Wie sinnvoll sind Arztzeugnisse für Primarschüler?
Eine Primarschule im Kanton Baselland hat ihre Absenzenregelung verschärft. Doch sind Arztzeugnisse der richtige Weg, um Schulschwänzer unter Druck zu setzen?
Veröffentlicht am 17. April 2018 - 10:19 Uhr,
aktualisiert am 17. April 2018 - 10:11 Uhr
Wer wegen Krankheit länger fehlt, muss seinem Arbeitgeber ein Arztzeugnis vorweisen – in der Regel nach drei Tagen. Ähnliche Regelungen kennt man auch an den Primarschulen. Eine davon, in Hölstein BL, hat ihre vor kurzem verschärft. Neu müssen Eltern nach dem fünften versäumten Schultag ein Arztzeugnis für ihr Kind vorlegen. «Mehrere missbräuchliche Vorkommnisse» hätten dazu geführt, heisst es in einem Schreiben der Schule. Ferien waren eigenmächtig verlängert worden, immer häufiger hätten Schüler bei Prüfungen oder beim Sport gefehlt und darüber widersprüchliche Angaben gemacht.
Ermuntert zu diesem Schritt wurde die Hölsteiner Schule vom kantonalen Amt für Volksschulen. Es lässt den Schulen freie Hand im Umgang mit Absenzen, wies allerdings darauf hin, dass verschiedene Schulen bereits ab dem dritten Tag ein Arztzeugnis einfordern würden. Doch das schien selbst der Primarschule Hölstein zu früh – und stösst auch andernorts auf Unverständnis. «Und dann lassen Eltern ihre Kinder lieber wieder in die Schule, bevor sie gesund sind, um sich den Gang zum Arzt zu ersparen?», fragt Beobachter-Schulexpertin Corinne Strebel Schlatter.
Eine der Schulen, die die 3-Tage-Regelung festgelegt hat, ist die Primarschule im thurgauischen Bottighofen. Schulpräsident Michael Thurau relativiert auf Anfrage: «Wir haben sehr wenige Absenzen, die länger dauern. Und auch dann liegt es weiterhin im Ermessen der Schulleitung, ob sie ein Arztzeugnis verlangen will.» Das sei aber gar nicht nötig, weil die Eltern bei längeren Absenzen automatisch eines mitgeben würden.
Auch bei der Primarschule in Lufingen bei Winterthur gilt die 3-Tage-Bestimmung – noch. «Wir streichen sie ab kommendem Schuljahr wieder», sagt Schulleiter Stefan Roth. «Anwenden mussten wir sie nie. Die Eltern verhalten sich verständnisvoll und kooperativ.»
Dass die Arztzeugnisse für Primarschüler dennoch Umstände bereiten, bekräftigt Heidi Zinggeler Fuhrer. «Wir sehen uns in der Praxis immer wieder damit konfrontiert», sagt die Präsidentin des Berufsverbandes «Kinderärzte Schweiz». Auffällig sei, dass vor allem ausländische Eltern mit ihren Kindern den Kinderarzt für ein Arztzeugnis aufsuchen. «Sie haben Angst, dass man ihnen sonst nicht glaubt.»
Von der Abgabe eines Arztzeugnisses nach einer bestimmten Anzahl Tagen hält Zinggeler Fuhrer nichts. Gerade bei Kindern mache das keinen Sinn. «Am Ende ist es oft eine Pseudo-Übung, weil die Kinder bereits gesund in die Praxis kommen, der Kinderarzt nichts mehr Akutes feststellen kann und dennoch nachträglich ein Arztzeugnis ausstellen muss», kritisiert sie.
«Eine Ausnahme gibt es aber», sagt die Präsidentin von «Kinderärzte Schweiz». Wenn Kinder aus sozialen und psychischen Gründen regelmässig in der Schule fehlen. «Bei einem solchen Verdacht auf Absentismus erwarte ich, dass Kontakt mit den Eltern und dem Kinderarzt aufgenommen wird.» Nur so könne man dem Kind aufzeigen, dass es Grenzen gibt. Beobachter-Expertin Corinne Strebel Schlatter teilt diese Ansicht: «Der Druck des Arztzeugnisses kann auch die Eltern schützen. Wenn das Kind weiss, dass es zum Arzt muss und er nichts finden wird, wird es lieber von sich aus wieder in die Schule gehen.»
An der Primarschule in Hölstein BL war Schulabsentismus ebenfalls einer der Hauptgründe für die Verschärfung der Regelung. Wie auch das Verhalten der Eltern : «Wir nehmen generell wahr, dass Eltern das Fernbleiben vom Unterricht tolerieren», heisst es im Brief der Schule. Unterstützt wird diese Feststellung von Erziehungswissenschaftlerin Margit Stamm. Gerade bei der heutigen Elterngeneration sei die Hemmschwelle gegenüber Lehrern gesunken. «Viele Eltern haben den Eindruck, dass sie besser wüssten, wie man Schule geben sollte», sagte Stamm gegenüber SRF.
Eine wesentliche Rolle spielen allerdings auch Ängste, erklärt Elsbeth Freitag, Vizedirektorin des Schulpsychologischen Dienstes in St. Gallen. «Aus der Forschung wissen wir, dass bei Absentismus bei 80 Prozent Wahrscheinlichkeit Angst im Spiel ist: Schulangst, Versagensangst, Angst der Eltern, Angst des Kindes vor Ausgrenzung, Demütigung, Mobbing und vieles mehr», so Freitag. Das löse bei vielen Beteiligten Schamgefühle aus: Lehrer und Eltern fragen sich insgeheim, was sie falsch machen, und Kinder schämen sich für ihr Gefühl, im Unterricht nicht zu genügen.
Dass das Schulschwänzen nicht nur bei Jugendlichen ein Problem ist, sondern gar schon in der Primarschule angekommen ist, beunruhigt Experten. Denn wer schon dort regelmässig fehlt, könnte sich in der Oberstufe mit den Konsequenzen konfrontiert sehen und den Einstieg in die Berufswelt verpassen.
Beobachter-Mitglieder erfahren in der Checkliste «Rechtsmittel im Bereich Schule», welche Möglichkeiten ihnen offenstehen, wenn sie ein Gesuch, eine Einsprache oder eine Aufsichtsbeschwerde gegen einen Schulentscheid oder eine Lehrperson einreichen möchten.