Leben in Gefahr
Täglich kommen in der Schweiz vier Menschen durch Suizid um – im Strassenverkehr ist es einer. Trotzdem unternimmt der Bund so gut wie nichts, um Menschen vom Freitod abzuhalten.
Veröffentlicht am 27. Juli 2012 - 16:55 Uhr
Daniel Herter* legt seine vernarbten Handgelenke auf den Küchentisch. «Da habe ich die Sehne erwischt, hier die Nerven und da eine Arterie», erklärt der 28-jährige Informatiker. Beinahe so, als präsentiere er eine gewissenhaft erledigte Arbeit. Die Narben an seinen kräftigen Armen stammen von einem Suizidversuch. Geschnitten hat er sich mit einem Sackmesser. Das ist sechs Monate her. Für den jungen Mann eine gefühlte Ewigkeit.
Alle sechseinhalb Stunden nimmt sich in der Schweiz ein Mensch das Leben. Das sind vier Tote pro Tag, fast 1400 pro Jahr. Laut einer aktuellen Erhebung des Bundesamts für Statistik sind davon rund 300 assistierte Suizide, Sterbehilfe. Dazu kommen etwa 20'000 Menschen, die einen Suizidversuch überleben. Werden Sterbewillige wie Daniel Herter rechtzeitig gefunden oder, besser noch, von ihrem Vorhaben abgehalten, sterben sie auch später nicht durch die eigene Hand. Denn Suizidabsichten sind meist vorübergehend.
Nur die wenigsten, die versuchen, sich zu töten, begehen einen sogenannten Bilanzsuizid, haben sich also wegen plagender Schmerzen oder einer schweren Krankheit nach reiflicher Überlegung entschieden, nicht weiterzuleiden. Alle anderen möchten eigentlich weiterleben, wie Erhebungen aus den USA vermuten lassen. Ein Indiz dafür: Von 515 Menschen, die vom Sprung von der Golden Gate Bridge in San Francisco abgehalten wurden, erfreuten sich 480 auch 25 Jahre später noch ihres Daseins.
Dass Suizide oft Kurzschlusshandlungen sind – oder, wie Fachleute sagen, «psychische Unfälle» –, lassen auch Erfahrungen aus der Schweiz vermuten: Seit die Münsterplattform in Bern mit Netzen gesichert ist, hat niemand mehr versucht, von dort in den Tod zu springen. Die Zahl der Selbsttötungen in der näheren Umgebung ist aber nicht gestiegen.
Netze helfen Suizide verhindern: Hohe Brücke, Sachseln/Kerns; Rotbachbrücke, Rothenburg LU; (unten)
Daniel Herter erinnert sich an den Moment, als er gerettet wird. Es ist bitterkalt an diesem Wintermorgen. Die Dämmerung ist eben angebrochen, und ein Hund bellt ihn wach. Sieben Stunden sind seit seinem Suizidversuch vergangen. Er liegt auf einer Bank, irgendwo draussen im Feld. Seine Körpertemperatur ist auf 33 Grad gesunken, und er hat fast zwei Liter Blut verloren. Wie er auf diese Bank gekommen ist, weiss der junge Familienvater nicht mehr. Er hat einen Liter Wodka intus und mehrere Packungen rezeptpflichtiger Medikamente. Die hatte er seit einer Operation im Badezimmerschränkchen gebunkert.
«Man müsste aktiv dafür sorgen, dass nicht mehr benötigte Medikamente entsorgt werden. Das wäre eine von vielen Massnahmen, mit denen sich Leben retten liessen», sagt Vladeta Ajdacic, Soziologe und Suizidforscher an der Universität Zürich. Je höher die praktischen Hürden einer Suizidmethode seien, desto weniger werde sie eingesetzt. Umgekehrt heisst das: Je grösser die Medikamentenpackungen, desto eher vergiften sich Leute damit; je einfacher hohe Türme und Brücken erreichbar sind, desto eher springen Menschen in den Tod; je leichter zugänglich Bahngleise sind, desto mehr stellen sich vor den Zug. Deutlich zeigt das auch eine Studie aus Australien. Dort hat man 2009 erstmals die Schusswaffenregister mit den Todesursachenregistern verglichen. Resultat: Wer eine Schusswaffe besitzt, hat ein doppelt so hohes Suizidrisiko wie jemand ohne Waffe.
Das Ausweichen auf eine andere Tötungsart ist sehr viel seltener, als gängige Vorurteile weismachen wollen. Auch das ist wissenschaftlich belegt. «Wer es tun will, tut es sowieso» – diese oft gehörte Annahme klingt für Suizidforscher Ajdacic ziemlich einfältig. «Weil sie angesichts der vielen Kurzschlusshandlungen schlicht nicht stimmt.»
