Bleiben Sie skeptisch!
Auch im Ukrainekrieg haben Unwahrheiten und Desinformationskampagnen Hochkonjunktur. Doch vieles lässt sich mit einfachen Mitteln entlarven.
Veröffentlicht am 15. März 2022 - 12:06 Uhr
Wenn Bertolt Brecht bloss geahnt hätte, was er sich da wünschte: «Der Rundfunk wäre der denkbar grossartigste Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens», schrieb der deutsche Dramatiker Anfang der 1930er-Jahre in seiner Radiotheorie, «[…] wenn er es verstünde, nicht nur auszusenden, sondern auch zu empfangen, also den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu machen und ihn nicht zu isolieren, sondern ihn auch in Beziehung zu setzen.» Ein knappes Jahrhundert später ist Brechts Wunsch Realität – dank sozialen Netzwerken wie Facebook, Twitter, Tiktok oder Instagram.
Gerade in Krisenzeiten ist dieser «grossartige Kommunikationsapparat» besonders anfällig für Desinformation. Diese Fake News werden immer raffinierter verpackt und verbreitet. Im Mai 2021 machte etwa der französische Videoblogger Léo Grasset ein unmoralisches Angebot publik. Eine Agentur namens Fazze bot ihm Geld, wenn er in einem Beitrag den Impfstoff von AstraZeneca in Zweifel ziehe, ohne dies als bezahlte Kampagne zu kennzeichnen und die Agentur als Auftraggeberin anzugeben. Grasset lehnte ab. Die – nicht mit letzter Sicherheit bewiesene – Vermutung: Hinter dem plumpen Beeinflussungsversuch steckten staatliche russische Stellen.
Kürzlich machte ein Video auf Tiktok aus der Ukraine Furore: eine herzzerreissende Szene, in der sich ein ukrainischer Soldat von seiner Freundin verabschiedet, bevor er in den Krieg zieht. Die kurze Sequenz wurde jedoch schnell als Ausschnitt aus einem ukrainischen Film aus dem Jahr 2017 entlarvt.
Wer in sozialen Netzwerken Nachrichten weitergibt, tut deshalb gut daran, deren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Ein paar Verhaltensregeln und Recherchetechniken helfen, Fake News zu erkennen und einzudämmen.
- Woher stammt die Nachricht? Posten Sie nur Inhalte aus vertrauenswürdigen, überprüfbaren Quellen. Fake News verbreiten sich nicht zuletzt so schnell, weil sie auf den ersten Blick glaubwürdig und plausibel erscheinen. Versuchen Sie deshalb, herauszufinden, von wem die Nachricht ursprünglich verbreitet wurde, und fragen Sie sich: Ist diese Person oder Quelle vertrauenswürdig?
- Haben die Ereignisse tatsächlich so stattgefunden? Ein einzelner Post auf Facebook oder Twitter reicht nicht, um etwas als wahr einzustufen. Suchen Sie unbedingt nach weiteren, voneinander unabhängigen Schilderungen und Quellen. Aber Achtung: Völlig gleich lautende Meldungen bedeuten letztlich nur, dass andere die Nachricht einfach kopiert haben.
In seriösen Redaktionen gilt das Zwei-Quellen-Prinzip. Eine Nachricht darf nicht weiterverbreitet werden, wenn sie nicht von mindestens zwei unabhängigen Quellen bestätigt wurde. Suchen Sie deshalb auch in etablierten Print- und elektronischen Medien nach der entsprechenden Nachricht. - Kontrollieren Sie die Zahlen. Mit Statistiken lässt sich viel Unfug anstellen. Die dafür verwendeten Daten sind häufig auch auf offiziellen Websites einsehbar, etwa bei statistischen Ämtern oder auf anderen Behörden-Websites. Klären Sie ab, ob die Zahlen stimmen und das aussagen, was behauptet wird.
- Überprüfen Sie Zitate, die jemandem zugeschrieben werden. Dazu setzen Sie einfach das entsprechende Zitat in Anführungszeichen in das Suchfeld einer Suchmaschine wie Google oder Duckduckgo.
- Schauen Sie Bilder sehr genau an. Tragen die Menschen der Jahreszeit entsprechende Kleider? Passen abgebildete Gebäude in die Gegend, in der das Bild angeblich aufgenommen wurde? Entdecken Sie Bildelemente, die nicht zur Szenerie passen? Folgen Sie mit der «Reverse»-Suche der Spur eines Bilds. Dazu speichern Sie das Bild auf Ihrem Computer und gehen dann zum Beispiel auf images.google.com oder yandex.com/images und laden es dort hoch.
Vor allem aber: Bleiben Sie skeptisch! In Krisenzeiten versuchen viele Akteure, ihre eigenen Wahrheiten zu verbreiten. Der von Brecht gewünschte «Kommunikationsapparat», mit dem alle empfangen und senden können, ist nicht nur Segen, sondern oftmals auch Fluch.
Apropos Brecht: «Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin» – diese Worte soll er einst geschrieben haben. Wirklich? Googeln Sie mal.
Factchecking ist eine journalistische Disziplin, die einiges an Erfahrung voraussetzt. In den vergangenen Jahren sind verschiedene Projekte entstanden, die mit professionellen Mitteln Behauptungen, Bilder und Videos aus dem Netz überprüfen. Eine Auswahl:
- Mimikama.at
Der österreichische Verein entlarvt seit 2011 Falschmeldungen im Internet. Zum Ukrainekrieg hat er einen Liveblog aufgeschaltet und überprüft fast rund um die Uhr Posts in sozialen Medien. - Correctiv.org
Das spendenfinanzierte Recherchezentrum aus Berlin ist bekannt für sehr gründliche Analysen von Internet-Posts. - Bellingcat.com
Diese Seite hat unter Faktencheckern mittlerweile schon fast Legendenstatus. Die Mitarbeitenden des internationalen Recherchekollektivs analysieren in unermüdlicher Kleinarbeit und mit forensischen Methoden Berichte aus Krisengebieten. Gute Englischkenntnisse und ein langer Atem helfen bei der Lektüre.
Online-Informationen von Texten, Bildern und Videos einschätzen und verifizieren können. Darum geht es beim Beobachter-Kurs «So erkenne ich Fake News».
Der Kurs findet am Dienstag, 05. April 2022, als Zusatzveranstaltung statt, da der gleiche Kurs vom 22. März innerhalb kurzer Zeit ausgebucht war.
Kosten: 30 Franken, für Beobachter-Mitglieder 15 Franken.
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5 Kommentare
Roger Köppel, Weltwoche-Herausgeber, begleitet Viktor Orbán - EU-Ratspräsident - auf seiner Friedensmission nach Kiew.
Immerhin: Mainstream-Journalist:innen haben es bisher nicht geschafft, bis in den Selenskyj-Palast vorzudringen.
Über Russlands Forderungen seit Jahren, über die Anamnese las ich nichts; nur Einseitiges im Ukraine-Beobachter. Dass Sie Correctiv und Bellingcat als "unter Faktencheckern mittlerweile schon fast Legendenstatus" empfehlen, gibt mir den Rest. Mein Demokratieverständnis und presserat.ch fordern, dass beide Seiten zu Wort kommen (für mich "legendär" ist beispielsweise Dirk Pohlmann). Ich lese seit jeher den Beobachter, aber nun auf meine alten Tage sehe ich mich gezwungen, das Abo zu kündigen. Diese "Berichterstattung" betrachte ich als "Werbung", die ich nicht mal gratis lesen würde.
Haben Sie schon einmal von "False Balance" gehört? Offensichtlich nicht.
@ Christoph Staub Bitte suggerieren Sie hier nicht fälschlich über mich.
1) "False Balance" könnten Sie Galilei vorwerfen, im Irrglauben, dass die Mehrheit stets Recht habe.
2) Worte wie "False Balance", "Whataboutism", "Verschwörungstheoretiker", vgl. auch Buch "Merchants of Doubt", stammen zumindest teils von der CIA und zielen aus meiner Sicht auf ein Denkverbot, auf eine Diskreditierung kritischer Demokraten (sowohl JFK wie Bürgerrechtler MLK, beide ermordet, hatten Feinde in höchsten US-Kreisen).
Mein Fazit: Demokratie heisst für mich Denkförderung, konstruktive Argumente, nicht Denkverfemung, nicht Medienmonokultur.
"Von den neuen Antennen kamen die alten Dummheiten. Die Weisheit wurde weiterhin von Mund zu Mund weitergegeben."
auch Brecht