Wie Fluglotsen und Notfallärztinnen Ruhe bewahren
Der Stress bei der Arbeit nimmt zu. Was hilft dagegen? Drei Menschen mit besonders anspruchsvollen Berufen erzählen, wie sie Ruhe bewahren.
«Nichts ist so stark wie der Stress, den man sich selbst macht.»
Wenn ich leiste, bin ich. Dieser Leitgedanke trieb Nicole Haut-Cavegn seit je unbewusst an. Neben ihrem Publizistikstudium arbeitete sie als Tänzerin und absolvierte zeitgleich diverse Ausbildungen in der Fitnessbranche. Dennoch ist sie überzeugt, dass es nicht die Arbeit war, die bei ihr schon in den Zwanzigern zu zwei Burn-outs geführt hat. «Die Arbeitsbelastung kann ein Auslöser sein, nichts aber ist so stark wie der Stress, den man sich selbst macht», weiss die 42-Jährige heute. Immer mehr leisten, noch besser werden und doch nie zufrieden mit sich sein – all das hat bei ihr einen gefährlichen Nährboden für Burn-outs geschaffen.
Zwar haben die beiden Zusammenbrüche kurzfristig zu einer Entschleunigung geführt, ihr Leben verändert hat Haut-Cavegn deshalb aber nicht. Im Gegenteil. Als Fitnessinstruktorin war sie auf der ganzen Welt unterwegs. Als sie nach ihrem zweiten Burn-out aufgrund von hormonellen Störungen zehn Kilogramm zunahm, erhöhte sich der Druck zusätzlich. «In dieser Branche mit etwas mehr Pfunden auf den Hüften auf eine Bühne zu stehen, brauchte viel Mut, zeigte mir aber auch, wozu ich fähig bin», erzählt Haut-Cavegn.
Als sie Anfang 30 zusätzlich ihr eigenes Coaching-Unternehmen gründete, geschah das Unvermeidliche: ein drittes Burn-out. «Erst da begriff ich, dass es nicht reicht, den Computer nur neu zu starten, man muss stattdessen überlegen, was zum Absturz geführt hat, und langfristig daran arbeiten», so Haut-Cavegn. Dank kontinuierlicher Selbstreflexion und viel mentaler Arbeit wisse sie heute, dass sie nur dann gesund bleiben könne, wenn sie einen ganzheitlichen Ansatz wähle, der mehrere Aspekte gleichzeitig berücksichtige: ein gesundes Selbstbewusstsein, mentale Stärke, ein Verständnis für den eigenen Körper und dessen Signale sowie eine nachhaltige Alltagsgestaltung.
Die Basis von allem, davon ist Haut-Cavegn überzeugt, ist das Selbstbewusstsein. «Wer ständig der Anerkennung eines Chefs, eines Mannes oder eines Freundes hinterherjagt, ist von anderen abhängig.» Heute definiert sich die Coachin deshalb nicht mehr über Geschäftsresultate, Körpermasse oder externe Feedbacks. «Ich bin dann erfolgreich, wenn ich etwas bewirken, mein Leben mit Freude leben und anderen etwas Gutes tun kann.» Als selbständige Unternehmerin ist das besonders wichtig, denn Haut-Cavegn kann sich nicht hinter einer Firma oder einem Produkt verstecken. «Viele Selbständige unterschätzen den Druck, selbst die Marke ihres Unternehmens zu sein. Es ist eine grosse Herausforderung, geschäftliche Misserfolge nicht allzu persönlich zu nehmen.»
Die Mutter einer fünfjährigen Tochter musste lernen, sich selbst Sorge zu tragen. Sie musste lernen, dass sie trotz grosser Leidenschaft für ihren Beruf Pausen braucht. Dass es in Ordnung ist, Hilfe anzunehmen, und «dass ich nicht nur jemand bin, wenn ich leiste, sondern es sogar meine soziale Pflicht ist, mir selbst Sorge zu tragen. Denn nur so habe ich die Energie, der Gesellschaft etwas zurückzugeben.»
Text: Nicole Krättli
«Nach einem Streit zu Hause meldet man sich ‹not fit to work›.»
Seit 17 Jahren ist André Reinmann Fluglotse. Er überwacht den Flugverkehr ab 3000 Metern Höhe in der ganzen Deutschschweiz, im Tessin, im süddeutschen Raum und in Vorarlberg. Stressige Zeiten, in denen er sehr schnell Entscheidungen treffen muss, gehören zum Alltag. Etwa wenn sich im Sommer Gewitterzellen aus dem Nichts aufbauen, plötzlich 20 Flugzeuge in seiner Verantwortung sind, ihn ein Funkspruch nach dem anderen erreicht. Und trotzdem erinnert er sich noch sehr gut an den einschneidendsten Moment seiner Karriere. «Das war Adrenalin pur», sagt er.
Reinmann gab einem Piloten, der vom Flughafen Basel gestartet war, eine Anweisung für die Flughöhe. Der Pilot wiederholte sie zwar korrekt, gleichzeitig fühlte sich aber die Besatzung eines anderen Flugzeugs angesprochen und bestätigte die Steigfreigabe ebenfalls. Dieser Funkspruch wurde jedoch vom Funkspruch des ersten Flugzeugs überdeckt. Deshalb stieg die zweite Maschine höher, als Reinmann angewiesen hatte, und steuerte direkt auf ein weiteres Flugzeug zu. Den Fehler bemerkte der Lotse erst visuell auf dem Radar. Ihm war innert Sekundenbruchteilen klar: Das könnte heikel werden.
