Es ist 14.20 Uhr, als der Notruf eingeht. In der Kleinstadt Maun hält sich Misha Kruck das gelbe Handy ans Ohr – bereit, gleich wieder aufzulegen. Immer wieder hat es Jux-Anrufe gegeben. Doch diesmal ist es ernst.

Der Anruf kommt aus einem Safari-Camp im Okavango-Delta. Ein Elefant hat einen Jeep angegriffen, eine Verletzte liegt am Unfallort. Kruck löst den Alarm aus, informiert den Piloten und macht sich auf zum nahen Flughafen. Seit sie nach Botswana gekommen ist, besteht ein Grossteil ihres Alltags aus Büroarbeit, aus Delegieren und Verwalten. Jetzt aber ist alles wieder so wie früher, als sie mit der Rega unterwegs war. Jetzt zählt jede Minute.

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Innerhalb weniger Stunden im Spital

Um 14.50 Uhr ist der rote Helikopter der Okavango Air Rescue in der Luft, 45 Minuten später landet er am Unfallort, ringsum Büsche, Gras, und da: der zerstörte Jeep. Mit voller Wucht hat das Elefantenweibchen den Wagen gerammt, ihn vor sich her gerollt und auf dem Dach liegen gelassen. Die Frau wurde durchs Wageninnere geschleudert wie in einer überdimensionalen Waschmaschine. Die Folgen: blaue Flecken, Gesichtsfraktur, die Augen zugeschwollen. Misha Kruck und ihr Pilot verladen die Verletzte in den Helikopter, fliegen sie nach Maun und transferieren sie per Flugzeug weiter in die Hauptstadt Gaborone. Was früher unendlich lange gedauert hätte, gelingt nun innerhalb weniger Stunden. Bereits am Abend liegt die Frau im bestausgerüsteten Spital des Landes – gerettet von der Okavango Air Rescue, von der Rega des Südens.

Ein Bild der Verwüstung: Misha Kruck verarztet eine Verletzte nach dem Angriff einer Elefantenkuh.

Quelle: Jan Baumgartner

In der Schweiz gilt die Rettungsflugwacht längst als selbstverständlich. Zweieinhalb Millionen Gönner zählen im Notfall auf die Rega. Das war nicht immer so: Bis 1946 mussten in Not geratene Menschen in den Bergen auf dem Landweg gerettet werden – erst dann nahmen wagemutige Piloten das Heft in die Hand. Sie landeten mit Flugzeugen auf Gletschern, flogen erste Helikopterrettungen und gründeten die Schweizerische Rettungsflugwacht. Eine Geschichte, die sich jetzt im südlichen Afrika wiederholt.

Sie war früher Rega-Ärztin

In nur drei Jahren haben der Schweizer Unternehmer Christian Gross und die deutsche Ärztin Misha Kruck mit der Okavango Air Rescue eine Rega-Tochter aufgebaut, die sich sehen lassen kann. Oder eher: ein Rega-Stiefkind. «Eine offizielle Verbindung zum Schweizer Original gibt es nicht», sagt Kruck. «Aber die Rega ist zu hundert Prozent unser Vorbild.» Sie haben das Gönnermodell übernommen, haben ausgediente Ausrüstung der Rettungsflugwacht erhalten, profitieren vom Wissen einer ehemaligen Rega-Ärztin und verfolgen dasselbe Ziel.

«Mit einem Unterschied», sagt Misha Kruck: «Wir holen die Leute aus dem Busch statt aus den Bergen.» Maun mit seinen 50'000 Einwohnern ist Ausgangspunkt für Safaris ins Okavango-Delta. Das Unesco-Welterbe, eines der grössten und tierreichsten Feuchtgebiete Afrikas, zieht jährlich weit über 100'000 Besucher an.

Quelle: Jan Baumgartner

Basis von Air Rescue: «The Village» in Maun, Botswana.

