Wer der Treppe bis ans Ende folgt, fällt aus der Zeit und landet im Mittelalter. In einem ruhigen Raum unter dem Dach des Einsiedler Klosters. Von der Decke baumeln Laternen, im Kamin züngeln künstliche Flammen. Am Fenster sitzt ein Mönch in schwarzer Kutte und beobachtet, wie Passanten durch den frischen Schnee stapfen.

«Ich bin gern hier oben. Man hat einen wunderbaren Blick auf die Welt», sagt Pater Thomas Fässler. Lange war das Zimmer teils Lagerort, teils Informatikraum des Klostergymnasiums. Seit einem Jahr dient es als Skriptorium.

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Im frühen Mittelalter hatte fast jedes Kloster eine Schreibstube – ein Skriptorium –, wo Texte handschriftlich kopiert wurden. Von Nonnen und Mönchen für Adelige oder die Kirche. Bis ins 15. Jahrhundert, als Johannes Gutenberg den modernen Buchdruck erfand. Erst verstaubten die Skriptorien, dann verschwanden sie. Und kommen jetzt zurück – zumindest nach Einsiedeln. Da soll die Schreibstube einen Blick in die Vergangenheit ermöglichen. Wie entstand ein Buch? Mit welchen Hilfsmitteln? Und wie fühlt sich das Schreiben mit Feder und Tinte an?

Das Angebot trifft einen Nerv der Zeit. Die Handschrift kehrt zurück – und behauptet sich tapfer gegen die Digitalisierung. Der Brief musste der E-Mail weichen, die Geburtstagskarte der SMS, das Schulheft dem Laptop. Obwohl das den Alltag vereinfacht, sind viele nostalgisch: «Das Schreiben von Hand hat etwas Beruhigendes, fast Meditatives», sagt Pater Thomas. Der promovierte Historiker hatte die Idee zum Skriptorium, erarbeitete mit ehrenamtlichen Helfern das Konzept, begleitete den Umbau des Raums.

Die Nachfrage habe seit der Eröffnung im Mai 2022 schnell zugenommen. So stark, dass er – in erster Linie Lehrer und Seelsorger an der Schule – Unterstützung brauchte.

«Bücherfreaks» unter sich

An diesem Januartag übernimmt Rita Kälin, eine pensionierte Primarlehrerin. Sie führt 16 Kursteilnehmerinnen von der Barockbibliothek ins Skriptorium. Die Frauen stammen aus allen Ecken der Schweiz und haben sich gerade erst persönlich kennengelernt. Online tauschen sich die Mitglieder des Book Circle von Orell Füssli schon länger aus. Den Ausflug nach Einsiedeln organisierte Schwester Maria-Amadea vom Kloster Heiligkreuz/Cham. Sie habe sofort an die «Bücherfreaks» gedacht, als sie vom Skriptorium gelesen habe.

Schwester Maria-Amadea

Den Ausflug nach Einsiedeln organisierte Schwester Maria-Amadea vom Kloster Heiligkreuz/Cham.

Quelle: Hanna Jaray

Die Gruppe versammelt sich vor dem Kamin, auf dem gläserne Karaffen und bauchige Apothekerfläschchen stehen. Sie enthalten Gewürze, Wurzeln und Beeren, weisse Kristalle und farbige Pulver. «Bücher wurden früher reich verziert; mit Zeichnungen und Lettern. Klöster brauchten intensive Handelsbeziehungen, um an Farben zu kommen», erzählt Rita Kälin. An Braunkohle aus Sachsen, Veronesergrün aus Italien, Ocker aus Frankreich und Lapislazuli aus Afghanistan.

Skriptorium Kloster Einsiedeln

Gläserne Karaffen und bauchige Apothekerfläschchen enthalten Gewürze, Wurzeln und Beeren, weisse Kristalle und farbige Pulver.

