In jedem Vorstellungsgespräch hofft Reto Meile*, dass sie nicht kommt. Doch früher oder später ist sie da, die Frage nach der Stresstoleranz. Meile weiss dann, dass es wieder nicht klappen wird mit dem Job. «Ich spüre beim Gegenüber sofort eine Mauer der Skepsis, gegen die ich kaum etwas ausrichten kann.»

Denn mit der Stresstoleranz des 47-Jährigen sieht es nicht gut aus. Seine Geburt 1969 war eine mit vielen Komplikationen und zu wenig Sauerstoff; die Ärzte diagnostizierten früh ein psychoorganisches Syndrom «mit wesentlichen Einschränkungen im Bereich der Motorik und des Sozialverhaltens.»

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Reto Meile war nie der Schnellste. Mit eisernem Willen und der Hilfe der Adoptiveltern bekam er trotzdem die Sekundarschule und eine kaufmännische Lehre hin, arbeitete dann für verschiedene Firmen, die seine exakte Arbeitsweise schätzten. Bis er Ende 2011 die Stelle in der Buchhaltung einer grossen Elektronikfirma verlor. Nach zehn Jahren – und einem Wechsel in der Chefetage.

Der neue Chef entlässt ihn

«Die neue Geschäftsleitung hatte kein Verständnis dafür, dass ich etwas langsamer bin und zu Fehlern neige, wenn der Druck zu gross wird», sagt Meile. Sein Angebot, zu tieferem Lohn ins Materiallager zu wechseln, schlug die Firma aus. Sie entliess ihn – offiziell aus wirtschaftlichen Gründen.

Heute lebt der Buchhalter von der Sozialhilfe. Über einen Job in einer Behindertenwerkstätte will er einen Platz im geschützten Arbeitsmarkt finden. Doch dafür müsste ihm die Invalidenversicherung erst eine Teilrente zusprechen. Das hat sie bis heute nicht getan – obwohl seine Einschränkungen die Folgen eines Geburtsgebrechens sind, das der IV seit den frühen siebziger Jahren bekannt ist. Ende 2015 wurde sie wegen «unvollständiger Abklärungen» gerichtlich gerügt, das Verfahren dauert weiter an.

«Viele Firmen nehmen ihre soziale Verantwortung kaum wahr.»

Julien Neruda, Inclusion Handicap (Dachverband der Behindertenorganisationen)

Reto Meile ist einer von vielen gut ausgebildeten Erwerbsfähigen, die wegen gesundheitlicher Beeinträchtigung keinen Job finden. Eine Evaluation des Bundes stellte diesen Sommer fest: «Es bestehen grosse Vorbehalte der Arbeitgeber, Menschen mit Behinderungen anzustellen.» Neben «Zweifeln an der Leistungsfähigkeit» bestünden «Berührungsängste», heisst es in dem Papier, das das Eidgenössische Departement des Innern in Auftrag gegeben hat.

An die Sozialwerke abschieben

Julien Neruda, Geschäftsleiter von Inclusion Handicap, dem Dachverband der Behindertenorganisationen, formuliert es drastischer: «Viele Firmen nehmen ihre soziale Verantwortung nicht wahr.» Statt Menschen mit Beeinträchtigungen im Arbeitsprozess zu halten oder ihnen den Einstieg zu ermöglichen, überliessen sie sie den Sozialwerken – von wo sie, wie Reto Meile, nicht mehr wegkämen.

«Zu viele Personen mit einer Behinderung erhalten keinen Zugang zum ersten Arbeitsmarkt, obwohl sie die nötigen Qualifikationen mitbringen», sagt Neruda. Tatsächlich sind laut Bundesamt für Statistik gut 72 Prozent der 16- bis 64-Jährigen mit einer Behinderung erwerbstätig. Bei Menschen ohne Behinderung sind es 85 Prozent.

Seit 2008 verstärkt die IV ihre Bemühungen, Arbeitnehmer mit Behinderungen in der Jobwelt zu halten. 2015 blieben über 20 000 beeinträchtigte Menschen dank einer Intervention der IV im Arbeitsmarkt oder kehrten dorthin zurück, seit 2012 gar rund 75 000 Personen. Neruda von Inclusion Handicap begegnet diesen Daten allerdings mit Skepsis. «Niemand prüft, ob diese Leute die Stelle ein Jahr später noch haben – oder ob sie in die Arbeitslosigkeit oder später gar in die Sozialhilfe abrutschen», sagt er.