Quelle: Jan Baumgartner

Vier bis fünf Einsätze fliegt Misha Kruck pro Monat – Schlaganfälle, Herzinfarkte, Verkehrsunfälle oder eben: Tierattacken. Extreme Situationen ist sie sich gewohnt. 1995 flog sie erstmals mit der Rega, als Anästhesistin am Unispital Basel. Später arbeitete sie in Genf, war als Freiwillige an Wochenenden im Einsatz. Dann war sie in Thusis als Chefärztin Anästhesie und Rettung tätig. «Eine gute Vorbereitung auf Botswana», sagt Misha Kruck. Das Land im Herzen Afrikas ist 14-mal grösser als die Schweiz und zählt bloss zwei Millionen Einwohner.

In Graubünden baute Misha Kruck einen Rettungsdienst am Boden auf, mit beschränkten Mitteln, ähnlich wie in Maun. Dann trat Christian Gross in ihr Leben. Das Abenteuer begann.

Im Juni 2010 reist das Paar, beide Mitte fünfzig, erstmals nach Botswana. Das Land gefällt ihnen sofort: wenig Korruption, die Ehrlichkeit der Leute, der relative Wohlstand, die Natur. Noch während des ersten Aufenthalts kaufen Kruck und Gross ein Stück Land in Maun, das sie entwickeln und vermieten wollen. Sie investieren in Immobilien, wollen sich den Rücken für ihr Hobby freihalten.

«Wer Zweifel hat, sollte gar nicht erst anfangen.»

Christian Gross, Unternehmer

Doch Christian Gross ist kein Mann für halbe Sachen. Aus der Idee, eine kleine Flugrettung für das Okavango-Delta aufzubauen, ist innert dreier Jahre eine Firma entstanden, die 15 Leute beschäftigt und ganz Botswana ins Visier nimmt. Natürlich sei es eine gewaltige Herausforderung, eine solche Organisation in einem fremden Land aufzubauen, sagt der Schweizer. Aber Zweifel? Er winkt ab. «Wer Zweifel hat, sollte gar nicht erst anfangen.»

Als junger Matrose ist Gross in den Arabischen Emiraten hängen geblieben, hat eine Zuchtstation für den gefährdeten Arabischen Leoparden aufgebaut und ein Wildlife Center sowie ein Aquarium mit Meerestieren für die Scheichs. Noch immer verdient seine Firma in den Emiraten gutes Geld – Gross’ Augenmerk aber gilt längst seinem jüngsten Baby.

Drei Notfallärzte, zwei Ärzte und zwei Pflegerinnen umfasst das medizinische Personal der Air Rescue mittlerweile. Noch zahlen sich die Gründer keinen Lohn, schiessen aber auch kein Geld mehr ein. Nach drei Jahren ist für Gross klar: «Das Rega-System funktioniert in Botswana – wenn auch mit gewissen Anpassungen.»

Wer wird ihr Werk weiterführen?

So nutzt die Okavango Air Rescue zwar das Gönnermodell, das der Rega stetige Einnahmen garantiert. «Doch wir sind noch zu klein, um uns allein darauf zu stützen.» Rund 10'000 Gönner zählt die Firma – ein Grossteil sind Touristen, die über ihr Safari-Unternehmen angemeldet wurden. Weil diese Einnahmen nicht für den Betrieb des Helikopters reichen, wird die Luftrettung vorerst durch Erste-Hilfe-Kurse und das Abdecken der Gesundheitsversorgung in Safari-Camps querfinanziert. Die Air Rescue ist anders als die Rega nicht als Stiftung, sondern als profitorientierte Firma aufgebaut. Gross glaubt nicht, dass eine Stiftung in Botswana lange überleben würde: «Wir werden beide nicht jünger. Wenn wir Gewinn erwirtschaften, steigt die Chance, dass nach unserem Abgang jemand weitermacht.»

