Im Kanton Zürich werden Arbeitsinspektorat und Suva ebenfalls von der Kantonspolizei unterstützt, damit mehr Kontrollen durchgeführt werden können. Zudem wurden Fokusbranchen definiert, in denen verstärkt kontrolliert wird, wie zum Beispiel in der Logistik. Grundsätzlich vertraue man aber darauf, dass die Arbeitgeber ihre Verantwortung wahrnehmen, denn sie hätten ja ein hohes Interesse daran, dass Angestellte und Kundinnen gesund bleiben und der Betrieb nicht geschlossen werde. Die bisherigen Kontrollen würden das bestätigen.
Doch nicht nur die Seco-Praxis wird kritisiert, sondern auch die Kontrolltätigkeit der Kantone. In einer Medienmitteilung bemängelt die Gewerkschaft Unia deren Vorgehen. Eine Umfrage in der Logistik- und Transport-Branche habe ergeben, dass es bei der Umsetzung der Schutzmassnahmen hapere und teils schockierende Verstösse geschehen. «Die Qualität der behördlichen Kontrollen ist in einem Grossteil der Kantone äusserst schlecht. Oft angekündigt, ohne direkten Einbezug der Arbeitnehmenden und praktisch immer ohne Sanktionen für die Betriebe.» Damit würden einseitig die Unternehmen geschützt. Obwohl der Unia zahlreiche Verstösse gemeldet wurden, sei kein einziger Betrieb geschlossen worden. «Es fehlt offensichtlich an Kompetenz, Willen und Ressourcen in den Kantonen.»
Mit ihrer Kritik an den Arbeitsinspektoraten und am Seco sind die Gewerkschaften nicht alleine. Die ZHAW-Dozentin für Arbeits- und Sozialversicherungsrecht Sabine Steiger‐Sackmann wählt in einem Beitrag in der juristischen Online-Plattform «IusNet» deutliche Worte: «Defizite im Arbeitsgesetz-Vollzug werden in Zeiten von Corona offensichtlich» und das langjährige Wegschauen des Seco räche sich jetzt. Die Kantone seien verpflichtet, dafür zu sorgen, dass gut ausgebildete Personen für die Erfüllung der gesetzlichen Aufgaben in genügender Zahl eingesetzt werden könnten. Das Seco habe die Kompetenz, die Anzahl Aufsichtspersonen in den Kantonen zu bestimmen, was es aber bisher nicht ausgeschöpft habe.
«Dieses Versäumnis führt nun heute dazu, dass die Kantone in ihren Arbeitsinspektoraten nicht über die personellen Ressourcen verfügen, um die Corona‐Massnahmen in genügendem Umfang kontrollieren zu können», schreibt Steiger-Sackmann. «Es ist beschämend, dass der Schutz der Arbeitnehmenden dann, wenn sie ihn am nötigsten hätten, von den eigentlich zuständigen Behörden nicht gewährleistet werden kann. Es ist nun unübersehbar, dass der Gesundheitsschutz seit Jahren vernachlässigt worden ist.»
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