Der Tod macht ihr keine Angst mehr
Die Ärzte teilen einer Frau mit, sie habe nicht mehr lange zu leben. Und so verjubelt sie ihr ganzes Vermögen im Casino. Dann stellt sich heraus: Die Diagnose war falsch.
Veröffentlicht am 27. September 2019 - 16:35 Uhr
Eine Spielernatur ist Manuela Giger* nicht. Jede Woche Lotto, das muss genügen. Immer die gleichen sechs Zahlen. «Nur etwas Münz» gewinnt sie damit ab und zu. Egal.
Wichtiger ist die Erinnerung an ihren Edy*. Die beiden haben die Glückszahlen gemeinsam ausgesucht, damals. Im Oktober sind es elf Jahre, seit Manuela Gigers Mann gestorben ist. Die Urne mit seiner Asche steht auf der Kommode neben der Wohnungstür. Und Edy lacht der 68-Jährigen entgegen, wenn sie ihr Uralt-Handy aufklappt. «Er bleibt bei mir, solange ich noch da bin.»
Wie kann es sein, dass eine einsame Frau, die einen Lottoschein bloss mit dem Andenken an eine geliebte Person verknüpft, im Casino ihr ganzes Vermögen verspielt? Dass sie sich drei Jahre lang immer wieder hinstellt an die einarmigen Banditen, bis von den 350'000 Franken aus der Pensionskasse nichts mehr übrig ist?
Der Kick des Gambling war es nicht, versichert sie. «Es hat mich auch nie gestört, wenn ich verloren habe.» Stattdessen: das gediegene Ambiente, die Lichter, die Musik. «Ich war für eine Weile entführt aus meiner traurigen Welt. Und dort ist die Zeit vorbeigegangen.»
Im gewöhnlichen Leben sind Manuela Gigers Tage quälend lang. Ihr Gesundheitszustand ist schlecht, er erlaubt keine Abwechslungen, der Bewegungsradius ist nahe bei null.
Schon als 22-Jährige hatte sie drei Operationen am Unterleib, deshalb war früh klar, dass sie keine Kinder haben würde. Mit 39 mussten die Organe im Unterleib ganz entfernt werden. Die Hormonproduktion fehlte, es entwickelte sich Osteoporose. Die brüchigen Knochen haben die Wirbelsäule stark verkrümmt; zur Stabilisierung hat Giger 16 Schrauben im Rücken.
Hinzu kommen: Diabetes. Wiederholt Tumore. Hirnwasser, das nicht abfliesst. 54-mal war sie im Krankenhaus, hat sie nachgerechnet. Beim 30. Mal gab es ein Blumenarrangement von der Spitalleitung.
Welche Schmerzen die Frau hat, lässt sich erahnen, wenn sie mühselig und schwer keuchend vom Küchentisch aufsteht, um aus einem Schrank ihren täglichen Cocktail an Medikamenten hervorzukramen. «Nur elf zurzeit, waren schon mehr», brummelt sie. Schmerzmittel und das Insulin kämen noch hinzu, viermal pro Tag. Sagts und zündet die nächste Zigarette an. Ein Laster, das sie sich nicht nehmen lassen will. Schulterzucken: Kommt auch nicht mehr drauf an.
Die Zweizimmerwohnung nahe dem Bieler Stadtpark ist seit über 40 Jahren ihr Daheim. Katzen, wohin man blickt – auf Bildern, als Figuren. Im Schlafzimmer Fotos von Winnetou und Butterfly, ihren beiden Büsi. Sie sind fast zeitgleich mit ihrem Edy gestorben. Vergilbte Zeitungsausschnitte an der Wand zeigen Mannschaftsfotos des EHC Biel. Darauf «mein Lieblingsbruder», er war früher Goalie. Auch er lebt nicht mehr, Schilddrüsenkrebs. Manuela Gigers Gegenwart ist die Erinnerung an schönere Zeiten.
«95 Prozent der Zeit verbringe ich hier, allein», sagt sie. «Wenn ich nicht gerade zum Arzt muss.» Beim Nachsatz zuckt der Frau mit dem kurzen Pagenschnitt ein feines Lächeln um die Mundwinkel. Etwas Schalk ist ihr geblieben. Sie hätte allen Grund zum Hadern mit ihrer Situation, aber das ist nicht ihr Ding.
Manuela Giger hadert auch nur kurz, als sie 2013 von zwei Ärzten die Diagnose erhält, die in ihrem angeschlagenen Zustand einem Todesurteil gleichkommt: Leberzirrhose. «Ausgerechnet ich, die nie Alkohol trinkt !» Letztmals, das weiss sie noch genau, war das an Silvester vor 14 Jahren, ein Gläschen mit Edy, «wir wollten einander auch einmal ‹Gsundheit› sagen».
Wenig Lebensqualität und nun auch keine Lebenserwartung mehr: In dieser Situation entscheidet sich Giger, einmal, ein einziges Mal, etwas Unvernünftiges zu tun. Sich eine Ausschweifung zu gönnen, statt dauernd jeden Rappen umzudrehen.
