«Da kann der Staat doch nicht einfach zusehen»
Cindy Kronenberg hat ihre Vergewaltigung öffentlich gemacht. Die Gewinnerin des Prix Courage 2021 will ein Programm zur Prävention für Schulen ausarbeiten – und kritisiert, dass der Staat zu wenig tue.
Veröffentlicht am 17. Februar 2022 - 18:28 Uhr
Als Cindy Kronenberg im September 2020 an ihrem Laptop sass und auf die Enter-Taste drückte, fühlte sie sich, als habe sie sich gerade nackt ausgezogen.
«Lieber Vergewaltiger, liebe Freunde», lautete die Überschrift ihres Facebook-Posts. Sie beschrieb, wie sie 2015 am Rande eines Musikfestivals vergewaltigt wurde und was sie erlebte, als sie den Täter zwei Jahre später anzeigte. Zum Beispiel, dass man ihr bei der Polizei sagte, sie sei mitverantwortlich dafür, dass der Täter in der Zwischenzeit möglicherweise weitere Opfer vergewaltigt habe. Oder dass eine Versicherung nicht zahlen wollte.
Via Facebook bat sie um Inputs und um Hilfe dabei, eine Website aufzubauen für andere Betroffene – und sie bekam viel mehr. Hunderte Kommentare, die ihr zu ihrem Mut gratulierten. Dankesschreiben. Und Zuschriften von viel zu vielen Frauen, denen Ähnliches widerfahren war, die sich ähnlich fühlten und die die gleichen Selbstzweifel quälten.
«Da wusste ich: Es war richtig, das zu tun. Ich bin nicht allein, und es muss sich vieles ändern», sagt Cindy Kronenberg heute.
Ihren Schritt an die Öffentlichkeit hat sie nicht bereut. Sie bedauere aber manchmal, dass sie heute nicht mehr selbst entscheiden könne, wem sie von ihrer Vergewaltigung erzähle und wem nicht. «Man muss nur meinen Namen googeln, dann erfährt man alles.» Nicht jede neue Bekanntschaft könne mit diesem Wissen umgehen. «Andererseits ist es vielleicht auch einfach so, dass diese Menschen ohnehin nicht zu mir passen.»
Auf ihrer Website Vergewaltigt.ch berichtet Cindy Kronenberg von ihren Erfahrungen, damit andere Frauen sehen, was sie etwa bei Einvernahmen erwarten können oder welche Rechte sie haben. Sie begleitet Betroffene zur Polizei und vermittelt Fachpersonen. Sie initiiert Austauschcafés. Ausserdem setzt sie sich ein für die Zustimmungslösung im Sexualstrafrecht , das derzeit überarbeitet wird.
Ein Nein ohne Worte zählt auch
Als sie letzten Herbst den Prix Courage erhielt , kamen Gratulationen auch von Jugendlichen, mit denen sie als ausgebildete soziokulturelle Animatorin beruflich zu tun hat. «Daraus haben sich viele gute Gespräche ergeben über ihre Erfahrungen und Beziehungen», sagt Cindy Kronenberg. «Aber auch zu Fragen wie: warum Einverständnis wichtig ist, was ein nonverbales Nein ist oder wie man ein Kompliment machen kann, das anständig rüberkommt.»
Die Präventionsarbeit will sie nun ausbauen, sie plant ein eigenes Programm für Schulen. «Dort erreiche ich alle Kinder und Jugendlichen.» Momentan stecke sie in der Konzeptarbeit. Für die Umsetzung brauche es auch Fachleute – und Geld, um sie zu bezahlen.
«Für die langfristige sexuelle Gesundheit sollte es viel mehr staatlich finanzierte Präventionsprogramme geben.»
Cindy Kronenberg, Kinder- und Jugendarbeiterin
Cindy Kronenberg kann nicht verstehen, warum die öffentliche Hand nicht schon lange viel mehr in diese Richtung unternimmt. «Es gibt Hunderttausende Betroffene, da kann man doch nicht einfach zusehen. Es sollte für die langfristige sexuelle Gesundheit viel mehr staatlich finanzierte Präventionsprogramme geben.»
Auch für Betroffene hat Cindy Kronenberg bereits neue Ideen: Neben den Austauschcafés soll es bald einen «Powerday» geben. Mit Fachleuten will sie dort Methoden vermitteln, die das Selbstbewusstsein stärken und die Selbstliebe fördern. «Viele leiden unter einem geringen Selbstwert. Das geht so weit, dass sie Spiegel abdecken, weil sie sich selbst nicht sehen mögen. Ich will einen Tag machen, an dem sie wiederentdecken, wie wertvoll, schön und liebenswert sie sind.»
Manchmal wird aber auch ihr alles zu viel. «Ich habe gelernt, dass Neinsagen keine Schwäche ist, sondern auch vom Gegenüber als Stärke wahrgenommen wird. Die Stärke, Grenzen zu setzen.» Ende Jahr hat sie deshalb beschlossen, nun mal eine kurze Pause einzuschalten. Die nächsten Wochen verbringt sie in einer wärmeren Gegend und widmet sich vor allem dem Beachvolleyball-Spiel. «Dabei kann ich am besten abschalten.»
- Wer hat in den letzten Monaten besonders viel Zivilcourage gezeigt?
- Wer kann uns Vorbild sein?
Der Beobachter sucht Frauen und Männer, die den diesjährigen Prix Courage verdienen. Menschen, die halfen, wo andere weggeschaut haben, die sich engagierten, ohne davon zu profitieren, die bewiesen, dass jede und jeder von uns die Welt ein Stück besser machen kann. Kurz: Menschen mit Mut.
Ihre Vorschläge senden Sie bitte:
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Redaktion Beobachter
Kandidaten Prix Courage
Anina Frischknecht und Caroline Freigang
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Einsendeschluss ist der 31. März 2022.
1 Kommentar
Opfer Sexueller Übergriffe bekommen Lebenslänglich warum nicht auch die Täter???? Das es eine Verjährungsfrist gibt für diese Taten finde ich einen Skandal!!!! Wann wird das Gesetzt endlich angepasst und egal wie viele Jahre vergangen sind sollten alle Täter zur Rechenschaft gezogen werden...