«Nie wieder!», sagt Daniel Herter. Ein weiterer Suizidversuch ist auch für ihn kein Thema. «Irgendjemand wollte, dass ich weiterlebe. Vielleicht meine Töchter, vielleicht eine höhere Macht. Das nehme ich ernst.» Schon als ihn die Rettungssanitäter auf die Bahre heben, ist er froh, dass er noch lebt, auch wenn ihm schlagartig bewusst wird, dass er sich seinen Problemen stellen muss. «Jetzt sind die Offiziellen da», sagt er sich, «jetzt kannst du nicht mehr weglaufen.» Die Offiziellen, das sind Sanitäter, Ärzte, eine Psychiaterin. Und wovor Herter jetzt nicht mehr weglaufen will, sind Beziehungsprobleme, Spannungen am Arbeitsplatz und das Geständnis, dass er eine Geliebte hat. Das alles belastete den jungen Familienvater seit Monaten so stark, dass er irgendwann nur noch einen Ausweg sah: «Davonlaufen. Schluss machen.»
Dabei hatte alles vielversprechend begonnen. Die Heirat, zwei gesunde Kinder, die Eigentumswohnung im Aargau.
Beträge, die der Bund für Prävention einsetzt (Zahlen aus dem Jahr 2011)
Aber dann wuchsen die Ansprüche. Herter versuchte zu genügen und schaffte es immer weniger. Der neue Chef rügte ihn, Herter fühlte sich ausgenutzt. Kam er am Abend nach Hause, warteten Kinder, Fussballtraining, Umbau. Seine Frau, so empfand es Herter, «forderte nur und gab nichts». Er habe bloss noch funktioniert. Gespürt habe er sich längst nicht mehr. Einfach weitermachen, sich nichts anmerken lassen, liefern: «Ich bin der Typ, der alles allein schaffen will. So habe ich schon als Kind funktioniert.» Das Gefühl, es trotzdem niemandem recht machen zu können, zermürbte Daniel Herter zusehends. Bei seiner Freundin holte er sich Anerkennung und ein schlechtes Gewissen seiner Familie gegenüber. «Uf Tüütsch gseit», sagt Herter, «wollte ich endlich von jemandem gerngehabt werden.»
Lassen sich Menschen wie Daniel Herter durch Einschreiten von aussen von ihrem Vorhaben abbringen? «Ja», sagen Fachleute. Sie gehen davon aus, dass sich ein beträchtlicher Teil der Selbsttötungen durch gezielte Vorbeugungsmassnahmen verhindern liesse. Trotzdem rührt sich die offizielle Schweiz kaum. Der Bund gibt für die Suizidprävention bescheidene 100'000 Franken im Jahr aus. Zur Vermeidung von Verkehrsunfällen sind es rund 20 Millionen Franken. Das ist wichtig und gut für die Sicherheit im Verkehr, aber ein drastisches Missverhältnis angesichts der Tatsache, dass in der Schweiz viermal mehr Menschen durch Suizid zu Tode kommen als auf der Strasse.
2005 anerkannte das Bundesamt für Gesundheit (BAG) in seinem Bericht zu einem Postulat des Luzerner SP-Politikers Hans Widmer Defizite in der Suizidprävention. Namentlich stellte der Bund Handlungsbedarf in den Bereichen Monitoring und Forschung, Evaluation und Wissenstransfer, Koordination und Qualitätssicherung, Öffentlichkeitsarbeit sowie Lancierung konkreter Suizidpräventionsprojekte fest. Doch zuständig seien in erster Linie die Kantone. Seither ist es still geworden um das Thema. «Bund und Kantone sind sich der Problematik durchaus bewusst», versichert sieben Jahre später Daniel Dauwalder, BAG-Mediensprecher. Doch dann wirds kompliziert: Suizid sei «grundsätzlich keine international anerkannte Krankheit», sagt Dauwalder. Jedoch gehe Suiziden in sehr vielen Fällen eine Depression voraus. «Dem Bund fehlen die gesetzlichen Grundlagen, um für diese weitverbreitete und schwere Krankheit die notwendigen Präventionsmassnahmen in den Kantonen finanziell zu unterstützen.» Fazit: Die vom Bund eingesetzten 100'000 Franken fliessen in Koordinationsaufgaben im Bereich psychische Gesundheit – und zu einem grossen Teil in Lizenzkosten für die Beteiligung am deutschen Aktionsprogramm «Bündnis gegen Depression».
