Vor dem Klosterplatz zieht ein schwitzender Pilger die schweren Schuhe aus und macht ein Selfie. Ein schwarzer Car fährt vor, Touristen taumeln zu den Arkaden. Zu Kerzen, Karten, Kruzifixen. Es läuten die Glocken, es brutzeln die Bratwürste.

Das Einsiedler Kloster ist der grösste Schweizer Wallfahrtsort, ein wichtiger Stopp am Jakobsweg, ein Mekka für Katholische. Rund eine Million Menschen zieht es jährlich an. «Aus touristischer Perspektive hat es einen ähnlichen Stellenwert wie das Matterhorn in Zermatt oder der Eiffelturm in Paris», heisst es beim Tourismusverband.

Es gibt aber auch ein Einsiedeln jenseits des Klosters. Und da prallen zwei Welten aufeinander: Tradition und Moderne. Keine 100 Meter vom Bahnhof entfernt hängt Jesus am Kreuz, gleich gegenüber gibts Tattoos und Piercings. Die Hauptstrasse hoch prangt ein Heiliger an der Hauswand – zwischen Fast Fashion, «New China» und «Kebab-Hüsli». Auf den Strassen ist die Religion noch stark präsent. Aber wie sieht es in den Köpfen aus?

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10'000 Einsiedlerinnen und Einsiedler leben im «Dorf», rund 16'000 sind es im Bezirk. Vor 50 Jahren waren 96 Prozent von ihnen römisch-katholisch. Im Jahr 2000 waren es 80, heute sind es noch 63 Prozent. Ein Bruchteil besucht Gottesdienste, die Kirchen leeren sich von Jahr zu Jahr. Kann der Glaube im Klosterdorf überleben?

Frau mit Ballonen posiert auf der Klostertreppe in Einsiedeln
Quelle: Hanna Jaray

Buben spielten Mädchen

Fast lautlos schreitet Pater Lorenz durch die weissen Gänge; vom Hals abwärts ganz in Schwarz getunkt. Vorbei an schweren Türen, alten Gemälden, grüssenden Mönchen. Erst im Stiftsgymnasium ist es aus mit der Stille – schwatzende Schülerinnen und Schüler strömen auf den Gang. Ein Mädchen fährt Trottinett, der Pater drückt ein Auge zu. Im langen Korridor hängen historische Schwarz-weissfotografien. Ein Bild aus dem Jahr 1931 zeigt Buben beim Theaterspiel – mit Schürzen und langen Zöpfen. «Zum Glück hatten sie noch keinen Stimmbruch», sagt der 80-Jährige und lächelt kaum merklich. Mädchen wurden erst 40 Jahre später an der Schule zugelassen.

Was hat sich in seinen 60 Klosterjahren sonst noch geändert? «Gottesdienste halten wir mehrheitlich nicht mehr auf Latein, das Chorgebet wurde verkürzt.» Von aussen wirken solche Anpassungen klein, für das traditionsreiche Kloster waren sie gewichtig. Das Klosterleben müsse für die Mönche einigermassen angenehm sein, die Gottesdienste für die Leute zugänglich, erklärt Pater Lorenz. «Gewisse Veränderungen sind nötig, damit das so bleibt. Wir leben nicht von der Welt abgekapselt.»

Das Kloster blickt auf eine über tausendjährige Geschichte zurück, die mit dem heiligen Meinrad begann. Der Mönch zog sich in einen verlassenen Wald zurück und errichtete eine Kapelle. 26 Jahre lang führte er ein bescheidenes Leben und wurde dann von Räubern ermordet. 934 wurde am Ort des Martyriums das erste Kloster erbaut. Die enorme Anziehungskraft im Mittelalter hatte es der sogenannten Engelweihe zu verdanken: Der Legende nach soll Jesus die Kapelle geweiht haben. Die Urkunde, die als Beweisstück galt, erwies sich im 15. Jahrhundert zwar als gefälscht, der Papst sprach Einsiedeln aber dennoch Privilegien zu: Sündern wurde vergeben, wenn sie eine Pilgerreise an den Wallfahrtsort machten. Mit der Ausweitung des Eisenbahnnetzes wurde Einsiedeln Mitte des 19. Jahrhunderts endgültig zum Touristentempel. 30'000 Pilgernde pro Jahr strömten herbei.

