Chef, ich habe ein Problem…
Wer psychisch erkrankt ist, scheut sich oft, am Arbeitsplatz darüber zu reden. Dabei kann Offenheit entlastend sein – aber nur, wenn das Betriebsklima stimmt.
aktualisiert am 4. Oktober 2018 - 11:26 Uhr
Die 37-jährige Marketing-Fachfrau hätte befördert werden sollen. Doch sie wollte nicht, suchte nur Ausflüchte, als man ihr das Angebot machte. Das können ihre Vorgesetzten bis heute nicht nachvollziehen. Diese clevere, kreative, souveräne Mitarbeiterin!
Den Grund weiss nur sie selbst: Allein die Vorstellung, in der neuen Funktion einmal pro Woche ein Meeting leiten zu müssen, schnürt ihr die Kehle zu. Ihre soziale Phobie macht ihren Arbeitsalltag schon länger zur Hölle. Erst neulich wieder diese Sitzung: Gute Ideen hatte sie jede Menge, doch bevor sie etwas sagen konnte, setzte die Angst sie schachmatt . Wieder diese Zweifel, ihre Beiträge seien schlecht, würden belächelt. Zudem: «Ich bin dann überzeugt, dass meine Hände zittern, dass ich im Gesicht ganz rot bin und mich alle anstarren.»
Schätzungen zufolge erkrankt in der Schweiz jede dritte Person im Lauf ihres Lebens psychisch. Zugenommen haben insbesondere Angst- und Stresserkrankungen sowie leichte bis mittelschwere Depressionen. Unklar ist allerdings, ob diese Erkrankungen früher nicht erkannt und diagnostiziert wurden oder ob sie wirklich häufiger geworden sind.
Was viele Betroffene von leichteren Erkrankungsformen gemeinsam haben: Sie stehen voll im Berufsleben und funktionieren scheinbar normal. Dabei sind sie labil und fürchten ständig, wegen ihrer Probleme irgendwann nicht mehr zu genügen.
Doch die wenigsten wagen es, sich am Arbeitsplatz jemandem zu offenbaren. Zu gross ist die Sorge, mit einer Etikette beklebt zu werden: Der spinnt! Die hat nicht alle Tassen im Schrank! Auch die Befürchtung, schnell als weniger leistungsfähig zu gelten, lässt die angeschlagenen Kollegen still leiden. Sie tun alles, um ihre Erkrankung zu verstecken.
Doch das kann fatal sein: «Der Druck, dass es keiner merken soll, verstärkt das Problem. Ebenso die Angst, den Arbeitsalltag nicht so zu bewältigen, wie man es von sich selbst erwartet», sagt Thomas Ihde-Scholl, Chefarzt der Psychiatrischen Dienste an den Spitälern Frutigen, Meiringen und Interlaken und Autor des neuen Beobachter-Ratgebers «Ganz normal anders».
Für Mitarbeiter mit psychischen Problemen kann ein offenes Gespräch Entlastung bringen. Dabei lässt sich erörtern, welche Aufgaben schwierig geworden sind und was Hilfe bringt: Ein Mitarbeiter leidet etwa unter einer leichten Depression. Er ist blockiert, wenn er mit Kunden telefonieren muss – aber E-Mails beantworten, das klappt nach wie vor reibungslos. Nach Ihde-Scholls Erfahrung ist es erstaunlich, wie unterstützend Vorgesetzte sein können und welche Anpassungen am Arbeitsplatz mit geringem Aufwand möglich sind.
Es ist jedoch eine Gratwanderung, sich dem Chef oder Kollegen anzuvertrauen. «Es ist noch immer Realität, dass psychisch Kranke stigmatisiert werden», sagt Thomas Ihde-Scholl. Es hängt stark von der Kultur am Arbeitsplatz ab, wie offen man über seine Probleme informieren soll oder kann: Wie wird im Betrieb über psychische Erkrankungen geurteilt? Werden Witze und entwertende Sprüche toleriert? Wie verlaufen die Pausengespräche, wenn Medien über prominente Burn-out-Fälle oder Suizide bei Managern berichten?
«Das Betriebsklima und die Vertrauensbasis müssen stimmen», bestätigt Urs Tschanz, Geschäftsführer der Berner Personalentwicklungsfirma Diacova. Je schlechter beides ist, desto weniger werden sich Betroffene trauen, über ihr Leiden zu sprechen. Und wenn Ellböglerei und Konkurrenzdenken ohnehin schon an der Tagesordnung sind, kann das Schweigen der Leidenden Misstrauen und Ungunst zusätzlich anheizen. Denn die Krankheit wird als fehlendes Engagement und mangelnde Leistungsbereitschaft interpretiert.
Im Team heisst es dann schnell: Der schiebt eine ruhige Kugel, während wir krampfen wie wahnsinnig. «Es wird nicht unterschieden zwischen dem Wollen und dem Können», so Tschanz. Das schadet dem Teamgeist – und erst recht dem, der krank ist. Der Personalfachmann plädiert dafür, fair und realistisch zu bleiben. In keinem Team beherrsche jeder alles, auch in einem «gesunden» nicht.
