«Raus, aber sofort!»
Vorgesetzte gebissen oder mit Schuh attackiert: Rechtfertigt das eine fristlose Kündigung?
aktualisiert am 24. Juli 2019 - 12:05 Uhr
Bei der Kündigung biss die Putzfrau zu. In den Unterarm der Chefin – so stark, dass der Abdruck noch einige Zeit sichtbar blieb. Dann verliess die schäumende Angestellte den Tatort in einer Bündner Klinik. Was war geschehen?
Die Vorgesetzte war mit der Reinigungskraft länger nicht mehr zufrieden gewesen. Sie eröffnete ihr die Kündigung – wegen mangelhafter Leistungen und Mühe, Weisungen zu befolgen.
Als die Putzfrau sich weigerte, den Empfang der Kündigung mit ihrer Unterschrift zu bestätigen, übergab ihr die Chefin eine Kopie des Briefs. Kurz darauf besann sie sich aber anders und forderte das Schreiben zurück.
Darauf kam es – so die Gerichtsakten – zu einer «lautstarken und handgreiflichen Auseinandersetzung», Beissattacke inbegriffen. Die Angestellte wurde umgehend fristlos entlassen.
Oft braucht es wenig, um einen blauen Expressbrief zu rechtfertigen: «Sie können mich langsam …», rief eine Spitalsekretärin ihrer Chefin zu. Laut Bundesgericht war die fristlose Entlassung ohne Verwarnung zulässig. Die Frau habe ihre Vorgesetzte vor Untergebenen und Kunden beschimpft und ihre Autorität untergraben. Eine weitere Zusammenarbeit war nicht zumutbar.
Zum gleichen Schluss kamen die obersten Richter im Fall eines Vorarbeiters auf dem Bau. Er hatte seinen Chef vor der gesamten Belegschaft als «geldgieriges Arschloch» bezeichnet (siehe Bundesgerichtsentscheide).
Tätlichkeiten und das Beschimpfen von Vorgesetzten sind in der Regel Gründe für eine fristlose Entlassung. Da mag es erstaunen, dass die Richter die Bisse der erwähnten Putzfrau eher milde beurteilten. Es liege zwar eine schwere Persönlichkeitsverletzung vor. Aber: Die Chefin habe die Putzfrau «ohne sachlichen Grund dazu gedrängt», die Kopie des Kündigungsschreibens wieder herzugeben. Sie hätte merken müssen, dass die Mitarbeiterin «massive Stresssymptome» zeigte. Zudem habe sie die aufgebrachte Frau an der Schulter berührt, so dass diese glaubte, man wolle ihr den Brief mit Gewalt entreissen.
Die fristlose Entlassung war ohne vorherige Verwarnung nicht zulässig. Die Klinik musste der Frau den Lohn für die ordentliche Kündigungsfrist zahlen. Weil die Putzfrau aber klar überreagiert hatte, war eine zusätzliche Entschädigung wegen ungerechtfertigter fristloser Entlassung nicht geschuldet.
Soll man also den Chef lieber beissen als beschimpfen? Spass beiseite – die Beispiele zeigen, dass die Gerichte je nach Situation differenziert urteilen. Bei den genannten Beschimpfungen war entscheidend, dass sie in der Öffentlichkeit stattfanden. Die Bisse der Putzfrau hatten zwar auch andere Mitarbeiter mitbekommen. Doch daran sei die Chefin schuld, befand das Bundesgericht. Sie hatte die Auseinandersetzung um den Brief im Gang entfacht, statt die Mitarbeiterin in ein Büro zu rufen.
In der Schweiz können Arbeitsverträge beiderseitig zu jeder Zeit aufgelöst werden. Einen Grund für die Kündigung braucht es nicht, doch es gibt Ausnahmen. Beobachter-Mitglieder erfahren, welche das sind, ob sie rechtlich gesehen unter Kündigungsschutz stehen und wie sie mittels einer Briefvorlage schriftlich gegen eine fristlose Entlassung protestieren können.
Die Rechtsprechung zeigt auch, dass die Verwendung des A-Wortes nicht immer ausreicht für einen «Fristlosen». Zum Beispiel bei einem Angestellten, der wegen einer solchen Beschimpfung des Vorgesetzten zunächst schriftlich gemahnt und am nächsten Tag fristlos entlassen wurde. So gehe das nicht , befanden die Richter. Ein Arbeitgeber, der mit einem blossen Verweis reagiert, kann nicht später aus denselben Gründen eine fristlose Entlassung aussprechen. Abmahnung heisst ja, dass man dem Angestellten noch eine Chance gibt. Um eine fristlose Entlassung zu rechtfertigen, müsste es daher zu einem erneuten Vorfall kommen.
