Arbeiten wie im Mittelalter
In den Zürcher Notariaten rumort es. Wegen eines Softwaredebakels muss dort vieles in mühseliger Handarbeit erledigt werden. Die Steuerzahler kostet das Millionen.
Veröffentlicht am 27. März 2012 - 08:03 Uhr
Max Rieser hievt einen mächtigen Folianten aufs Pult. Das ledergebundene, zehn Kilo schwere, vom vielen Gebrauch abgewetzte Buch würde jeder Schriftensammlung aus dem Mittelalter gut anstehen. Es ist aber das topaktuelle Grundbuch der Gemeinde Zollikon.
«Das ist unser tägliches Fitnessprogramm», sagt der 63-jährige Leiter des Zürcher Notariats Riesbach lachend. Das Gewicht ist dabei allerdings das geringste Problem. Auf den ausladenden Seiten sind die Eigentümer von Grundstücken sowie Dienstbarkeiten wie Wegrechte und Hypothekenbelastungen eingetragen. Handschriftlich. Denn die gebundenen Blätter lassen sich in keine Schreibmaschine einspannen. Alle Änderungen müssen deshalb von Hand vermerkt und bei jedem Grundbuchauszug wieder aufs Neue abgeschrieben werden.
Aus diesem Grund benötigen Notare im Kanton Zürich für einen simplen Grundbuchauszug Stunden – statt Sekunden wie in anderen Kantonen, wo das Grundbuch im Computer erfasst ist und Auszüge per Mausklick ausgedruckt werden können. «Da wäre Obelix noch schneller, wenn er die Auszüge in Stein meisseln würde», scherzt Max Bodmer, Riesers Assistent.
Rechnet man die Arbeitszeit für die 1200 Grundbuchauszüge hoch, die das Notariat Riesbach im Jahr 2011 erstellt hat, kommt man – bei einer realistischen Annahme von 90 Minuten pro Auszug – auf 1800 Stunden. 214 Arbeitstage verpuffen also jedes Jahr nur schon in einem der 44 Notariate des Kantons Zürich.
Doch damit nicht genug. Weil der Kanton Zürich kein anerkanntes EDV-Grundbuch hat, müssen neue Angaben wie zum Beispiel die Mehrwertsteuernummer von Unternehmen von Hand eingetragen und später wieder abgeschrieben werden. Zudem muss die Liste der täglichen Grundbuchgeschäfte, das sogenannte Tagebuch, ausgedruckt und Seite für Seite unterschrieben werden. «Wir arbeiten fast wie in der Steinzeit», sagt Rieser. «Da lachen sogar die Appenzeller über uns.»
Der Grund für diese Zustände ist ein Softwaredebakel der gröberen Art. Der Kanton Zürich hat Anfang dieses Jahrtausends mit Hilfe einer Softwarefirma eine eigene Lösung entwickelt, die aber bloss in eingeschränkter Form zum Einsatz kam. Diese Software erhielt nie die Bewilligung des Bundes als rechtskräftiges EDV-Grundbuch, da sie nicht alle Angaben des Papiergrundbuchs vernetzen kann. Alle wichtigen Einträge müssen deshalb weiterhin im Papiergrundbuch getätigt werden, damit sie überhaupt Rechtskraft entfalten.
Das Notariatsinspektorat des Kantons Zürich, das für das Projekt zuständig ist, beauftragte 2005 zusammen mit anderen Kantonen zwar IBM, eine andere bestehende Software weiterzuentwickeln. Schon bald aber meldete der Computerriese Verzögerungen von einem, später sogar von zwei Jahren an. Ende 2008 tauschte IBM die Projektleitung aus. Doch beim ersten Abnahmetest stellte das Notariatsinspektorat fest, «dass das von IBM gelieferte Werk auf weiten Strecken nicht funktionierte, so dass wesentliche Teile der Applikation nicht getestet werden konnten», wie es in einer Stellungnahme des Zürcher Obergerichts heisst. Das Obergericht, das die Aufsicht über das Notariatsinspektorat ausübt, führt weiter aus, IBM habe für die vertraglich vorgesehenen zweiten und dritten Abnahmetests «gar keine korrigierten Versionen mehr abgeliefert». Der Kanton Zürich kündigte am 30. Mai 2011 den Vertrag mit IBM und steht nun vor einem Scherbenhaufen.
Die Kosten für das gescheiterte Projekt beziffert das Obergericht auf 9,5 Millionen Franken zuzüglich der internen Personalkosten, die die Schadenssumme massiv erhöhen: Mit dem Projekt waren 40 Angestellte während Jahren beschäftigt. In Tat und Wahrheit geht es also um mehr als ein Dutzend verlorener Steuermillionen. Gezahlt hat IBM erst 3,9 Millionen Franken. Die Firma will zum jetzigen Zeitpunkt zu den Vorwürfen keine Stellung nehmen.