Heute sind es zeitweise so viele, dass es in der Kirche eng wird. Vor Pfingsten sorgte das Kloster für Aufruhr, als es eine migrantische Community auslud. 10'000 bis 15'000 in der Schweiz lebende Portugiesinnen und Portugiesen wurden erwartet – so viele, dass die Sicherheit nicht gewährleistet werden konnte. Das Problem seien die fehlenden Notausgänge, so das Kloster. Man bat die Pilgernden, gestaffelt anzureisen. Für die kam das aber nicht in Frage.

Ausgestopfter Löwe im Kloster Einsiedeln

Ausgestopfter Löwe im Kloster Einsiedeln – er lebte im Keller des Klosters, mitgebracht von einem Missionar.

Quelle: Hanna Jaray

Pater Lorenz holt einen Schlüssel aus der Kutte und öffnet zwei blaue Türen, dahinter erscheint ein Raum ohne Fenster. Als er das Licht anknipst, begegnen ihm 100 Augenpaare. Hirsche, Steinböcke, Dachse, zwei Löwen. «Die lebten bei uns im Klosterkeller», erzählt er. Ein Missionar habe sie aus Ostafrika mitgebracht. «Die Tiere waren aber sehr viel lauter als die restlichen Klosterbewohner – und gefährlich! Deshalb gabs nach dem Tod auch keine neuen.» Manche Dinge gehören in die Vergangenheit, andere überdauern Jahrhunderte.

Muss ein Kloster mit der Zeit gehen? «Nichts ist in Stein gemeisselt, aber ein Kloster soll sich nicht verbiegen. Es muss seinen christlichen Grundwerten treu bleiben», sagt Pater Lorenz. Die Einsiedler Mönche seien Benediktiner – ihr Ziel ein Mittelweg, das Vermeiden von Extrempositionen. «Es wäre schön, wenn Leute von aussen unsere Lebensform als glaubhaft wahrnehmen und Verständnis dafür haben.» Und wenn das Interesse ausbleibt? «Dann ist das so», sagt Pater Lorenz. «Es ist nicht unsere Aufgabe, zu bekehren. Wir haben zwar klare Werte, zwingen sie aber niemandem auf.»

Der Kirche den Rücken gekehrt

Über 30'000 Leute in der Schweiz traten im Jahr 2020 aus der katholischen Kirche aus. Die Überlieferung des Glaubens nimmt von Generation zu Generation ab. Den theologischen Fakultäten fehlen Studierende, den Gemeinden Pfarrer. Nirgends auf der Welt hat das Christentum so viel an Bedeutung eingebüsst wie in Westeuropa. Das ergibt eine Untersuchung des US-Meinungsforschungsinstituts Pew Research Center. Rund 80 Prozent der Befragten wurden zwar christlich erzogen, aber nur 20 Prozent gehen noch zur Kirche. Zwei Drittel der Schweizer Christinnen und Christen sind zwar stolz auf ihren Glauben – im europäischen Vergleich ist das aber eine der niedrigsten Raten.

Hierzulande gehören die römisch-katholische Kirche und die evangelisch-reformierte Kirche zu den grössten Strömungen des Christentums. Beide verlieren kontinuierlich Gläubige. 1970 waren 47 Prozent katholisch, heute sind es noch 34. Bei der reformierten Kirche fiel der Anteil von 49 Prozent auf 22. Zugleich stieg die Zahl der Konfessionslosen von 1 Prozent auf 31.

Weniger Kirche, mehr Spiritualität

Gründe für den Bedeutungsverlust gibt es viele. Ein offensichtlicher ist, dass der soziale Druck weg ist. Wer sonntags nicht in der Kirche sitzt, wird weder geächtet, noch verliert er den Anschluss. Das Gemeinschaftsleben findet in Büros, Bars oder Vereinen statt. Alternativen fürs Wochenende sind endlos, die neue Religion heisst Erleben. Sport, Partys, Kurztrips. Freiheit im Hier und Jetzt; ohne Angst vor einem göttlichen Gericht nach dem Tod. Die katholische Kirche wirkt verstaubt. Noch immer beharrt sie auf dem Zölibat und akzeptiert keine Pfarrerinnen. Hinzu kommen Fälle von Kindsmissbrauch und Vertuschung, eine gründliche Aufarbeitung blieb oft aus.