Schon wieder so ein heisser Tag, schon wieder kein Regen. Christian Gross und Misha Kruck sitzen auf der Veranda beim Abendessen, hinter ihnen ihr Haus, vor ihnen der Garten, eine Landschaft wie aus dem Bilderbuch. Palmen und Pool im Vordergrund, dann ein Zaun, der wilde Tiere abhalten soll, und dahinter: der Fluss Thamalakane, der seit Monaten zu wenig Wasser führt. Hier draussen, eine kurze Autofahrt von Maun entfernt, haben sich die beiden Auswanderer ihr kleines Paradies geschaffen.

Das Anwesen ist das beste Beispiel dafür, mit welchem Ehrgeiz, welcher Geschwindigkeit Gross und Kruck ihre Umwelt verändern. Aus dem Nichts haben sie hier eine Ranch errichtet. Aus dem Nichts haben sie in Maun ein Ärztezentrum mit angrenzendem Restaurant erbaut. Aus dem Nichts revolutionieren sie gerade das Rettungswesen Botswanas.

Rettung aus der Luft in einem Land, das 14-mal grösser ist als die Schweiz: das Team der Air Rescue in Botswana.

Quelle: Jan Baumgartner

Doch nicht immer läuft dabei alles rund. Besonders die anfängliche Zurückhaltung der potenziellen Kundschaft und die Suche nach medizinischem Personal haben den beiden zu schaffen gemacht. Dass es so schwer war, Fachkräfte zu finden, habe sie überrascht, sagt Christian Gross. «Es werden viel weniger Leute ausgebildet als in der Schweiz. Und wer ausgebildet wird, arbeitet eher im Spital.» Zudem hätten vor allem die grösseren Safari-Firmen skeptisch auf das neue Angebot reagiert und abgewartet, wie lange sich Air Rescue halten werde.

Botswana und die Schweiz seien viel ähnlicher, als man denke – zumindest aus der Perspektive eines Firmengründers. Beide Länder haben eine kleine und im regionalen Vergleich wohlhabende Population. Beide ziehen zahlreiche Touristen und Arbeitskräfte aus dem Ausland an. Und: Beide verfügen über grössere Gebiete, die mit konventionellen Verkehrsmitteln nur schwer erreichbar sind – und in denen Besucher einem erhöhten Risiko ausgesetzt sind.

Sie wollen weitere Helikopter kaufen

Bei so viel Ähnlichkeiten: Wird die Okavango Air Rescue für Botswana mal das sein, was die Rega für die Schweiz ist? «Das ist unser grosses Ziel», sagt Christian Gross. Schon heute würden die Menschen in Maun dem roten Helikopter zuwinken, wenn er über ihre Köpfe fliegt. «Die Leute sind stolz auf die Rescue. Aber unser Potenzial ist noch lange nicht ausgeschöpft.»

150 Pula im Jahr kostet eine Mitgliedschaft, rund 15 Franken oder eine Dose Bier pro Monat. Der grösste Teil der Bevölkerung kann sich das leisten – doch um zu wachsen, müsste die Air Rescue ganz Botswana abdecken. Das Problem bislang: Um das Operationsgebiet auszuweiten, braucht es zusätzliche Helikopter. Diese sind aber nur dann sinnvoll, wenn die Kundschaft im ganzen Land verteilt ist. Diesen Teufelskreis will Christian Gross 2016 durchbrechen.

Zwei zusätzliche Helikopter sollen in Francistown und Gaborone stationiert werden. Und um Transfers zwischen den Städten und ins nahe Ausland zu ermöglichen, hat die Firma eine Propellermaschine Pilatus P-12 erstanden – Schweizer Qualität zum Occasionspreis von 1,4 Millionen Dollar. Sie hätten die Wahl, sagt Gross. «Entweder wir bleiben in Maun, machen weiter wie bisher und pensionieren uns dann. Oder wir bauen die wohl beste medizinische Evakuation in ganz Afrika auf.»