Sie lässt sich von der Pensionskasse das gesamte Kapital auszahlen . 420'000 Franken haben sich angesammelt in einem Berufsleben, das mit 16 in der Omega-Fabrik begonnen hat. Nach Abzug der Steuern und einer Rückzahlung von Schulden verbleiben «CHF 346'954.00», wie ihr später die Ausgleichskasse des Kantons Bern vorrechnen wird – ein schöner Batzen. Kinder, denen sie das Geld vermachen könnte, hat sie nicht. Andere Angehörige auch nicht, bis auf einen Bruder, doch das Verhältnis zu ihm ist nicht gut. Diesmal war Manuela Giger selber an der Reihe. Dieses eine und letzte Mal.
Ein neues Auto hätte es werden sollen. Darauf will sie nicht verzichten, um sich für den Rest ihrer Zeit wenigstens etwas Unabhängigkeit zu gönnen. Der jetzige Wagen, ein Mazda, Baujahr 1992, ist reparaturanfällig. Und er liegt zu tief: Mit ihrem schlimmen Rücken schafft es Giger kaum mehr, ein- und auszusteigen. Auch neue Möbel hätte sie angeschafft, einen bequemen Sessel, einen modernen Fernseher, «einen ohne Röhre».
Doch das Leben hat einen anderen Plan. In jener Zeit trifft Manuela Giger zufällig ein Ehepaar, das sie von früher kennt. Man beschliesst, einen Ausflug nach Interlaken zu machen, ins Casino – mal etwas anderes. Und dort: das gediegene Ambiente, die Lichter, die Musik. Die Zeit, die vorbeigeht.
Einmal noch fährt Manuela Giger mit ihren Bekannten nach Interlaken, darauf allein ins Grand Casino Bern. Lässt sich per Taxi für ein paar Stunden aus dem tristen Alltag entführen, um danach mit demselben Taxi wieder dorthin zurückgebracht zu werden. Immer wieder. Weshalb sie sich dem Sog der glitzernden Traumwelt nicht mehr entziehen konnte, dafür findet die Rentnerin keine schlüssige Erklärung. «Damals hatte ich keine andere Perspektive mehr.»
«Ich hätte nie gedacht, dass ich länger lebe, als ich Geld habe.»
Manuela Giger*
Im Casino sind die Angestellten ausgesprochen freundlich mit dem regelmässigen Gast
, der so schlecht zu Fuss ist. Die Cola wird vom Haus spendiert. Die ältere Dame spielt stets an der Slotmaschine, «der einzige Apparat, den ich kenne». Nie Roulette, nie Poker. An einem Abend gewinnt sie 50'000 Franken, die sie bar in der Handtasche mit nach Hause trägt. Aber auf Dauer fressen ihr die einarmigen Banditen das Geld weg, langsam und stetig.
Es muss gegen Ende 2016 gewesen sein, als alles aufgebraucht ist. Am Schluss lässt sich Giger selber sperren vom Spielbetrieb. «Das Spielen fehlt mir nicht», sagt sie lakonisch. Irgendwann sei es einfach fertig gewesen damit, so plötzlich, wie es angefangen hatte. Verspekuliert hat sie sich in einer Hinsicht: «Ich hätte nie gedacht, dass ich länger lebe, als ich Geld habe.»
Die Frau hat ihr Vermögen bereits verjubelt, als sich bei einer Routineuntersuchung herausstellt, dass ihre Leberwerte in Ordnung sind. Die Zirrhose, das vermeintliche Todesurteil, erweist sich als Fehldiagnose . Im Normalfall eine erfreuliche Nachricht – bei Manuela Giger verkehrt sie sich ins Gegenteil.
«Es längt! Wenn ich jetzt eine Pistole hätte!» Dieser Gedanke sei ihr als Erstes durch den Kopf gegangen. Auf die Wut darüber, wie sich gleich zwei Mediziner derart irren konnten, folgt das Bedauern. «Wenn ich daran denke, welche schönen Dinge ich mir hätte kaufen können.»
Giger kann weiterleben – aber ohne finanzielles Polster. Ihr einziges Einkommen ist die AHV-Rente von monatlich 2350 Franken. Da bleibt kein Geld übrig für vieles, was ihr im Alltag helfen würde: für eine Haushalthilfe , für die überfällige Reparatur der Zahnprothese. Ins Gewicht fallen die Gesundheitskosten, die von der Krankenkasse nicht gedeckt sind. Hier ein Hunderter Selbstbehalt für eine Untersuchung, dort noch einer. «Das läppert sich zusammen bei meinen vielen Behandlungen.»
Als Manuela Giger einen Antrag auf Sozialhilfe stellt, kommen eigens zwei Frauen vom Sozialdienst zu Besuch, um sich ein Bild der Lage zu machen. Aus ihrem Bericht liest sich Bedauern heraus. Doch sie haben ihre Regularien, und die befolgen sie strikt: «Einkommen über Ansatz gemäss Skos-Richtlinien» , wird im Februar 2019 schriftlich verfügt – kein Anspruch auf Sozialhilfe. 320 Franken zu viel erhält die 68-Jährige aus der Maximalrente der AHV. Eine Überprüfung im Sommer bestätigt das Verdikt. Nach solchen Bescheiden kann Manuela Giger nächtelang nicht schlafen. Zu gross ist die Angst, die Rechnungen nicht mehr bezahlen zu können.