Quelle: Hanna Jaray

Rot aus gekochten Läusen

Die 64-Jährige nimmt ein Fläschchen in die Hand und schüttelt es leicht. Grauviolette Klümpchen purzeln durcheinander. «Schildläuse (weiblich)» steht auf der Etikette. Die unscheinbaren Schädlinge befielen schon bei den Azteken Feigenkakteen und wurden kurzerhand verarbeitet. «Wenn man sie einkocht, entsteht ein dunkles Rot: Karmin», sagt Kälin. Spanische Seefahrer brachten den Farbstoff nach Europa und bauten eigene Plantagen auf. Auf den Kanarischen Inseln gibt es solche noch immer – aus dem Karmin erhalten Kleider, Nagellack und Lippenstifte ihre Farbe.

Im nächsten Fläschchen liegen geschwungene Schneckenhäuschen. Aus der Drüse der Purpurschnecken wurde ein anderes Rot gewonnen. «Für ein einziges Gramm mussten 10'000 Tiere sterben. Das war aufwendig und teuer», erklärt Rita Kälin. Und der Grund, weshalb Purpur heute fast nur noch chemisch hergestellt wird.

Skriptorium Kloster Einsiedeln

Schreibversuche mit Walnusstinte

Quelle: Hanna Jaray

Das Einsiedler Kloster setzt auf Walnusstinte. Die Frauen schnappen sich ein Fässchen, den Federkiel, ein Tuch für Kleckse. Ein Alphabet in einer römischen Schrift, an dem sie sich orientieren sollen. «Feder tunken, abstreifen, ausprobieren. Immer ziehen, nie stossen», weist Rita Kälin an. Die meisten versuchen sich am eigenen Namen. Ausser Céline, die schreibt «Anna». «Das ist einfacher», sagt die Elfjährige, die ihre Mutter begleitet. Sie habe schon Erfahrung mit Handlettering und werde zu Hause unterrichtet.

Das Handy in der Kutte

Die Hälfte der Workshops im Skriptorium besuchen inzwischen Schulklassen. Sie sind auch der Grund, weshalb die Schreibstube überhaupt entstanden ist. «Klassen kommen meist ins Kloster, wenn sie das Mittelalter behandeln. Das war früher ein wenig absurd», erinnert sich Pater Thomas. Denn das Kloster wurde zwar 934 gegründet, doch stammt die heutige Anlage aus dem Barock, der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. «Es gibt hier also nichts Mittelalterliches zu sehen. Zudem hatten wir kein Angebot spezifisch für Besucherinnen und Besucher im Primarschulalter.»

Pater Thomas Faessler im Skriptorium

«Das Schreiben von Hand hat etwas fast Meditatives»: Pater Thomas

Quelle: Hanna Jaray

Das sei nun anders. «Natürlich sind einzelne Kinder bei der geschichtlichen Einführung noch etwas abgelenkt.» Sobald es mit dem Schreiben losgehe, werde es aber still. «Dann sind auch die Ungeduldigen ganz vertieft.» Bei Erwachsenen sei der Effekt ähnlich: «Manche kommen skeptisch, zum Beispiel für einen Firmenevent, und wollen dann kaum noch gehen.»

Skriptorium Kloster Einsiedeln

Mönch «Heiri» schreibt seit dem 14. Jahrhundert mit Tinte.

Quelle: Hanna Jaray

Einer ist bis heute geblieben: Beim Eingang des Skriptoriums übt eine Gestalt in dunkler Kutte ihre Schönschrift. Mit weisser Haube und hochgezogener Kapuze. «Das ist Heiri», stellt Pater Thomas vor. Benannt nach Heinrich von Ligerz, der im 14. Jahrhundert als Schreiber im Kloster Einsiedeln lebte. Auf den ersten Blick wirkt die Mönchsfigur täuschend echt. «Manche denken wohl, dass wir noch heute so korrespondieren: unter dem Dach, mit Pergament und Tinte. Aber die Zeiten sind vorbei», sagt Pater Thomas und zieht sein Handy aus der Kutte. Auf Instagram wartet eine neue Nachricht.