«Ein verschämtes Feigenblatt», findet Suizidforscher Vladeta Ajdacic. Und Barbara Weil, Geschäftsführerin des Schweizer Dachverbands für Suizidprävention, sagt, sie habe längst aufgehört, darauf zu warten, dass sich der Bund engagiere. «Da würde ich alt und grau.» Lieber setzt sie das bescheidene Budget von 30'000 Franken ihres Verbands für die Koordination von Programmen und Aktionen in den Kantonen ein und sorgt für die bessere Vernetzung der zuständigen Fachleute. «In vielen Kantonen läuft einiges», sagt Weil optimistisch und verweist auf den Vorzeigekanton Zug. Dort wurde unter der Ägide des FDP-Gesundheitsdirektors Joachim Eder ein «Suizidkonzept» erarbeitet, das als vorbildlich gelobt wird. Es enthält alle Säulen einer erfolgversprechenden Präventionsarbeit: Früherkennung von psychischen Erkrankungen, niederschwellige Hilfe in Krisensituationen, spezifische Prävention für besondere Risikogruppen und die methodenspezifische Prävention – sprich: die Sicherung der beiden Lorzentobelbrücken, von denen häufig Suizidwillige sprangen.
Am Wissen, was zu tun wäre, fehlt es also nicht. Warum tut sich die Schweiz trotzdem so schwer? «Suizid ist nach wie vor ein belastetes Thema, damit lassen sich keine Stimmen holen», sagt Vladeta Ajdacic. «Darum fehlt der politische Druck, etwas zu tun.» Dazu kämen die bereits angesprochenen Vorurteile wie zum Beispiel jenes, dass Suizide gut überlegt seien und dass es Sache des Einzelnen sei, ob er weiterleben wolle oder nicht. «Das Wissen, dass Suizide mit psychischen Erkrankungen einhergehen oder einfach situationsabhängige spontane ‹Unfälle› sind, fehlt.»
Eine aktuelle Umfrage im Auftrag der internationalen Pharmaziefirma Lundbeck bei 1000 Schweizerinnen und Schweizern gibt Ajdacic recht: Nur 6,7 Prozent der Befragten gehen davon aus, dass ein Suizid eine Affekthandlung ist. Mehr als die Hälfte nimmt an, ein solcher Schritt sei von langer Hand geplant und reiflich überlegt. Ein weiteres Ergebnis: Fast die Hälfte aller Befragten kennt jemanden, der durch Suizid ums Leben gekommen ist. In 80 Prozent dieser Todesfälle waren die Befragten überrascht, als sie vom Suizid dieser Person erfahren haben.
Auch Daniel Herters Umfeld fiel aus allen Wolken. «Keine Chance» hätten seine Frau, die Arbeits- oder Fussballkollegen gehabt, zu merken, welch düstere Gedanken ihn quälten, sagt er. «Ich setzte alles daran, mir nichts anmerken zu lassen.» Wenn ihn Kunden fragten, wie es ihm gehe, sagte er: «Alles bestens.» Am Abend, an dem er entschied, seinem Leben ein Ende zu setzen, legte er sich nach dem Nachtessen Wodka, Tabletten und Messer bereit. Dann ging er ins Fussballtraining. «Sicher, dass ich es machen werde, war ich noch nicht.» Ob ihn jemand hätte umstimmen können, weiss Daniel Herter nicht. «Wie auch, ich habe mich ja verhalten wie immer.» Sicher ist, dass Herter, kurz bevor er bewusstlos wurde, seiner Frau und einer Kollegin eine SMS schickte. Er gestand darin den Ehebruch und schrieb, er gehe jetzt an einen besseren Ort. «Total egoistisch» habe er in diesem Moment gehandelt, sagt Herter heute selbstkritisch. Etwas, was er schon kurz nach seiner Rettung nicht mehr nachvollziehen konnte.
Vielleicht ist es Herter darum ein grosses Anliegen, dass mehr Aufklärungsarbeit in Sachen Suizid geleistet wird. «Ich verstecke mich nicht und sage die Wahrheit, wenn mich jemand fragt, was es mit den Narben an meinen Handgelenken auf sich hat», sagt er. «Weil ich überzeugt bin, dass so etwas jedem passieren kann.»
Tatsächlich plagen jede zweite Bewohnerin und jeden zweiten Bewohner der Schweiz im Verlauf des Lebens ernsthafte Selbsttötungsgedanken; jeder Zehnte unternimmt tatsächlich einen oder mehrere Versuche. Die Schweiz gehört damit zu den Ländern Europas mit überdurchschnittlich hoher Suizidrate. Wissenschaftliche Erkenntnisse, weshalb sie so hoch ist, fehlen.
