Wenn Kinder einander fertigmachen
Schubsen, sticheln, ausgrenzen – Kinder, die von ihren Gspäändli gemobbt werden, leiden lange unter den Folgen. Schulsozialarbeiter können die Pein beenden.
aktualisiert am 18. November 2021 - 17:15 Uhr
Nicht jede Gemeinheit unter Kindern ist Mobbing, und Mobbing ist kein normaler Konflikt. Bei Konflikten wird um etwas Konkretes gestritten, bei Mobbing geht es um Macht. Weil bei einem Konflikt meistens nur wenige Kinder beteiligt sind, lässt er sich oft schnell lösen. Ausser er ist so gross, dass es den Kindern ohne Hilfe von Erwachsenen nicht gelingt, ihn aus der Welt zu schaffen.
Anders bei kleineren Konflikten. Sie können und sollen Kinder allein regeln . So lernen sie, sich zu behaupten und ein gutes Selbstvertrauen aufzubauen. Das kann vor Mobbing schützen.
Beim Mobbing machen viele mit. Das mobbende Kind macht sich mit seinen Taten in der Gruppe wichtig. Einige haben Angst vor ihm, manche bewundern es. Mobbing funktioniert nur, wenn andere Kinder die Taten des Mobbers gut finden, etwa indem sie über die einzelnen Mobbingsituationen lachen.
Wenn ein Kind ein anderes gezielt ärgert, die anderen in der Klasse dieses Verhalten aber ablehnen, hört dieses Kind schnell mit den Gemeinheiten auf. Viele Kinder lachen zwar nicht mit, wenn ein Gspäändli gemobbt wird, sie nehmen das Opfer aber auch nicht in Schutz – und unterstützen mit ihrer Passivität das Mobbing . Sie signalisieren dem Mobbenden, dass sein Verhalten in Ordnung ist. Warum stellen sich nicht mehr Kinder offen gegen den Mobbenden? Weil sie Angst haben, das nächste Opfer zu sein.
Es gibt viele Arten von Mobbing. Manche Mobber schubsen das Opfer, schlagen oder bespucken es. Aber auch Beschimpfungen, Drohungen, Erpressungen können Mobbing sein. Oft machen Mobber Sachen kaputt, die ihrem Opfer gehören und die ihm wichtig sind.
In all diesen Fällen kennt das betroffene Kind den oder die Täter. Häufig verläuft Mobbing aber subtil. Die Kameraden des Kinds streuen Gerüchte, demütigen es oder grenzen es aus. In diesen Fällen weiss das Kind nicht, wer hinter den Gemeinheiten steckt.
Mobbing passiert auch in den sozialen Medien – oft als Fortsetzung des Mobbings im Alltag. Besonders schlimm beim Cybermobbing: Viel mehr Leute erfahren davon, und das Opfer entkommt den Gemeinheiten und Gerüchten auch zu Hause nicht. Kommt hinzu: Das Internet vergisst nicht . Einmal gepostete Bilder sind auch Jahre später noch auffindbar. Das kompliziert etwa einen Schulwechsel.
Mobbing kann alle treffen. Mobbende wählen für ihre Angriffe meist die Person, die ihnen am wenigsten gefährlich werden kann. Oft trifft es Kinder, die wenig Selbstbewusstsein haben oder die nicht gut in die Klasse integriert sind. Kinder, die schon einmal gemobbt wurden, haben ein grösseres Risiko, erneut zur Zielscheibe von Gemeinheiten zu werden.
Häufig geben Mobbende dem Opfer Schuld, dass es ausgewählt wurde. Sie sagen zum Beispiel: «Sie trägt altmodische Kleider.» Oder: «Er verhält sich immer so seltsam.» Wichtig zu wissen: Das betroffene Kind ist unschuldig, es wurde zufällig ausgewählt. Und es kann sich nicht ohne Hilfe aus dieser Rolle befreien.
Welche Rolle können Eltern einnehmen, wenn sie merken, dass ihr Kind in der Schule gemobbt wird? Beobachter-Mitglieder erhalten im Merkblatt «Mobbing in der Schule» weitere Tipps zum Thema.
Am Mobbing sind viele beteiligt, und es findet im Verborgenen statt. Mobbing zu erkennen ist nicht einfach. Studien zeigen, dass in vier von fünf Mobbingfällen die Lehrpersonen nichts davon mitbekommen. Das liegt auch daran, dass die verschiedenen Mobbingsituationen, wenn man sie einzeln betrachtet, oft nicht als schlimm wahrgenommen werden.