Sein Herz raste, er reagierte sofort. «Dafür werden wir ja trainiert.» Er funkte dem Piloten: «Descend immediately», sofort absinken. Der Pilot «fiel aus dem Steigflug wie ein Stein», erinnert sich Reinmann. Am Schluss sei die Distanz zwischen den Flugzeugen gross genug gewesen. «Aber nur weil Lotse und Pilot so schnell reagiert haben.»
Nach dem Vorfall wurde Reinmann innert zehn Minuten abgelöst. Als Erstes wollte er unbedingt wissen: Habe ich etwas falsch gemacht? Erst nach 20 Minuten erhielt er die erlösende Gewissheit: technischer Fehler. Nach einem Betreuungsgespräch ging er nach Hause. «An einem solchen Tag arbeitet man nicht mehr.»
Er beobachtet immer wieder den Drang, in belastenden Situationen sitzen bleiben zu wollen. Der erste Impuls von vielen Fluglotsen, wenn sie etwas Problematisches erlebt haben, sei: weitermachen. «Man muss uns fast zwingen aufzuhören.»
Immer wieder heisse es, Fluglotse sei einer der stressigsten Jobs der Welt, sagt Reinmann. «Aber anspruchsvolle Arbeit ist auch herausfordernd und spannend», sagt er. «Wenn ich über 20 bis 30 Minuten stark beansprucht werde, komme ich in einen richtigen Flow.» Für die maximale Konzentrationsfähigkeit braucht er aber regelmässige Erholung – Fluglotsen machen nach spätestens zwei Stunden eine Pause von mindestens einer halben Stunde. Dann legt er sich für ein Nickerchen hin, spielt eine Runde Billard oder liest.
Es gibt auch Tage, an denen es schwieriger ist, sich zu konzentrieren. Nach einem Streit zu Hause zum Beispiel. Dann meldet man sich «not fit to work». «Wenn jemand mental belastet ist», sagt Reinmann, «sollte er nicht arbeiten.» Für André Reinmann ist das Spüren der eigenen Grenzen etwas vom Wichtigsten im Umgang mit Stress. «Man darf den Moment nicht verpassen, in dem man sich Hilfe holen sollte.»
Text: Jessica King
«Sobald ich beim Patienten bin, ist der Stress weg.»
«In einer Notsituation geht es dem Patienten schlecht, die Angehörigen sind verzweifelt – meine Aufgabe ist es, Ruhe in die Situation zu bringen und die Lage einzuschätzen. Sobald ich beim Patienten bin, ist mein Stress weg. Nur so kann ich ihm dann einen Weg aufzeigen, den er gehen kann.
Typische Fälle sind ältere Menschen, die nach einem Sturz nicht mehr aufstehen können oder nur noch teilweise ansprechbar sind. Oder Menschen, die wegen Rückenweh nicht mehr aus dem Bett kommen. Häufig liegt das Problem aber auch ganz woanders als anfangs vermutet. Neulich war ich bei einem Mann, der uns wegen Stuhlinkontinenz und Schwindel rief. Er atmete nur sehr schwach, ich lieferte ihn sofort ins Spital ein. Dort stellte sich heraus, dass er an der seltenen Legionellen-Lungenentzündung litt. Seine Symptome waren Nebenwirkungen eines Antibiotikums, das nicht gewirkt hat.
Das immer gleiche Vorgehen gibt mir Sicherheit: Ich befrage den Patienten und mache die nötigen Untersuchungen, beruhige die Angehörigen und konzentriere mich dann auf das momentan wichtigste medizinische Problem. Stressig kann es werden, wenn ich merke, dass sich hinter dem vordergründigen medizinischen Problem noch viel mehr verbirgt. Wenn ich einen Missbrauch ahne, Drogenkonsum oder Gewalt eine entscheidende Rolle spielt. Es ist wichtig, auch auf diese psychosozialen Probleme einzugehen, aber da gibt es oft keine einfachen Lösungen. Ich kann nicht ein ganzes Leben in Ordnung bringen, ich kann nur meinen Beitrag leisten.
Manchmal versuche ich, eine Weiterbetreuung aufzugleisen, zum Beispiel einen Besuch bei einer Suchtberatung. Aber nicht alle Patienten wollen das. Sogar Menschen, die dringend medizinische Hilfe nötig haben, lehnen diese manchmal rundweg ab. In solchen Fällen die richtige Entscheidung zu treffen, braucht viel Feingefühl und Erfahrung. Einige meiner Patienten stehen am Rand der Gesellschaft oder sind durch die Maschen des sozialen Netzes gefallen. Auffallend viele haben keinen Hausarzt. Die Kosten und das Leid, die das später verursacht, sind sehr gross.
Bei den SOS-Ärzten sind immer mehrere im Einsatz. Meinen nächsten Notfall bekomme ich in der Regel erst zugewiesen, wenn ich den letzten Fall abgeschlossen habe. Das mindert den Stress. Sobald ich wieder im Auto bin, stelle ich mich auf den nächsten Fall ein. Bei jedem Rotlicht atme ich tief durch. Richtige Pausen zu machen, ist nicht so einfach. Das muss ich noch besser lernen. Je länger die Bergtour, heisst es, desto besser muss man seine Kräfte einteilen.
Die Schichten sind lang, der Job fordert viel. Aber ich finde die Arbeit enorm interessant. Ich bin mit den unterschiedlichsten medizinischen Problemen konfrontiert. In ihrem Zuhause sind die Gespräche mit den Patienten persönlicher, als wenn sie in die Praxis kommen. Das berührt mich. Aber man braucht Zeit, um diese Eindrücke zu verarbeiten. Mir gelingt das am besten in der Natur. Seit ich Notfallärztin bin, mache ich weniger Action-Sportarten, eher so entspannende Sachen wie Stand-up-Paddling auf dem See.»
Text: Julia Hofer