Ihr neues Buch zur künstlichen Intelligenz heisst «Realitätsverlust. Wie KI und virtuelle Welten von uns Besitz ergreifen – und die Menschlichkeit bedrohen». Übertreiben Sie da nicht ein bisschen? 
Joachim Bauer: Lassen Sie mich vorausschicken: Ich bin nicht gegen digitale Produkte. Ich habe ein Smartphone, benutze einen Computer und recherchiere im Internet. Auch ChatGPT habe ich ausprobiert. Diese Produkte können unser Leben bereichern. Voraussetzung ist aber, dass wir sie als Werkzeug nutzen, anstatt uns zu ihren Werkzeugen machen zu lassen. Und wir sind jetzt daran, einen Kipppunkt zu überschreiten.

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Was meinen Sie konkret damit? 
Games und soziale Medien entfalten auf einen Teil der Menschen eine ungeheure Sogwirkung. Vor allem jüngere Menschen haben den Schwerpunkt ihres Lebens in die digitalen Kanäle verlegt und verbringen dort täglich viele Stunden. Manche sind ständig auf ihrem Account. Doch leider scheint das Versprechen der sozialen Medien, mit anderen gut verbunden zu sein, nicht zu halten. Den Betroffenen geht es eher schlechter als besser.

«Der Mensch ist ein Kind der Evolution und für das Leben in der analogen Welt gemacht.»

Ganz ähnlich beim Gaming: Im Cockpit seines Videospielzimmers zu sitzen und zu shooten, mag zwar ein Gefühl von Selbstwirksamkeit und Grandiosität vermitteln. Doch unter dem Strich resultieren Vereinzelung und eine Vernachlässigung des realen Lebens. Nun ist mit ChatGPT eine weitere Anwendung zugänglich geworden, die das Zeug dazu hat, Menschen vom realen Leben abzuhalten.

Sind denn Gamen und die Beschäftigung mit den sozialen Medien nicht reales Leben? 
Die Frage ist, ob diese Angebote unser Leben bereichern oder unsere Entwicklungsmöglichkeiten einengen. Der Mensch ist ein Kind der Evolution und für das Leben in der analogen Welt gemacht. Unser Körper braucht Bewegung, das Erleben von realer Natur und insbesondere analoge zwischenmenschliche Begegnungen, sonst werden wir physisch und psychisch krank.

Joachim Bauer

Joachim Bauer: «Wenn künstliche Intelligenz uns abhängig, hilflos und manipulierbar macht, läuft etwas falsch.»

Quelle: Getty Images

Das sehen Elon Musk oder ChatGPT-Erfinder Sam Altman wohl anders. 
Natürlich, denn es ist ihr Geschäftsmodell. Dazu gehört auch eine neue Philosophie: der sogenannte Transhumanismus. Er wird nun auch vom renommierten australisch-amerikanischen Philosophen David Chalmers vertreten. Auch der israelische Historiker Yuval Noah Harari gehört zu den Anhängern. Der Transhumanismus suggeriert, dass die analoge Realität ein Auslaufmodell sei – inklusive der Körperlichkeit des Menschen. Seine Vordenker beschreiben den Menschen als Maschine, die man irgendwann digital simulieren und ersetzen könne. Unser Leben werde künftig in virtuellen Welten, konkret: im Metaversum, stattfinden. Chalmers verspricht allen Ernstes ewiges Leben, wenn wir unseren Geist in einen Computer «uploaden».

«Zwischen der psychischen Gesundheit des Menschen und der Gewissheit einer verlässlichen Realität besteht ein wechselseitiger Zusammenhang.»

Die Frage, ob der Mensch mehr ist als bloss eine biologische Maschine, ist eine uralte philosophische Kontroverse. Chalmers denkt nun diesen Disput weiter und berücksichtigt dabei den technologischen Fortschritt. Wo ist das Problem?
Chalmers verwischt die Grenze zwischen Realität und Virtualität. Digitale Simulationen sind für ihn genauso real wie die analoge Wirklichkeit. Zugleich hält er es für wahrscheinlich, dass die Welt der analogen Realität einschliesslich aller naturwissenschaftlichen Tatsachen selbst eine digitale Simulation sei, inszeniert von einer uns unbekannten höheren Stelle. Das ist eine abenteuerliche Umdeutung unserer Wirklichkeit. Zwischen der psychischen Gesundheit des Menschen und der Gewissheit einer verlässlichen Realität besteht ein wechselseitiger Zusammenhang. Wenn die Wahrheit ständig verhandelbar ist und es keine sozial geteilte Wahrnehmung der Welt gibt, kann das zu schweren Entfremdungsgefühlen bis hin zu Psychosen führen. Chalmers’ Ideen vom ewigen Leben in einem digitalen Jenseits ähneln übrigens verblüffend den Heilsversprechen des Mittelalters. Damals war es religiöse Mystik, heute ist es digitale. Beiden gemeinsam ist das Abkassieren: früher der Ablasshandel, heute der Kauf digitaler Produkte.