Und es ist schwierig, zu erkennen, welche Rollen die Kinder beim Mobbing haben. Mobbende sind sehr geübt darin, ihr Umfeld zu manipulieren . Oft können sie sich gut ausdrücken und haben ein sicheres Auftreten. Nicht selten gelingt es ihnen, sich als Opfer darzustellen und das tatsächliche Opfer zum Täter zu stempeln.
Mobbing kann für Opfer fatale Folgen haben. Manche leiden jahrelang darunter. Doch auch Mobber kommen oft nicht unbeschadet davon. Studien zeigen, dass sie ein grösseres Risiko haben, auf die schiefe Bahn zu geraten. Etwa indem sie kriminell werden oder Drogen konsumieren. Mobbende Mädchen laufen Gefahr, eine Beziehung einzugehen , in der sie Gewalt erfahren. Es ist deshalb für Opfer wie Täter wichtig, dass Mobbing früh gestoppt wird.
Klare Werte helfen, vor Mobbing zu schützen. Am wirkungsvollsten sind Klassenregeln, die die Kinder selber formulieren. Sie nützen aber nur etwas, wenn die Klassenlehrperson zusammen mit den Kindern regelmässig überprüft, ob sie eingehalten werden.
Auch Sozialarbeiterinnen, die eng mit den Lehrpersonen zusammenarbeiten, können helfen, beginnendes Mobbing zu erkennen. Wichtig ist auch, dass Eltern und Kinder regelmässig über soziale Werte diskutieren . Darüber, wie wichtig es ist, Rücksicht zu nehmen und schwächeren Mitmenschen Hilfe anzubieten.
Eines der bewährtesten Vorgehen bei Mobbing ist der No-Blame-Approach. Bei dieser Methode wird niemand als Schuldiger geoutet und niemand bestraft.
Der Ansatz verfolgt das Ziel, das Mobbing konsequent zu beenden. Die Person, die die Intervention durchführt – meist eine Schulsozialarbeiterin –, bildet eine Unterstützungsgruppe für das gemobbte Kind. In diese Gruppe wird auch der Täter aufgenommen, allerdings ohne als solcher bezeichnet zu werden. Die Sozialarbeiterin spricht nicht von Mobbing, sondern schildert, was ihr aufgefallen ist: dass es einem Kind nicht gut geht. Den Kindern in der Unterstützungsgruppe erklärt sie, weshalb sie für die Gruppe ausgewählt wurden. Dem Mobber kann sie etwa sagen: «Ich habe dich ausgewählt, weil die anderen Kinder auf dich hören.»
In der Gruppe überlegen die Kinder nun, was sie machen können, damit es dem gemobbten Gspäändli wieder besser geht, und sie formulieren Vorschläge. Sehr oft hört das Mobbing danach auf.
Kinder, die beim Mobbing mitmachen, erzählen lange niemandem davon, auch das Opfer schweigt in der Regel. Wenn Eltern vom Mobbing erfahren, ist die Situation meist festgefahren. Für sie ist es enorm belastend, ihr Kind leiden zu sehen.
Trotzdem sollten sie Kurzschlusshandlungen vermeiden, etwa das Kind überstürzt an einer Privatschule anzumelden – sie müssten sie selbst bezahlen. Wenn sie wollen, dass ihr Kind an eine andere Schule wechselt, müssen sie die Schulbehörde von diesem Schritt überzeugen. Es hilft, wenn eine anerkannte Stelle, zum Beispiel der schulpsychologische Dienst, dasselbe empfiehlt. Ordnet die Schulbehörde einen Wechsel an, muss sie die Kosten der neuen Schule übernehmen.
Falls sie so weit entfernt ist, dass das Kind nicht zu Fuss gehen kann, muss die Schulbehörde die Transportkosten tragen. Bevor das Kind an der neuen Schule startet, sollte es das Mobbing verarbeitet haben – mit professioneller Unterstützung.
- Rund 10 Prozent der Kinder werden im Lauf der Schulzeit Opfer von Mobbing.
- Mobbing kommt auf allen Schulstufen vor. Am häufigsten werden Kinder in der fünften und sechsten Primarklasse gemobbt.
