Munros, Whisky und Magie
In Schottland gibt es vielleicht nicht so viel Sonne – dafür aber das schönste Licht und immer mal wieder eine gute Geschichte. Über magische Momente beim Wandern und unvergessliche Begegnungen bei einem «wee dram of whisky».
Rachel MacNeill hat sich den Daumen eingeklemmt: Eine fiese Bö knallte die Autotür zu, dumm gelaufen, dass da noch der Finger dazwischen war, aye? Doch sie lässt sich nichts anmerken und hebelt mit dem Spezialmesser die fangfrischen Austern auf. Schottische Gastfreundschaft kennt keinen Schmerz.
Wir sitzen am Strand, blinzeln in die Sonne und lassen uns die Meeresbrise um die Nase wehen. «Bei uns isst man Austern mit Whisky», erklärt MacNeill, fischt eine Flasche besten Bruichladdich aus ihrem Picknickkorb, tröpfelt den goldenen, zart nach Gerste und Caramel duftenden Whisky über die Austern. Wir nehmen uns eine der Delikatessen, verschlucken uns am Whisky, lachen übermütig und wissen: Das ist einer dieser vom Glück geküssten Augenblicke, von denen man noch Jahrzehnte später erzählen wird.
Unsere Reise begann jedoch typisch schottisch, und es ist unumgänglich, dass dabei ein typisch schottisches Wort eingeführt wird: «dreich». Als wir auf dem 626 Meter hohen Bealach na Bà – gälisch für Viehpass – stehen, haben wir einen «dreich day» erwischt, einen furchtbaren Tag. Der Wind fegt uns fast von den Beinen, der landestypische Sprühregen scheint von überall zu kommen, sogar von unten, und macht aus der hochgebirgsgeprüften in Goretex gehüllten Wanderin innert fünf Minuten eine nasse. Die Aussicht auf die Isle of Skye, auf trutzige Felswände und die abenteuerlichen Serpentinen der Passstrasse: Fehlanzeige in Grau. Willkommen in Schottland!
Schottland für die Sinne
Unsere Leserreise führt Sie vom Samstag, 13. bis Sonntag, 21. August 2022 während neun Tagen von Edinburgh auf die Isle of Skye, durch die Whiskyregion Speyside an die Ostküste und zurück in die schottische Hauptstadt.
Alle Informationen inkl. Anmeldeformular finden Sie hier: Beobachter-Leserreise 2022
P.S.: Sie können sich auch per E-Mail anmelden.
Wandern in den Highlands ist nichts für Weicheier. Im Halbstundentakt prallen die Wetterfronten ungebremst vom Atlantik auf das Festland, und wer sich ohne Regenschutz ins Freie begibt, ist ein hoffnungsloser Optimist, eher ein Idiot. Doch wenn dann das Sonnenlicht zwischen den Wolken hervorbricht, wenn die Landschaft statt braun und grau plötzlich golden und spektakulär konturiert wird, sind nasse Hosen schnell vergessen. Ebenso die Myriaden von Midges, Mini-Mücken, die im Heidekraut lauern und blutrünstig sind wie die schottischen Altvorderen. Der federnde, moorige Boden ist wunderbar gelenkschonend und beschwingt den Schritt; dass er manchmal nachgibt und man einen Schuh voll Wasser herauszieht, seis drum!
«Freedom an’ whisky gang thegither – Freiheit und Whisky gehören zusammen.»
Robert Burns, schottischer Nationaldichter (1759-1796)
Die Abenteuerlust hat einen grad auf einen Gipfel geführt und von da auf den nächsten und, weils so schön war, auch auf den übernächsten. Ein paar vom Wetter schneeweiss gewaschene Schafe stieben davon. Es kann vorkommen, dass man nach einem steilen Aufstieg plötzlich mutterseelenallein auf einer Hochebene steht, die an die südafrikanischen Tafelberge erinnert. Oder dass die Hänge im Abendlicht aussehen, als seien sie von einem plissierten grünen Seidenfoulard in XL-Format bedeckt.
Kein Wunder, verliebt man sich in diese wilde Gegend, erliegt der Magie der Highlands. Und sollte der Walk on the Wild Side doch durchfroren und nass enden, hilft die schottische Allzweckwaffe für jede Lebens- und Wetterlage: Whisky.