«Das schwindende Vertrauen in die Kirche als Institution bedeutet aber nicht, dass auch der Glaube verschwindet», sagt Nicola Ottiger, Theologin und Leiterin des Ökumenischen Instituts Luzern. Im Gegenteil: Studien zeigen eine Zunahme der Religiosität. «Spirituelle Fragen beschäftigen noch immer stark. Die Sinnsuche ist aber individueller geworden. Leute wollen sich nichts mehr von Autoritäten vorschreiben lassen und suchen kaum mehr die Gemeinschaft.» Stattdessen kaufen sie Bücher, machen Yoga-Retreats, meditieren mit Apps. Von der neuen Spiritualität profitieren pseudoreligiöse Trittbrettfahrer wie Sekten und Esoterik.

Ist die katholische Kirche überhaupt noch gefragt? Nicola Ottiger ist zuversichtlich. Es brauche aber ein Umdenken: «Die Botschaft bleibt. Glaube muss sich aber immer mit der Vernunft auseinandersetzen: Was ist heute noch angebracht?» Die Kirche dürfe sich nicht verweigern, kein elitärer Zirkel sein.

Weihwasser vor der Tür

Fünf Minuten vom Kloster arbeitet der Architekt und Designer Hanspeter Kälin in einem Co-Working-Space. An der Wand hängt eine Vitrine mit kuriosen Schreibstiften aus aller Welt: in Form von Rasierern, Zahnbürsten und Früchten. Der 70-Jährige hat die Welt bereist und ist stets nach Einsiedeln zurückgekehrt. Sein ganzes Leben war er mit dem Kloster verbunden: als Ministrant, zwölf Jahre als Klosterarchitekt.

«Das Verhältnis zwischen Kirche und Dorf ist lockerer geworden», sagt der Einsiedler, den alle nur James nennen. Früher habe Religion zum Alltag gehört. «Bis in die Siebzigerjahre wurden Verstorbene drei Tage lang in der Stube aufgebahrt. Alle kamen zum Abschied vorbei, vor der Haustür stand Weihwasser.» An Fronleichnam schmückte man das ganze Dorf, zog von Altar zu Altar. Trotzdem sei immer klar gewesen: Oben ist das Kloster, unten das Dorf. In der Mitte liegt eine Zwischenwelt: der Klosterplatz.

Nur der Petersdom hat in Europa einen grösseren Kirchenvorplatz. Der in Einsiedeln dafür eine eigene Website. «Auf dem Klosterplatz treffen sich Kloster und Dorf, hier liegt Gemeinsames», heisst es da. Immer wieder kam es im Verlauf der Geschichte zu Rechtsstreitigkeiten zwischen Dorf und Kloster – heute kommt man in der Mitte zusammen. Da trinken Pilgernde von jeder der 14 Röhren am Marienbrunnen, da findet der Weihnachtsmarkt statt, da spielt das Welttheater.

Der Marienbrunnen auf dem Einsiedler Klosterplatz

Der Marienbrunnen auf dem Einsiedler Klosterplatz: Pilgernde trinken aus den 14 Röhren.

Quelle: Hanna Jaray

Worauf sind Einsiedlerinnen und Einsiedler stolz? Es gibt in der Regel zwei Antworten: «s Chlouschter» und «s Wälttheater». Eine Abtei und ein Freiluftspiel – zwei grundverschiedene Dinge? Nicht ganz: Beide teilen den religiösen Kontext, die Wurzeln im Barock – und ihre Kritiker. Beide machen den Spagat zwischen Tradition und Moderne.

Das grosse Theater

Sommer 1924. Erschüttert von den Kriegsjahren, befand sich Einsiedeln in einer religiösen Aufbruchphase. Schon Jahre zuvor war die Idee entstanden, ein Theaterstück vor der barocken Klosterfassade aufzuführen. Die Wahl fiel auf ein geistliches Spiel: «El gran teatro del mundo» des Spaniers Pedro Calderón de la Barca. Im Stück ist das menschliche Leben ein Theater: Jeder Akteur übernimmt die Rolle, die ihm vom Schöpfer zugeteilt wurde. Nur wer seinen Part gut spielt, kann vor dem göttlichen Gericht bestehen.