Das Fehlen eines EDV-Grundbuchs und die dadurch verlorene Arbeitszeit wirken sich im Alltag aus. «Es ist nicht gerade angenehm, wenn Kunden sich darüber beschweren, dass es für einen Grundbuchauszug im Kanton Zürich so lange dauert. Wir müssen uns anhören, dass man in anderen Kantonen dasselbe per Mausklick ausgestellt erhält», sagt Sandro Bucher, der Leiter des Notariats Wallisellen. Man könne zwar arbeiten, aber man mache sich schon Gedanken darüber, warum im Kanton Zürich noch kein EDV-Grundbuch bestehe.
Die Notare sehen den Grund für den Missstand nicht nur bei IBM, sondern auch beim Notariatsinspektorat. «Vielleicht suchte der Kanton Zürich eine zu perfektionistische Lösung», sagt Max Rieser vom Notariat Riesbach. Es sei schade, dass man das Problem nicht früher erkannt und die Lösung ernsthafter und mit mehr Geld in die Hand genommen habe.
Das Verhältnis der Zürcher Notare zum Notariatsinspektorat ist angespannt, unter anderem weil die Aufsichtsbehörde ohne Rücksprache mit den Notaren den Vertrag mit IBM gekündigt hat. Das Inspektorat hat denn auch umgehend ein Strafverfahren wegen Amtsgeheimnisverletzung eingeleitet, als das Softwaredebakel durch einen NZZ-Artikel überhaupt publik wurde.
Am Eingang des stattlichen Gebäudes in der Zürcher Altstadt hängt ein Schild: «Notariatsinspektorat des Kantons Zürich, EDV-Projekte». Geschäftsleiter René Biber ist wortkarg, wenn es um IBM geht: «IBM hat definitiv keinen Auftrag mehr, die Grundbuchsoftware für den Kanton Zürich zu entwickeln.» Zurzeit liefen Vergleichsverhandlungen. «Wir hoffen, dass es nicht zu einem Schadenersatzprozess kommen muss.» Ein Mitverschulden des Notariatsinspektorats am gescheiterten Projekt weist er von sich. «Wir haben klare Vorgaben gemacht, und unsere Teams haben termingerecht intensiv mitgearbeitet.»
Die Stimmung unter den Zürcher Notaren hält er trotz gescheitertem Projekt für insgesamt gut. Gerade der massive Zusatzeffort, den die Notare Ende letzten Jahres wegen der Erbschaftssteuerinitiative leisteten, habe sie zusammengeschweisst. «Junge Mitarbeitende sollen auch schon gesagt haben, sie seien froh, wieder mal von Hand schreiben zu dürfen und nicht nur immer in den Computer starren zu müssen», sagt Biber. «Aber mir wäre es natürlich auch lieber, wir hätten ein EDV-Grundbuch.» Wenn das nicht zustande komme, gebe es einen massiven Reformstau, befürchtet er. Deshalb sucht das Notariatsinspektorat verzweifelt nach einer Lösung. Am wahrscheinlichsten ist eine Weiterentwicklung der bestehenden Software, die 2004 gestoppt wurde.
Auf die Frage, ob der Kanton Zürich in fünf Jahren das EDV-Grundbuch eingeführt haben werde, entgegnet Biber: «Hoffentlich schon wesentlich früher.»
Darauf will Max Rieser, der Leiter des Notariats Riesbach, nicht warten. Er lässt sich – nach 30 Dienstjahren – im September 2012 frühzeitig pensionieren. «Diesen Ärger brauche ich nicht mehr.» Sein Assistent Max Bodmer hingegen rügt die Eidgenossenschaft. Er verstehe nicht, weshalb der Bund nicht schon vor Jahren eine eidgenössische EDV-Grundbuchlösung angestrebt habe. Doch beim Bundesamt für Justiz heisst es nur: «Zur rechtspolitischen Frage eines eidgenössischen EDV-Grundbuchs haben wir uns zurzeit nicht zu äussern.»
100 Jahre reichten nicht
Kantone und Gemeinden sind gemäss Zivilgesetzbuch verpflichtet, ein eidgenössisches Grundbuch einzuführen – und zwar schon seit 100 Jahren. Doch bis heute haben es erst fünf Kantone geschafft (BL, BS, JU, LU, VD). Im Kanton Zürich erfüllen nur 68 Prozent der Gemeinden die Vorgaben, in Graubünden 47 Prozent, in Obwalden 14 Prozent und in Uri gar null Prozent. Die Gründe dafür sieht René Biber, Geschäftsleiter des Notariatsinspektorats des Kantons Zürich, in den komplexen Zuständigkeiten und im Personalmangel. «Über Jahrzehnte hinweg hatten wir zu wenig Personal, weil es dafür Spezialisten braucht.»
In den meisten Kantonen gilt ein kantonales Grundbuch, das im Unterschied zum eidgenössischen keinen sogenannten Gutglaubensschutz gewährt. Will heissen: Ist im kantonalen Grundbuch ein falscher Eigentümer eingetragen, ist man gegen den richtigen Eigentümer nicht geschützt, auch wenn man das Grundstück gutgläubig gekauft hat. Dann hafte der Kanton, erklärt René Biber. So ein Fall sei allerdings noch nie vorgekommen.
Dieser Artikel entstand aufgrund von Hinweisen, die der Beobachter über seine Whistleblower-Plattform www.sichermelden.ch erhielt.