«Freedom an’ whisky gang thegither – Freiheit und Whisky gehören zusammen», schrieb der schottische Nationaldichter Robert Burns (1759–1796) und protestierte damit gegen die hohen Abgaben, die London auf Whisky erhob und zum Ärger vieler bis heute erhebt. «Uisge beatha», gälisch für «Wasser des Lebens», gehört zur schottischen DNA wie die Highlands, der Kilt oder das Castle von Edinburgh. Whisky ist so politisch wie der Brexit (der in Schottland hochkant abgelehnt wurde), und ein einziger Schluck eröffnet ein Aromenspektrum, das seinesgleichen sucht.
Auch wir wollen mehr über das schottische Nationalgetränk erfahren und reisen dazu nach Glasgow. Vorbei am Städtchen Fort William mit dem Touristenmagneten Ben Nevis, dem mit 1345 Metern höchsten Berg Schottlands, schlängelt sich die Strasse entlang von moorig-braunen Flüssen, Lochs und durch malerische Täler wie das Glen Coe.
Die imposante Bergkette der Five Sisters of Kintail erstrahlt plötzlich im Sonnenlicht, und der Himmel ist so blau, als könnte nie ein Wölkchen das Postkartenidyll mit seiner Anwesenheit beleidigen. Nun wagen sich auch die Touristen aus den Autos, und manch einer versucht sich am schottischen Volkssport: Munro-Bagging. Als Munros gelten in Schottland alle Berge, die höher als 3000 Fuss oder 914,4 Meter sind. Wer alle 282 Munros bestiegen hat, darf sich Munroist nennen und erhält einen Eintrag im Register des honorablen Scottish Mountaineering Club.
Mit den letzten Sonnenstrahlen verlassen wir die Highlands und tauchen ein in die Grossstadt Glasgow. Im «Pot Still»-Pub heisst uns Manager Callum Henderson, 29, in breitem Glasgower Dialekt willkommen. Sein Singsang ist hübsch, aber mehr als «Hallo» verstehen wir nicht. Dafür versteht er umso mehr von Whisky, für den der gemütliche Pub landesweit berühmt ist. Er verschwindet kurz und kehrt mit drei Flaschen Single Malt zurück. «Ich würde dir einen rauchigen, kräftigen Schluck empfehlen», setzt er an, «etwa diesen 21-Jährigen von Lagavulin, die Distillers Edition, aye.» Eine Kaskade von Daten und Geschmacksmerkmalen folgt, ich folge seiner Empfehlung und erfreue mich an den leicht medizinisch-rauchigen Aromen und dem sanften Sherryfinish. Bald glimmt ein wärmendes Feuerchen im Bauch, sortiert die Prioritäten, lässt nasses Wetter vergessen und schöne Erinnerungen hochleben.
Die Lagavulin-Destillerie befindet sich auf der Hebrideninsel Islay – und da wollen wir nun hin. Das kleine Eiland im Westen von Glasgow ist die Whisky-Destination Schottlands. Neun Destillerien brennen einen Whisky, der so berühmt ist wie rau und rauchig. Hier treffen wir Rachel MacNeill, 49, die uns mit ihrer kulinarischen Mariage von Austern und Whisky so entzückt hat. Sie bietet als Ein-Frau-Unternehmen Whiskytouren und -seminare an, ist eine engagierte Kämpferin für die Unabhängigkeit Schottlands und eine begnadete Geschichtenerzählerin. Dass sie jeden Touristen unter den Tisch saufen kann, ist mehr als nur eine Legende.
«Warum damit warten, bis man auf einem Gipfel steht?»
Rachel MacNeill, Geschichtenerzählerin und Whiskyexpertin
MacNeill erwartet uns in Wanderschuhen und mit einem riesigen Picknickkorb für eine gemütliche Küstenwanderung entlang der einsamen Strände von Islay. Bevor wir starten, gibt es den ersten Whisky. Als ich ihr von der Tradition des Gipfelweins in der Schweiz erzähle, lacht sie. «Warum damit warten, bis man auf einem Gipfel steht?»
Aus aller Welt strömen die Fans hierher, neugierig auf den Ort, an dem der Whisky gemacht wird, den sie so lieben. Neugierig? Nein, es sind veritable Pilgerreisen, ehrfürchtig streifen sie durch die Produktionsstätten, andächtig degustieren sie die alten und neuen Editionen. Wir besuchen die Bruichladdich-Destillerie im Dorf Bruichladdich, eine der innovativsten der Insel. Hier wird unter anderem der berühmte Octomore gebrannt, der Whisky mit dem weltweit höchsten Phenolgehalt. Phenole entstehen beim Verbrennen des Torfs, in dessen Rauch die gekeimte Gerste getrocknet wird, und sie geben dem Whisky ein rauchiges Aroma.
Stillman Graham Hayes, 48, führt die Aufsicht über die vier Brennblasen, Pot-Stills genannt, in denen grad der neuste Octomore gebrannt wird. «Komm mal her», ruft er. «Willst du vom New Make versuchen?» Der «Neugemachte» kommt direkt aus der Destille, hat etwa 75 Volumenprozent Alkohol, treibt die Tränen in die Augen und verätzt einem fast die Kehle. Doch welche Ehre! Ich schiesse ein Selfie und teile es mit meinen Whiskyfreunden, sollen sie grün werden vor Neid. Dann tupfe ich mir diskret die Augen und bedanke mich adäquat überschwänglich bei Graham Hayes.
Nach der Krise in den Neunzigern boomt die Whiskyindustrie heute wie nie. Man will sich mit Qualität abheben: Immer mehr wird mit Biogerste aus der Region experimentiert, Terroir ist das Gebot der Stunde. Denn Boden, Lage und Mikroklima sorgen dafür, dass die Startbedingungen jedes Whiskys einzigartig sind – Connaisseurs erkennen, ob ein Single Malt von den Highlands, Lowlands, der Speyside oder den Isles ist.
«A wee dram of whisky», so nennt man hier ein Gläschen Whisky, ist wie ein Fingerabdruck der Region, aus der er kommt. Auf der ganzen Insel gibt es wogende Gerstenfelder mit Schildchen: «Hier wächst Gerste für Bruichladdich.»
Christy McFarlane, 26, ist ein Islay-Girl, aufgewachsen in einer Fischerfamilie im Dörfchen Ardbeg. Mit Whisky hatte keiner was am Hut, nur der Grossvater trank abends mal einen «wee dram» – für die Gesundheit. Doch Christy schlägt aus der Familie. «Ich liebe Whisky , schon immer», sagt sie. Die Marketingfachfrau arbeitet für Bruichladdich, wo wie so oft noch immer Männer die Schlüsselpositionen besetzen.
Doch das dürfte sich ändern: Die Vereinigung Women in Whisky ist zu einem beträchtlichen Business-Netzwerk geworden, Frauen wie MacNeill und McFarlane sei Dank. Eines ihrer Anliegen: Whisky nicht nur auf die teilweise absurden Verkostungsnotizen reduzieren – verströmt einen Hauch von gut gefettetem Sattelleder, echt jetzt –, sie wollen Geschichten erzählen, vom Whisky, vom Land und von den Menschen, die ihn machen. Storytelling nennt sich das, eine schöne schottische Tradition. Die Welt kann ein paar gute Geschichten brauchen. Slàinte mhath – zum Wohl!
Nicht zu verwechseln mit Whiskey, der aus Irland oder den USA stammt.
Single Malt Scotch Whisky wird aus Wasser, gemälzter Gerste und Hefe hergestellt und darf nur aus einer einzigen Brennerei stammen (im Gegensatz zum Blend, einer Mischung von Whiskys aus verschiedenen Destillerien).
Er hat mindestens 40 Volumenprozent Alkohol und wird zweifach destilliert.
Gelagert wird der Whisky in gebrauchten und oft inwendig leicht angebrannten («toasted») Holzfässern – das können Sherry- oder Bourbonfässer sein, aber auch Sauternes- oder Bierfässer.
Die Lagerdauer beträgt mindestens drei, meistens aber zehn Jahre und mehr, während der jährlich ein bis zwei Prozent des Whiskys aus den Fässern verdunstet: als «angels’ share», Anteil der Engel.