Die Aufführung übertraf alle Erwartungen. Im darauffolgenden Jahr wurde sie wiederholt, danach wurde das Stück im Schnitt alle fünf Jahre aufgeführt – mit bis zu 600 Laiendarstellern aus der Region. 1970 kam es im Kontext der 68er-Bewegung aber zu einem Protest: Am Tag der Premiere forderte das «Theaterkollektiv Alternative» ein Überdenken. Eine gottgewollte Ordnung sei nicht mehr zeitgemäss, die Legitimierung der herrschenden Machtverhältnisse nicht angebracht. Elf Jahre lang wurde das Welttheater nicht aufgeführt. Als es 1981 zurückkehrte, hatte es erst grossen Erfolg. Danach wurde das Stück aber wieder traditioneller – das Publikumsinteresse schwand, eine neue Lösung musste her.

Dass die Tradition überlebte, ist zu grossen Teilen James Kälin zu verdanken. Der Architekt engagiert sich schon sein halbes Leben fürs Welttheater. Als Schauspieler, im Vorstand, als Präsident. Nach den schwierigen Jahren entwickelte er ein neues Konzept: Thomas Hürlimann, Schriftsteller und ehemaliger Klosterschüler, sollte ein zeitgemässes Drehbuch entwickeln. Und plötzlich spielte die Schwarze Madonna Handörgeli, und Jesus sprach schweizerdeutsch. Noch nie war das Medienecho derart gross – selbst international.

«Ultrakonservative Christen wehrten sich, das Kloster stand aber immer hinter uns», sagt Kälin. «Im Kern behandeln wir noch heute christliche Werte. Aber verständlicher. So, dass sie zum Denken anregen. Manchmal muss man sich von der Religion lösen, um sie den Menschen wieder näherzubringen.»

Szene aus dem Einsiedler Welttheater, 2007; rechts im Bild: Theaterpräsident James Kälin

Szene aus dem Einsiedler Welttheater, 2007; rechts im Bild: Theaterpräsident James Kälin.

Quelle: Alexandra Wey/Keystone

Die Kirche experimentiert

In der ganzen Schweiz suchen Kirchgemeinden nach neuen Modellen. Anfang Jahr startete das Bistum St. Gallen die Initiative «Churching»: Junge Erwachsene sollen die Zukunft der Kirche mitgestalten. Über Monate hinweg entwickeln sie moderne «Business-Ideen» und werden von den St. Galler Riklin-Brüdern, Konzeptkünstler und Kreativpioniere, gecoacht. Das Bistum Chur gründete kürzlich den ersten Jugendrat, der sich für die Anliegen der jungen Katholischen einsetzen soll. «Viele Kirchen experimentieren mit einer frischeren Sprache, neuen Liedern, Gottesdiensten an ungewöhnlichen Orten, an denen die Leute sich bewegen und leben: auf dem See, in der Stadt, auf Fussballfeldern», sagt Theologin Nicola Ottiger.

Aber ist es das, was Gläubige wollen? Kritiker sprechen von Pflästerlipolitik, finden Rettungsversuche anbiedernd. «Ich brauche keine Lichteffekte, Popmusik oder Party in der Kirche. Ich brauche eine Kirche, die ehrlich und im 21. Jahrhundert angekommen ist», schreibt eine Leserin der «Zeit». Die deutsche Zeitung fragte vor vier Jahren, was die Kirche attraktiver machen würde. Oft genannt wurden aktuellere Messen, geringere Kosten, gemeinschaftliche Aktivitäten ausserhalb des Gottesdienstes. Die Kirche müsse weniger steif und förmlich sein, dafür toleranter.

«Ein Patentrezept gibt es nicht. Aber es tut sich vieles, die Kirchen sind bemüht», sagt Nicola Ottiger. Was zählt, sei letztendlich eine lebensnahe Form der Glaubensvermittlung. Moderne in der Tradition.

Szene aus der Fotoprobe des Einsiedler Welttheaters, aufgenommen am Dienstag, 18. Juni 2013. Das Einsiedler Welttheater findet vom 21. Juni bis 7. September 2013 statt. (KEYSTONE/Alexandra Wey)

Provokativ: Szene aus dem Einsiedler Welttheater, 2013.