Das ist ein erstaunlicher Vergleich. 
Die meisten Menschen, die im Mittelalter lebten, waren arm sowie macht- und rechtlos. Sie mussten hart arbeiten, um die vom Adel und von den Klöstern geforderten Abgaben zu erwirtschaften. Die Religion versprach dafür eine Jenseitswelt, in der es sich frei, glücklich und ewig leben lässt. Heute stehen hinter der digitalen Mystik machtvolle Konzerne mit handfesten wirtschaftlichen und politischen Interessen. Sie versuchen, ihre Produkte als unverzichtbaren Bestandteil des menschlichen Lebens darzustellen, damit sie ihre Umsätze maximieren können. Ohne dass uns das bewusst ist, wird uns suggeriert, dass wir ohne digitale Produkte nicht vollwertig seien und wir diese unbedingt für ein gutes Leben bräuchten.


Eine grosse Mehrheit der Schweizer Wirtschaftsführer, aber auch Unternehmensberater wie McKinsey oder die Investmenbank Goldman Sachs sehen in KI-Anwendungen ein riesiges Potenzial. Daran ist doch nichts Schlechtes? 
Nein. Problematisch ist aber die merkwürdige Ehrfurcht, die diese Anwendungen vielerorts auslösen. Es wird eine Stimmung geschaffen: «Jetzt dürfen wir ja nichts verpassen.» Wo digitale Systeme im Einsatz sind, da seien wir up to date. Dort hingegen, wo immer noch Menschen mit Menschen zu tun haben, bestehe dringender Bedarf an Abhilfe. Diese Einschüchterung ist von den Anbietern der digitalen Mystik durchaus gewollt. Wir sollten uns aber davon nicht beeindrucken lassen. Vielmehr sollte uns Sorgen machen, dass diese digitalen Systeme durch einige wenige, nicht im Entferntesten demokratisch legitimierte Monopole beherrscht werden.

«Entscheidend ist einzig die Frage, ob die Systeme uns dienen oder uns beherrschen.»

Also brauchen wir mehr Kontrolle und Regulierungen? 
Eine Debatte, die für oder gegen digitale Systeme, für oder gegen digitale Endgeräte geführt wird, läuft falsch. Entscheidend ist einzig die Frage, ob die Systeme uns dienen oder uns beherrschen. Wenn Anwendungen mit künstlicher Intelligenz uns entwerten und uns abhängig, hilflos und manipulierbar machen, läuft etwas falsch. Wir müssen unser Selbstbewusstsein wiedergewinnen, indem wir aus dem passiven Konsumentenmodus herauskommen, in den uns viele digitale Produkte geführt haben. Und vergessen wir nicht: Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass analog erlebte soziale Verbundenheit zu den wichtigsten Faktoren gehört, die uns vor Krankheit schützen und unsere Lebenszufriedenheit erhöhen. 

 

Zur Person

Joachim Bauer ist Arzt, Neurowissenschaftler und Psychotherapeut. Nach langer Tätigkeit an der Universität Freiburg ist er heute Gastprofessor an der International Psychoanalytic University in Berlin. In seinem aktuellen Buch «Realitätsverlust» beschreibt Bauer, wie KI und virtuelle Welten von uns Besitz ergreifen und die Menschlichkeit bedrohen.

Buchtipps

  • Joachim Bauer: «Realitätsverlust. Wie KI und virtuelle Welten von uns Besitz ergreifen – und die Menschlichkeit bedrohen»
  • David J. Chalmers: «Realität+. Virtuelle Welten und die Probleme der Philosophie. Wie VR, AR und KI uns dabei helfen, die tiefsten Menschheitsrätsel zu lösen»
  • Yuval Noah Harari: «Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen»