«Wie mit diesen Gefühlen umgehen?»
Der Krieg in der Ukraine löst in uns ein Gefühlschaos von Angst und Verärgerung aus. Wer sich auf die inneren Werte besinnt, kann die Ohnmacht ein Stück weit überwinden.
Veröffentlicht am 1. März 2022 - 11:40 Uhr
Leserfrage: «Der Krieg in der Ukraine belastet mich. Ich bin wütend und habe Angst. Wie kann ich damit umgehen?»
Sie beschreiben sich als politisch interessiert, das Weltgeschehen ist Ihnen wichtig. Sie erachten sich als grundsätzlichen Optimisten, der überzeugt ist, dass sich viele Dinge in den letzten fünfzig Jahren verbessert haben. Sie erachten sich auch als recht standfest, Sie mussten in Ihrem Leben schon einige Schicksalsschläge überwinden.
Der 24. Februar hat Sie unerwartet aus dem Gleichgewicht geworfen, wie eine Welle von hinten am Strand. Sie spüren die Wut wie eine Faust im Bauch, Wut auf Putin und seine Oligarchen. Und unerwartet verunsichert sind Sie, wie noch selten in Ihrem Leben. Die Angst ist ebenfalls im Bauch , hat aber etwas Dumpfes, Unklares und Diffuses. Wenn sich die Welt in so kurzer Zeit verändert und Sie es nicht mal kommen sahen, was kommt da noch?
Als Ihre Tochter Sie beim Zubettgehen fragte, ob alles gut werde in der Ukraine, fühlten Sie sich sehr unsicher, und das «Doch, klar» wirkte nicht echt. Der anschliessende Rückzug in Ihre rationale Welt mit etwas distanziertem Blick aufs Weltgeschehen wollte auch mit einem Glas Wein nicht so recht gelingen.
Hilfreich kann eine bewusstere Unterscheidung zwischen Gefühlen, Werten und Handlungen sein. Ihre Gefühle, die Mischung aus Angst, Verunsicherung, Hilflosigkeit und Wut sind eine normale Reaktion auf eine nicht normale Situation.
Lassen Sie diese Gefühle zu. Auch wenn Ihre Tochter dabei ist. Wir stellen uns alle vor, wie es wohl für uns wäre, mit unseren Liebsten in Charkiw, Kiew oder Odessa zu leben und Angst um unser Leben zu haben. Wir entwickeln Mitgefühl mit den bedrohten Menschen und Wut auf die Aggressoren. Wir können uns auch in die jungen russischen Soldaten hineinversetzen und uns vorstellen, es wären unsere Söhne. Auch das tut weh und macht hilflos.
«Werte sind tief in uns verankert und sind beständig. Werte sind unser Kompass in der Krise.»
Thomas Ihde, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH
Es ist leider eine Realität, dass wir uns bei Krisen, die weit entfernt sind, rasch wieder dem Alltag zuwenden und sich die Gefühle von selbst regulieren – die Evolution wollte es wohl so. Bei dieser Krise liegen aber gar nicht so viele Dominosteine zwischen dem Krieg und uns. Bei der Drohung mit Atomwaffen oder Tschernobyl ist es sogar nur einer – ein riesiger.
Etwas schamhaft schreiben Sie, dass Sie sich überlegt haben, Notvorräte einzukaufen. Sie stellen sich also auch ein Szenario hier zu Hause vor. Angst soll uns warnen. Angst soll uns wecken. Aktuell soll uns die Rückkehr in eine abgeklärte, rationale oder vielleicht auch zynische Weltsicht nicht gelingen. Auch das will die Evolution zum Glück so.
Zur Unterscheidung von Gefühlen, Werten und Handlungen kann ein Baum als Sinnbild dienen. Bei stärkerem Wind flattern die Blätter, der Baum verliert auch einige. Das entspricht unseren Gefühlen oder emotionalen Regungen. Zentraler sind aber der Stamm und dessen Verwurzelung im Boden. Es sind die Wurzeln, die ihn auch grosse Stürme überleben lassen. Unsere Wurzeln sind unsere Werte. Werte entstehen durch alle gelebten Erfahrungen und die damit verbundenen Gefühle. Werte sind tief in uns verankert und sind beständig. Werte sind unser Kompass in der Krise.
Wenn man Ukrainer und Ukrainerinnen oder gerade auch deren Präsidenten am Fernsehen sieht, sprechen sie oft von Werten. Es sind ihre Werte, die sie die Angst überwinden lassen und sie der russischen Armee entgegentreten lassen.
Handlungen können sich an den Gefühlen orientieren, sollten es aber vor allem an Werten tun. Wenn Ihre Tochter erneut fragt, ob alles gut wird: Sagen Sie ihr, dass auch Sie Angst haben und dass Angst in einer solchen Situation normal ist. Wärmen Sie zusammen ein Kirschsteinkissen und legen Sie es sich gegenseitig auf den Bauch, so lässt sich die Angst besser ertragen. Umarmen Sie sie und sagen Sie ihr, dass Sie als Familie zusammen die Krise meistern werden und alle Menschen für das einstehen müssen, was ihnen wichtig ist. Lassen Sie sie Vorschläge machen, wie sie für das einstehen könnte, was ihr wichtig ist. Vielleicht will sie ihr Taschengeld für Flüchtlinge aus der Ukraine spenden oder Herrn Putin einen Brief schreiben und an die russische Botschaft schicken.
Als Erwachsener ist es eigentlich nicht gross anders. Einige Dinge sind vielleicht eher symbolischer Natur, geben uns das Gefühl, etwas tun zu können. Kontrolle und auch symbolische Kontrolle hilft gegen Angst und Verunsicherung. Kinder sind aber oft mutiger und klarer als wir in ihren Handlungen. Ihre Tochter spendet nicht einen kleinen Bruchteil ihres Taschengelds, nein, sondern alles. Nicht gegen die Angst, sondern gemäss ihren inneren Werten.
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2 Kommentare
Als alleinstehender Mensch ohne Partner und (unfreiwillig) ohne Kinder fühle mich mich in der aktuellen Situation sehr allein. Es wäre anständig vom Beobachter zu anerkennen, dass auch Menschen die keine Eltern sind, Angst haben vor dem Krieg. Ich habe nicht nur Angst um mich, sondern auch um meine betagten Eltern, meinen Göttibub, meine Nichte, meine Verwandten in einem südeuropäischen Land usw. Bitte hören Sie auf damit, ständig Kinder zu nutzen, um zu verstärken oder rechtfertigen, warum jemand das Recht hat, sich Sorgen zu machen. Es ist diskriminierend.
Liebe Frau Kontantindis, das tut mir leid, dass Sie darunter leiden keine eigene Kinder bekommen zu haben. Der Artikel wendet sich an eine breite Bevölkerungsschicht. Das finde ich gut, auch wenn ich meine Angst, sowie Sie nicht mit Kindern teilen kann. Ich finde den Text hilfreich und regt zum Nachdenken an. Ein "Recht" sich Sorgen zu machen hat jeder von uns, ich glaube, wir müssen uns selbst das "Recht" erstmal zugestehen. Alles Gute für Sie.