- Mobbing findet über einen längeren Zeitraum statt und ist systematisch gegen eine Person gerichtet.
- Den Täter oder die Eltern des Täters mit dem Mobbing zu konfrontieren verstärkt das Mobbing oft.
- Françoise Alsaker: «Mutig gegen Mobbing»; Hogrefe, 2016, 272 Seiten, CHF 41.90
- Heike Blum, Detlef Beck: «No Blame Approach»; Fairaend, 2019, 224 Seiten, CHF 36.90
8 Kommentare
Meiner Erfahrung nach sind es vor allem Mädchen die mobben.
Wenn Mädchen miteinander Streit haben, wird das meist eine endlose Sache. Noch nach Monaten sind sie verstritten, meist wissen sie gar nicht mehr weshalb.
Jungs sind da viel angenehmer, finde ich. Sie streiten sich, kämpfen ev. sogar miteinander, aber in der nächsten Pause ist alles vergessen und sie spielen wieder zusammen.
Ich fände es aber notwendig, Mobbing spätestens in der dritten Klasse zu thematisieren!
Nein, Jungs mobben stärker und ausdauernder! Ich spreche aus Erfahrung. Hängt vielleicht mit dem Hintergrund zusammen oder dem Alter. Ein sog. Bully/Macho (12- oder 13jährig) pickt sich bewusst Leute heraus, die er fertigmachen kann. Von wegen Pubertätsproblem, das nur während der Primarschule anhält! Meldung bei Polizei, Schulpsychologen und KESB änderte Situation - nach 5 Jahren.
Wir haben diese Probleme mit den Eltern direkt besprochen!!!
Aber das ist heute teilweise nicht mehr möglich, weil die unsere Sprache (deutsch) nicht verstehen!!
Genau. Auch wenn sie Brocken verstehen, werden diese aggressiv und defensiv. Kein Anstand. Darauf kann man verzichten. Andererseits stellen sich Akademikereltern taub, weil der Sprössling ja so wohlgeraten ist, dass der dazu nicht fähig wäre.
Wahrscheinlich hat es Mobbing immer schon gegeben. Ich war vor 55 Jahren Mobbingopfer. Die Täterin war zu Lehrern charmant. Sie war aber auch frech und eine richtige Anführerin, wer in der Gruppe ihr die Annerkennung oder Gefolgschaft verweigerte, der wurde gemobbt. Mich traf es meistens. Die Mobbingsitutationen fanden immer unter Abwesenheit von Erwachsenen statt. 20 Jahre später hat sie sich bei mir entschuldigt. Was sich heute geändert hat, die Möglichkeiten der Technik. Aber die Perfidität der Täter ist immer noch die gleiche. Die meisten Täter und Täterinnen sind verwöhnte Kinder, die nicht gelernt haben Rücksicht zu nehmen, keine Neins erhalten haben und deren Eltern ihre Kinder abgöttisch lieben, was im Grunde keine Liebe ist,
Mobbing kenne ich auch, aber damals war es nicht so "durchorchestriert" wie heute im digitalen Zeitalter. Aber betr. Hintergrund Mobber muss ich widersprechen: Nein, die, von denen ich gemobbt wurde, kamen aus einem zerrütteten Elternhaus (drogen-, suchtabhängige Eltern, Kinder sich selbst überlassen, Beistände). Endete schliesslich darin, dass der Anführer/Mobber von der KESB aus dem Verkehr gezogen wurde, weil der sein Mobbing auf Diebstahl etc. ausweitete und das Quartier terrorisierte.
Liebe Minna
Wer Kinder hat, die nicht dem Mainstream angehören, weiss um die Wichtigkeit dieses Themas. Mobbing kann schon vor dem Kindergarten geschehen und ist für betroffene Kinder schwer zu ertragen. Daher ja, es muss gestoppt werden. Ja, die Eltern müssen die Verantwortung übernehmen. Ja, die Erwachsenen müssen hinschauen und richtiges Verhalten unterstützen, schlechtes Verhalten rigoros unterbinden. Kinder mobben nicht nur aus Langeweile. Oft sind sie selber mit einer anderen Situation belastet. Das kann auch sein, dass sie in zu grossen Gruppen betreut werden. Das ist leider auch in der Schweiz immer häufiger der Fall. Grosse Klassen,, grosse Tagesschulen. Viele Medien...
Und alles nur um Kosten zu sparen..