Quelle: Keystone

Der Pater macht Instagram

Kronleuchter, Porzellan, schwere Holzmöbel – im Kloster erinnern manche Räume an ein Museum. Pater Thomas, 37, sitzt in einem ruhigen Zimmer neben dem Frühstückssaal. Im Abteihof zwitschern Vögel, drinnen schlägt eine Standuhr. Um 5.30 Uhr traf er sich mit seinen Mitbrüdern zur Vigil, dem ersten Gebet. Um 7.15 Uhr folgten die Laudes, bis zum Mittagsgebet bleibt den Mönchen Zeit für die Arbeit. Im Fall von Pater Thomas: Geschichte und Latein am klostereigenen Gymnasium unterrichten, Seelsorge – und immer wieder mal ein neues Projekt.

«Der Abt schmunzelt manchmal, wenn ich mit einer Idee zu ihm komme.» Dazu gehört der Monkstrail, eine Schnitzeljagd über das Klostergelände. Oder die «Klosterzeit», bei der junge Männer einen mehrmonatigen Freiwilligendienst in verschiedenen Klöstern weltweit absolvieren. Daneben betreut er den Instagram-Kanal des Klosters. «Der ist Andockstation und Eisbrecher in einem, vor allem für Jüngere», sagt der Pater und zieht sein Smartphone aus der Kutte. Im Postfach: eine Frage zur Klosterfassade. Kommentare und Likes der über 7500 Follower. «Unsere Fotos zeigen, dass wir nicht den ganzen Tag im Dunkeln sitzen und beten», lacht er. Denn ja: Auch Mönche spielen mal Eishockey – in Kutte.

Die Männer wirken nahbar, menschlich, unkompliziert. Wieso überrascht das? «Viele konzentrieren sich auf Unterschiede und vergessen Gemeinsamkeiten», sagt Pater Thomas. Die gefühlte Distanz sei auch in den Idealen begründet, die die Kirche vermittelt. «Davon sind die Leute manchmal weit entfernt.»

Im Innern der Klosterkirche ist es still. Nur ein paar Münzen klimpern bei den Opferkerzen, ein paar Gläubige murmeln vor der Gnadenkapelle. Auf dem Weg zum Altar hallt jeder Schritt, zwischen den vordersten Bänken steht ein grosses Stativ. Seit Corona übertragen die Mönche ihre Gottesdienste per Livestream. Wie es weitergeht, ist noch unklar. «Es gibt ‹Defür› und ‹Dewider›», sagen sie. Menschen erreichen – leere Kirchenbänke.

Braucht es die Kirche noch? Die Leute im Dorf sind sich einig: Ohne Kloster gäbe es kein Einsiedeln. Sie mögen die Mönche, besuchen die Pferde im Klosterstall, trinken Kafi im Abteihof. Die Kirche habe sich geöffnet, sei bodenständig und authentisch. Ein Anfang.

«Der Glaube wird nicht aus dem Dorf verschwinden, solange gegenseitiges Interesse da ist», sagt James Kälin. Er sei kein eifriger Kirchgänger, habe seine persönliche Interpretation von Religion. Und trotzdem: «Das Kloster macht etwas mit mir. Ich bin tief beeindruckt von der Geschichte, Tradition und Architektur.» Bald wird der Architekt öfter über den Klosterplatz spazieren – die Vorbereitungen für das nächste Welttheater laufen. 2024 feiert es sein 100-Jahr-Jubiläum, bis dahin ist viel zu tun. «Vielleicht ist auch das moderne Religion: 600 Menschen opfern ihre Zeit, um gemeinsam etwas auf die Beine zu stellen. So was gibt es in vielen Städten vergleichbarer Grösse nicht mehr. Wir müssen Sorge dazu tragen.»

Auf dem Weg zum Bahnhof kreuzen sich ein Pater und ein Mädchen. Er in schwarzer Kutte, sie in Flipflops und Strohhut. Sie lächeln, nicken, grüssen sich.

Dieser Artikel ist Teil der Beobachter-Sonderausgabe «Hallo Helvetia».

Über die Beobachter-Sonderausgabe «Hallo Helvetia»

Zum 1. August widmen wir eine Beobachter-Ausgabe ganz der Schweiz: Unsere Redaktorinnen und Redaktoren sind für «Hallo Helvetia» zu Entdeckungsreisen ausgeschwärmt und zeigen ein facettenreiches Bild unseres Landes im Jahr 2022.

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