Grundsätzlich sind Protestanten eher suizidgefährdet als Katholiken. Das zeigt sich, wenn man die Kantone vergleicht: Appenzell Ausserrhoden führt die Statistik der Suizidrate an, in der Innerschweiz und im Tessin bringen sich anteilmässig am wenigsten Menschen um. Man geht davon aus, dass der Stellenwert der Familie in katholischen Gebieten höher ist und die Gesellschaft grundsätzlich solidarischer. Beides sind bekannte Schutzmechanismen. Für Soziologen wie Vladeta Ajdacic erklärt das auch die hohe Suizidrate hierzulande: «In der Schweiz sind der Individualismus und die Idee, dass jeder ganz allein mit seinen Problemen klarkommen soll, stark verbreitet.»
Volkswirtschaftlich betrachtet, entstehen durch Selbsttötungen Milliardenschäden. «Allein die direkten Folgekosten eines Suizids liegen in der Schweiz bei 500'000 Franken», sagt Sebastian Haas, Chefarzt der integrierten Psychiatrie in Winterthur (siehe auch das nachfolgende Interview). Hinzu kämen sogenannt indirekte Kosten wie Arbeitsausfälle und Renten für Hinterbliebene.
Was die Selbsttötung eines Menschen an emotionalem Leid mitbringt, lässt sich nicht in Zahlen fassen. «Bei jedem Suizid sind sechs bis acht enge Angehörige mitbetroffen und Dutzende Freunde und Bekannte tief verunsichert», sagt Haas.
Daniel Herters Freunde und Verwandte haben mit ihm eine zweite Chance bekommen. Für seine Ehe kam sie zu spät. Aber mit seinen Vorgesetzten, Fussballkollegen und Freunden ist er im Gespräch. «Alle sagen, ich könne jederzeit zu ihnen kommen. Einige haben mir sogar angeboten, ich könne vorübergehend bei ihnen wohnen, wenn mir wieder einmal die Decke auf den Kopf fallen sollte», sagt der 28-Jährige. «Die Hilfe ist da», sagt er nachdenklich, «jetzt muss ich es nur noch schaffen, sie anzunehmen.»
*Name geändert
Interview
Psychiater Sebastian Haas über den Begriff «Selbstmord» und wie die Schweiz damit umgeht.
Beobachter: Warum hat es die Suizidprävention hierzulande so schwer?
Sebastian Haas: Das Kompetenzgerangel zwischen Bund und Kantonen spielt sicher eine Rolle, genauso wichtig sind aber psychologische Faktoren. Das Thema löst Ängste aus und wird daher stark stigmatisiert – man will damit und mit «denen», die Suizid begehen, nichts zu tun haben. Deutlich wird das nur schon am Begriff «Selbstmord»: Er enthält eine Straftat, macht also das Opfer zum Täter. Bis vor nicht allzu langer Zeit verbannte man Suizidenten auf Friedhöfen in die hinterste Ecke. Sie galten als Sünder. Heute weiss man, dass Selbsttötungen sehr oft Affekthandlungen sind und noch öfter mit einer psychischen Erkrankung einhergehen.
Beobachter: Dieses Wissen setzt sich nur zaghaft durch.
Haas: Ja, weil das Vorurteil, dass Suizidenten ihren Tod von langer Hand geplant haben, die Angst «bindet», selber einmal davon betroffen zu werden. Wenn man davon ausgeht, dass ein Suizid wie ein anderer Unfall jeden Menschen betreffen kann, ist das sehr bedrohlich. Methodenspezifische Prävention wäre ein Eingeständnis dieser Tatsache, darum hat sie es schwer.
Beobachter: Fakten zu kennen scheint nicht zu genügen: Mediziner haben eine höhere Suizidrate als die Normalbevölkerung.
Haas: Das stimmt. Dabei muss man wissen, dass das Know-how um Suizidalität bei Ärzten kaum höher ist als in der Normalbevölkerung. Darum gehört zum Beispiel die Schulung von Hausärzten zu den zentralen Forderungen einer guten Suizidprävention. Die höchste Rate an Suiziden findet sich übrigens bei den Anästhesisten – nicht weil die besonders gestresst sind, sondern einfach weil sie Zugang zu tödlichen Medikamenten haben.
Sebastian Haas ist Psychiater, Psychotherapeut und Mitautor des Expertenberichts des Forums für Suizidprävention und Suizidforschung Zürich.
Anlaufstellen
Ipsilon-Initiative zur Suizidprävention in der Schweiz: www.ipsilon.ch
Sorgentelefon 143 – Dargebotene Hand: www.143.ch
Internetseelsorge – persönliche Hilfe von Fachleuten aus den Bereichen Theologie oder Psychologie: per E-Mail an seelsorge@seelsorge.net oder per SMS (Kurznummer 767; deutsch, französisch, italienisch)
Refugium – Selbsthilfegruppen für Hinterbliebene nach einem Suizid: www.verein-refugium.ch