Dieses Buch bricht das Schweigen
Wohin wende ich mich, wenn ich sexualisierte Gewalt erfahren habe? Wer unterstützt mich, wenn ich unsicher bin, ob meine Grenze überschritten wurde? Diese und weitere Fragen beantwortet der Beobachter-Ratgeber «Ermutigt».
Agota Lavoyer und Sim Eggler zeigen auf, was Betroffene von sexualisierter Gewalt tun können und welche Unterstützungsangebote ihnen in der Schweiz offenstehen.
Beobachter: Was bedeutet sexualisierte Gewalt genau?
Agota Lavoyer und Sim Eggler: Wir definieren sexualisierte Gewalt breit als alle unerwünschten sexuellen Handlungen. Jede Form von sexualisierter Grenzüberschreitung ist sexualisierte Gewalt: zum Beispiel das Nachrufen auf der Strasse, taxierende Blicke, das Erhalten von unerwünschten sexuellen Texten und Bildern wie auch unerwünschte Annäherungsversuche und Berührungen bis hin zu aufgezwungenen sexualisierten Handlungen.
Woher weiss ich, wann eine Grenze überschritten wird?
Grundsätzlich gilt: Jede Person entscheidet, ob sich etwas als grenzüberschreitend oder gewaltvoll anfühlt. Gewalt beginnt nicht erst da, wo es für andere von aussen erkennbar scheint. Gleichzeitig ist es möglich, dass es den Blick und das Wissen anderer braucht, um selbst etwas als Gewalt einzuordnen und anzuerkennen: Sei es, weil wir es nicht wahrhaben wollen, weil wir uns daran gewöhnt haben oder weil eine Handlung gesellschaftlich verharmlost oder als «nicht so schlimm» abgetan wird.
«Wir möchten Betroffene sexualisierter Gewalt ermutigen, mit ihren Gewalterfahrungen nicht alleine zu bleiben.»
Agota Lavoyer und Sim Eggler
Warum habt Ihr dieses Buch geschrieben?
Weil es ein solches Buch für Betroffene bisher nicht gibt. Ein Buch, das aufzeigt, was sexualisierte Gewalt und deren Folgen sind und welche Möglichkeiten Betroffene haben. Wir möchten Betroffene sexualisierter Gewalt ermutigen, mit ihren Gewalterfahrungen nicht alleine zu bleiben, ihren Weg selbstbestimmt zu gehen und ihre Rechte einzufordern. Es gibt nicht den einen richtigen Weg, wenn jemand Gewalt erfahren hat. Jeder Mensch kann und muss für sich den eigenen passenden Weg finden. Dafür möchten wir Wissen und Informationen vermitteln und Ideen, Impulse und Methoden mitgeben. Wir möchten mit diesem Buch auch dazu beitragen, dass sexualisierte Gewalt enttabuisiert und entstigmatisiert wird, damit aus der Sprachlosigkeit ein Sprechen entstehen kann.
Was kann ich als Angehörige oder Freund eines Opfers oder einer Betroffenen tun?
Dieser Frage widmen wir ein Kapitel, denn wir alle kennen Betroffene sexualisierter Gewalt. Erst einmal ist es wichtig, dass wir uns bewusst sind, was wir als Unterstützerinnen und Unterstützer selbst brauchen und wo unsere eigenen Grenzen liegen. Wenn wir die Ressourcen haben, zu helfen, ist es wichtig, dass wir der betroffenen Person zugewandt und ohne Vorverurteilung begegnen. Unsere Aufgabe ist es, die Person ernst zu nehmen und ihr nicht die Schuld zu
geben. Denn die Verantwortung für die Gewalt liegt immer bei der gewaltausübenden Person, nie bei der betroffenen Person.