«Zeitgemässe Personalführung setzt Leute deshalb nach ihren Stärken und Vorlieben ein – auch, weil das die Schwächen anderer wettmacht», sagt Tschanz. Sind die Rahmenbedingungen gut, trägt ein Team einen psychisch kranken Kollegen nämlich durchaus. Mit einem nicht zu unterschätzenden Zusatzeffekt: Es stärkt die Beteiligten auch in ethisch-moralischer Hinsicht.
Etwa: «Ich habe Angst , einen vollen Sitzungssaal zu betreten und etwas sagen zu müssen. Ich arbeite an diesem Problem, kann aber die geplanten Referate momentan nicht halten.»
Derartiges einzugestehen kostet Überwindung und braucht Mut. Und bis sich Betroffene ein Herz fassen, haben sie oft schon lange gelitten. Dem sollten Chefs und Kollegen Respekt zollen. Und eines unterlassen: jemanden verdächtigen, er simuliere ja bloss. Und ihm so das Gefühl geben, er solle sich ein bisschen zusammennehmen, dann gehe es schon.
Studien zeigen: Bei Kranken, die beweisen müssen, dass sie krank sind, dreht sich die Spirale abwärts – die Symptome verstärken sich. Zudem, so warnt Urs Tschanz, sei es weder an Vorgesetzten noch an Kollegen, Diagnosen zu stellen. «Das ist die Sache von Fachleuten.» Denn was man als Laie wahrnimmt, kann täuschen – wie bei der Mitarbeiterin aus dem Marketing.
Wann soll ich über meine Krankheit informieren?
Spätestens, wenn die Leistung durch das psychische Leiden merklich leidet. Oder wenn andere beeinträchtigt werden. Beispiel: Ein Kollege hat eine Arbeitsblockade, wenn er an den Schalter muss. Oder er bricht in Panik aus, wenn er ein volles Büro betritt.
Soll man als Erstes gleich zum Vorgesetzten gehen?
Wenn das Vertrauensverhältnis gut ist, spricht nichts dagegen. Wer Bedenken hat, kann zunächst eine Vertrauensperson informieren: den Personalleiter, die Leiterin einer anderen Abteilung, einen Arbeitskollegen. Oft fällt es Betroffenen leichter, das Thema anzusprechen, wenn sie jemanden als Fürsprecher einsetzen können.
Wann sage ich besser nichts?
Wenn die Störung nicht allzu gravierend ist und Arzt oder Therapeut davon ausgehen, dass jemand rasch wieder gesund wird, ist es eine Frage der Privatsphäre, ob man informieren möchte oder nicht. Sobald man aber länger als ein paar Tage krankgeschrieben ist, ergibt sich folgendes Problem: Bei einer Verstauchung oder einer Grippe erzählen die meisten recht offen, was ihnen gefehlt hat. Wird nicht informiert, ist das «suspekt». Der Arbeitgeber beginnt zu spekulieren, die Kollegen ebenso. Das bewirkt oft eine schlechte Dynamik.
Muss ich die genaue Diagnose nennen?
Das ist nicht zwingend. Aber: Eine Diagnose gibt Vorgesetzten die Chance, sich über die Krankheit zu informieren. Experte Thomas Ihde-Scholl weiss: «Das Hauptproblem der Arbeitgeber ist meist die Hilflosigkeit dem Thema und der Situation gegenüber.» Wenn die Chefin darüber Bescheid weiss, was eine Erschöpfungsdepression oder eine Zwangsstörung ist, fällt es leichter, gezielt Unterstützung anzubieten. Oder die Lage eventuell mit dem Arzt/Therapeuten sowie einem Jobcoach (hilft beim Wiedereinstieg nach einer Krankschreibung) zu besprechen.
Wie reagieren Vorgesetzte richtig?
Unterstützend, Sicherheit vermittelnd, die Angst nehmend. Wichtig ist, das Gespräch im Rahmen zu halten. Ein Chef ist weder ein Kollege noch ein Therapeut. Aber er kann zum Beispiel mit gezieltem Feedback zur Arbeitsleistung helfen. Hier kann es sinnvoll sein, dass der Arzt/Therapeut oder der Jobcoach mit dabei ist.
Wie sage ich es meinen Arbeitskollegen?
Am besten bespricht man das Vorgehen mit dem Chef. Entscheidet man sich, das Team einzuweihen, kann ein Konzept hilfreich sein: in Ruhe aufschreiben, was beim Namen genannt werden soll und was nicht. So sagt man nicht vor lauter Nervosität Dinge, die man eigentlich für sich behalten wollte.
Wie reagieren Kollegen richtig?
Betroffene sind froh, wenn sie von den Kollegen möglichst «normal» behandelt werden. Es darf und soll in der Pause also nach wie vor über Fussball oder das geplante Ferienziel gesprochen werden.
Anlaufstellen
- Angst- und Panikhilfe Schweiz: www.aphs.ch, Hotline 0848 801 109
- Schweizerische Gesellschaft für Angst & Depression: www.sgad.ch
- Schweizerische Gesellschaft für Verhaltens- und Kognitive Therapie: www.sgvt-sstcc.ch
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Was ist das Blabla und Wischiwaschi? Nennt doch es so wie es ist: Moderne Arbeitswelt macht psychisch krank