Die Gerichte prüfen immer auch die Vorgeschichte eines Konflikts. Laut Bundesgericht kann etwa die schwere Beschimpfung des Chefs eine sofortige Entlassung nicht rechtfertigen, wenn er durch sein Verhalten dazu beigetragen hat, «dass eine Situation erhöhter Spannung entstand, welche sich im fraglichen Kraftausdruck entlud». Denn Arbeitgeber haben eine gesetzliche Fürsorgepflicht. Sie müssen bei Konflikten Massnahmen zur Schlichtung ergreifen. Wenn sie das nicht tun, sind sie zumindest mitschuldig.
So war es auch bei einem Kellner. Weil man ihm gewünschte Ferien verweigerte , zerschlug er Geschirr und ging auf die Frau des Chefs los, so dass sie zu Boden fiel. Seine fristlose Entlassung war trotzdem nicht rechtens. Denn die Richter hielten fest, dass das Ausrasten des Kellners auf monatelanges Mobbing zurückzuführen sei.
Keine mildernden Umstände gab es hingegen für ein schwangeres Zimmermädchen. Es versuchte, die Chefin mit einem Schuh zu schlagen – Kolleginnen verhinderten das. Später schüttete die Frau der Vorgesetzten ein Glas Wasser ins Gesicht. Die Angestellte war zuvor wegen respektlosen Verhaltens gegenüber einer Kollegin schriftlich verwarnt worden. Die Entlassung wurde höchstrichterlich abgesegnet.
In Zeiten von Social Media braucht es bei Knatsch mit dem Chef keine direkte Konfrontation mehr. Das mag eine Waadtländer Betreibungsbeamtin gedacht haben, als sie ein Video auf Facebook stellte, in dem die Mitarbeitenden über einen Vorgesetzten und das Rauchverbot in der Cafeteria lästerten.
Die Frau hatte zudem bei der Zeiterfassung geschummelt. Das allein hätte für eine fristlose Entlassung wohl nicht genügt, so die Richter. Zusammen mit dem abschätzigen Video erscheine die Entlassung aber auch nach 15 Dienstjahren nicht als willkürlich.
Wenn Sie der Meinung sind, dass Sie zu Unrecht fristlos entlassen wurden, sollten Sie umgehend mit einem eingeschriebenen Brief an den Arbeitgeber gegen die Entlassung protestieren, zum Beispiel mit dem Musterbrief «Protest gegen fristlose Entlassung». Lenkt dieser nicht ein, können Sie gegen ihn klagen.
Sollte sich in einem Gerichtsverfahren herausstellen, dass die Kündigung ungerechtfertigt war, haben Sie Anspruch auf den Lohn für die Kündigungsfrist, die bei einer ordentlichen Kündigung gegolten hätte. Zusätzlich kann der Richter den Arbeitgeber verpflichten, Ihnen eine Entschädigung von maximal sechs Monatslöhnen zu bezahlen. Die Höhe der Entschädigung hängt von den Umständen ab: Dauer des Arbeitsverhältnisses, Vorgeschichte der Entlassung, Auswirkungen et cetera spielen eine Rolle.
Eine fristlose Entlassung ist nur bei besonders schweren Verfehlungen gerechtfertigt, wenn eine weitere Zusammenarbeit nicht mehr zumutbar ist. Bei weniger gravierenden Verfehlungen muss zunächst verwarnt werden. Wann eine fristlose Entlassung gerechtfertigt ist, hängt vom Einzelfall ab. Es ist Sache des Gerichts, das zu beurteilen.
Gegen eine ungerechtfertigte fristlose Entlassung sollte man umgehend protestieren. Falls eine Einigung mit dem Arbeitgeber nicht möglich ist, kann man vor Gericht den Lohn für die ordentliche Kündigungsfrist einklagen – plus eine Entschädigung von maximal sechs Monatslöhnen. Diese legt das Gericht nach Ermessen fest.
Eine Angestellte tauschte sich mit einer Arbeitskollegin in despektierlicher Weise über den Geschäftsführer aus, ihren direkten Vorgesetzten. Dazu nutzte sie Whatsapp, das sie auf einem Geschäftshandy installiert hatte. Bei einer Revision sichtete die Firma das Chatprotokoll und entliess die Frau darauf gestützt fristlos. Nicht gerechtfertigt, sagt nun das Zürcher Obergericht. Die Nachrichten seien privat gewesen: «Der Schutz der Geheimsphäre geht einer allfälligen Überprüfung der Loyalität vor.» Die Frau erhält den Lohn für die Kündigungsfrist und eine Genugtuung.