Eigentlich wäre Giger ein Fall für Ergänzungsleistungen – wäre da nicht Artikel 11 Absatz 1 Buchstabe g im entsprechenden Bundesgesetz. Dieser Passus regelt den «Vermögensverzicht». Ein solcher liege vor, teilt die Ausgleichskasse der Rentnerin im August 2018 in staksiger Juristensprache mit, «wenn die leistungsansprechende Person ohne rechtliche Verpflichtung oder ohne adäquate Gegenleistung auf Einkünfte oder Vermögen verzichtet hat».
Auf Deutsch: Wer sein Geld leichtfertig verpulvert, beim Glücksspiel etwa, bekommt hinterher keine Überbrückung vom Staat. «Es folgt im Wesen des Spiels, dass es wirtschaftlich zwecklos ist», schreibt die Kasse in ihren Erwägungen. Bedeutet für Manuela Giger: null Franken Ergänzungsleistungen.
Ein Anwalt, der sein Mandat kostenlos führt, will den Fall nun neu aufrollen. «Es müssen auch die genaueren Umstände abgeklärt werden, unter denen Frau Giger zum Entschluss gekommen ist, ihr Geld auf diese Weise auszugeben», sagt er. Nach der ersten Diagnose und der Aussicht, nicht mehr lange zu leben, habe sich seine Mandantin in einer psychischen Ausnahmesituation befunden. Deshalb soll die Behörde den Anspruch auf Ergänzungsleistungen neu beurteilen.
Nicht ankämpfen wird der Jurist gegen die Verursacher der fatalen Fehldiagnose, auch Manuela Giger will das nicht. «Dafür habe ich die Kraft nicht mehr.»
Wie hat sich ihr Leben verändert, nachdem sie damit eigentlich schon abgeschlossen hatte? Langes Überlegen. «Vielleicht, dass mir der Tod keine Angst mehr macht», sagt Manuela Giger. Ihre Pläne sind nur noch kurzfristig. Als Nächstes steht eine Operation an den havarierten Brustwirbeln an. Der 55. Spitalaufenthalt.
* Namen geändert
In der Rubrik «Der Fall» geht es um Geschichten von Menschen, die eine Phase durchmachen, in denen es das Leben nicht gut meint mit ihnen. Auch die Stiftung SOS Beobachter unterstützt Menschen, die einen Schicksalsschlag verkraften müssen – mit einer Spende können Sie mithelfen.
4 Kommentare
Ja, diese Geschichte ist tragisch. Aber es ist eine Tragödie, wie man so sein Leben beschließen kann. Ist das alles, auf den Putz hauen, das Geld verplempern und auf den Tod zu hoffen? Das ist das wahre Tragik an dieser Geschichte. Ein Mensch dessen Lebensinhalt darin besteht, sein Leben mit Unvernunft abzuschließen. Ich stelle mir jeden Tag die Frage, was ich noch erledigen will, wenn ich nur noch wenige Wochen zu leben hätte. Die Frau hätte es so machen sollen wie der ungerechte Buchhalter, der wusste dass er von seinem Chef entlassen würde und Flucks anfing den Schuldnern, die Schuldscheine zu halbieren und sich so mit dem Mammon Freunde gemacht hat: schnell da ein Geschenk und dort ein Geschenk, dann hätte die Frau jetzt vielleicht einige Freunde mehr, die sie unterstützen.
Die Quelle, aus der Sie die Geschichte vom ungerechten Buchhalter zitieren, erzählt auch von jemandem, der alles verprasst hat. Und als er am Ende war, sah er sich mit dem gleichen Vorwurf konfrontiert: Ich gebe mir solche Mühe und diese Person schmeisst ihr Leben einfach weg! Sie hätte besser dies und jenes. Zum Glück fand der Versager in dieser Geschichte Grace bei jemandem, der ihm aufhalf, ohne sich über ihn zu stellen. Danke dem Anwalt, der sich kostenlos für die Frau einsetzt!
Vielleicht sollte man auch Ärzten verbieten, eine Diagnose zu stellen? Nicht alle Menschen verarbeiten eine solche Diagnose, viele geben sich auf.
Schwere Fehldiagnosen kommen tatsächlich vor. Wenn die Korrektur heisst, man sei doch nicht krank, so ist das positiv. Schlimm der geschilderte Fall wo eine Frau, die sich todgeweiht glaubte, ihr Vermögen verjubelte. Ich kenne jemanden näher, der auch so eine finale Diagnose erhielt, die etwas später korrigiert wurde, d.h. annulliert wurde. Für den Betreffenden war das wie eine Wiedergeburt. Sein Leben geht bis heute normal weiter.