Sind obligatorische Vorgaben für die Wirtschaft sinnvoll?

Neruda will daher die Wirtschaft stärker in die Pflicht nehmen. «Wir müssen über verbindliche Vorgaben sprechen, die grössere Betriebe verpflichten, Menschen mit Beeinträchtigungen zu unterstützen und zu beschäftigen.» In Deutschland etwa müssen Betriebe mit über 20 Beschäftigten 5 Prozent der Arbeitsplätze mit behinderten Arbeitnehmern besetzen – sonst wird eine Ausgleichsabgabe fällig.

In Betracht ziehen müsste man laut Neruda auch obligatorische Behindertenbeauftragte in den Firmen und Vorschriften zur Früherkennung. Konkrete Vorschläge will er an der Nationalen Konferenz zur Arbeitsmarktintegration von Menschen mit Behinderung präsentieren, die im Januar als erste von drei solchen Veranstaltungen stattfindet.

«Quoten für die Wirtschaft wären der falsche Weg.»

Martin Kaiser, Schweizer Arbeitgeberverband

Die Wirtschaft ist gegen obligatorische Vorgaben. «Quoten wären der falsche Weg», sagt Martin Kaiser, Ressortleiter Sozialpolitik beim Schweizer Arbeitgeberverband (SAV). In der Schweiz beschäftigen 90 Prozent der Arbeitgeber weniger als 15 Angestellte, da seien Quoten nicht praktikabel. Zudem sorgten sie für falsche Anreize: «Wir wollen erreichen, dass möglichst wenige Menschen überhaupt aus dem Erwerbsleben ausscheiden, statt sie irgendwo mit Zwang zu beschäftigen.»

Aus Sicht des SAV genügt es, die Firmen verstärkt zu sensibilisieren und zu unterstützen, etwa in der Früherkennung und im Umgang mit psychischen Erkrankungen. IV, Suva und Privatversicherer müssten zudem ihre Arbeit koordinieren. Genau diese Arbeit leiste bereits heute der unter dem SAV-Patronat stehende Verein Compasso, sagt Kaiser – ganz ohne staatlichen Zwang.

Mit fast 60 Jahren der Zusammenbruch

Dass es freiwillig geht, zeigt das Beispiel von Ueli Trinkl. Der heute 63-jährige Bodenleger erlitt Anfang 2012 einen psychischen Zusammenbruch. «Ich habe nur noch gezittert, ich war kraftlos, starrte die Wand an, stundenlang», sagt er. Vier Monate weilte er in einer psychiatrischen Klinik. Kehrte dann zurück in den Job, mit einem 50-Prozent-Pensum. Als der Eingliederungsberater der IV darauf bestand, auf ein 60-Prozent-Pensum zu erhöhen, klappte Trinkl erneut zusammen.

Doch Trinkls Vorgesetzter hielt zu seinem Bodenleger. «Er war vor seiner Erkrankung ein hervorragender Handwerker und wertvoller Mitarbeiter. Nach allem, was er für uns getan hat, sahen wir uns verpflichtet, auch etwas für ihn zu tun», sagt Daniel Bernhard, Geschäftsführer des Zürcher Familienbetriebs Bernhard Boden. 

«Der Job gibt meinem Leben einen Sinn.»

Ueli Trinkl, Bodenleger

Heute bezieht Trinkl eine halbe IV-Rente und arbeitet zu 25 Prozent bei Bernhard Boden. Für das KMU mit 20 Mitarbeitern ist das nicht immer einfach. «Der Markt ist hart, da ist nicht viel Platz für Soziales. Man kann nicht allen Kunden einen Handwerker zumuten, der mittags Feierabend machen muss», sagt Geschäftsführer Bernhard. Doch Trinkl sei ein «menschlicher Gewinn» für die Firma. Und er gebe Wissen an jüngere Angestellte weiter. Trinkl selber sagt: «Ich kann etwas leisten, auch wenn es nicht mehr viel ist – das gibt meinem Leben einen Sinn.»

Julien Neruda von Inclusion Handicap schätzt es, dass manche Firmen Angestellte mit Beeinträchtigungen nicht einfach auf die Strasse stellen. Er begrüsst auch jede Massnahme, die die Wirtschaft freiwillig ergreift. Aber: «Freiwillige Massnahmen führen kaum zum Erfolg. Die grosse Breite der Firmen ist dafür nicht empfänglich.

*Name geändert