Erst die Lehre abschliessen, dann in Nizza Französisch lernen, im August in die Berufsmittelschule. «Es kommt mir vor, als gingen alle Türen auf einmal auf», sagt Blessi Sator. Nach der Berufsmatura sei dann aber nicht Schluss. Sich weiterbilden zur Rettungssanitäterin? Eine Option. Vielleicht wolle sie aber lieber studieren, am liebsten Medizin. Blessi Sator, 18, denkt gross.

Ihr Leben liest sich wie ein Kapitel aus dem Lehrbuch für Integration. Die Eltern: geflüchtet aus den Slums von Benin City, Geburt von Blessi in Nigeria und von ihrer Schwester in Spanien. 2006 Ankunft in der Schweiz, Status F, vorläufig aufgenommen. Dann der lange Weg der Familie aus der Sozialhilfe. Die beiden Töchter: in Bern aufgewachsen, Primar, Sek, Lehre, seit einem Jahr haben sie den Aufenthaltsstatus B, können nun auch ins Ausland gehen. Blessi sagt: «Unsere Geschichte ist mir Motivation für meine Zukunft.»
 
Und diese Zukunft sei blendend. Sie werde die Erste ihrer Familie sein, die a) eine Ausbildung abschliesst, b) ins Ausland geht, c) in ein Flugzeug steigt, d) die Matura macht, e) Autofahren lernt und f) vielleicht studieren wird. Sie sei «mega glücklich», dass aus dem «chliine Meitschi» eine erwachsene Frau geworden sei, die ihre Familie unterstützen könne.

Ein bisschen kitschig? «Kann man so sehen», sagt Beat Handschin, Leiter der Stiftung SOS Beobachter. Aber vor allem zeige die Geschichte, dass Integration funktioniere. «Es wäre aber vermessen, zu glauben, dass alle armutsbetroffenen Jugendlichen ihr Schicksal in die Hand nehmen und es wie Blessi Sator schaffen, alle Hindernisse aus dem Weg zu räumen.»

Handy kaputt – Budget in Gefahr

Wie schwierig die Integration für viele Jugendliche aus prekären Verhältnissen verläuft, sehe er an den vielen Hilfegesuchen, die bei SOS Beobachter eintreffen. Ein Unfall, ein kaputtes Handy, hohe Heizkosten – schon seien das Budget dieser Familien und die Pläne ihrer Kinder durcheinander. «Seit die Preise steigen, ist die Situation für den unteren Mittelstand noch angespannter», sagt Handschin.
 
Bei SOS Beobachter gehe es nicht immer um Sein und Nichtsein. «Manchmal sind es kleine Dinge, die unüberwindbar scheinen, manchmal die grossen Fragen wie die Ausbildung junger Erwachsener. Hier lohnt es sich eigentlich immer, unterstützend einzugreifen», sagt Handschin. Auch bei Blessi Sator, der SOS Beobachter den Sprachaufenthalt in Nizza erst ermöglicht.
 
Warum das für die junge Bernerin wichtig ist? Die Antwort von Beat Handschin: «Wir unterstützen sie, weil das ihre Chancen in Schule und Beruf langfristig verbessert. Und sie erlebt, dass man sehr viel erreichen kann, wenn man seine Chance packt.»

Die Version von Blessi Sator ist etwas länger: gute Noten in der Berufsschule, sich mit französischsprachigen Klientinnen und Klienten unterhalten können, vielleicht mal im Welschland oder in Frankreich arbeiten, darum gehe es natürlich. «Und Fremdsprachen machen sich einfach gut in meinem CV.»

Google sagt: Unmöglich 

Nach einer kurzen Google-Suche musste sie aber einsehen: Was für die meisten ihrer Freundinnen selbstverständlich ist, war für sie unerreichbar, ein Sprachaufenthalt viel zu teuer. Also ging sie zu der Sozialarbeiterin, die ihre Familie jahrelang betreut hatte. Die fand die Idee toll, holte Angebote bei Sprachschulen ein, schrieb gemeinnützige Stiftungen an.

So kam der Kontakt zu SOS Beobachter zustande. Die Stiftung übernimmt nun die Hälfte der Kosten, eine zweite den dritten Viertel und Blessi Sator den Rest. «Ich werde an fremde Orte nicht mehr nur im Internet reisen. Ich kann selber hingehen. Unglaublich!» Sie war seit der Ankunft in der Schweiz nie im Ausland, hat nie das Meer gesehen.
 
Nicht alle teilen Blessi Sators Mut und Zuversicht. Erwachsen werden ist ja für sich schon nicht ganz einfach, und schnell geht etwas schief. Falsche Freunde, Drogengeschichten, keine Lust auf nichts, schon ist man in der falschen Spur. Für Armutsbetroffene ist alles noch etwas schwieriger. Sie müssen sich erkämpfen, was anderen in den Schoss fällt.

Die Last der Herkunft 

Wie stark Herkunft prägt, zeigt sich im Umgang mit Geld – vor allem mit dem Schuldenmachen, einem überraschend häufigen Phänomen. Jeder und jede Achte in der Schweiz lebt in einem Haushalt, der nicht alle Rechnungen begleichen kann. Junge Erwachsene sind noch öfter betroffen. Wer nun glaubt, das hänge mit ihrem verschwenderischen Lebensstil und der Unfähigkeit zu verzichten zusammen, liegt wohl falsch. Denn unter 25-Jährige überziehen ihr Konto seltener, nehmen weniger Konsumkredite auf und sind zurückhaltender beim Leasing als die Erwachsenen über 25, so das Bundesamt für Statistik.
 
Die Sache ist aber komplexer, als die offiziellen Zahlen suggerieren. 38 Prozent der unter 24‐Jährigen in der Deutschschweiz haben sich mindestens einmal Geld geborgt, ergab eine Untersuchung der Zürcher Sozialpsychologin Elisa Streuli schon vor Jahren. Bei einem Drittel sind es Schulden bei Familie und Freunden, bei der Hälfte geht es um Beträge von weniger als 1000 Franken. 
 
Wie passt das zusammen? Der Soziologe Elmar Lange, der in Deutschland auf das gleiche Phänomen stiess, liefert eine überraschende Erklärung: Dass sich so viele Junge verschulden, sei «Ausdruck eines mündigen und effizienten Umgangs mit Geld zur Optimierung des Gegenwartnutzens». Will heissen: Sie setzen ihr Geld so geschickt ein, dass sie am meisten davon haben. Und je privilegierter sie aufwachsen, desto kompetenter seien sie beim Optimieren. Warum? Weil ihre Eltern einspringen, wenn es hart auf hart kommt. Jugendliche aus weniger gut situierten Verhältnissen fehle diese Sicherheit. Deshalb seien sie vorsichtiger beim Schuldenmachen.
 
Die Studie von Elisa Streuli offenbart noch etwas anderes: Jugendliche aus sozial benachteiligten Verhältnissen sind seltener verschuldet, aber wenn, dann mit höheren Beträgen. Das gleiche Bild beim Geschlecht: Junge Frauen und Männer verschulden sich in etwa gleich häufig, aber Männer mit höheren Beträgen. Streulis Fazit? Bedrohlich sind Schulden nur für eine relativ kleine Gruppe, aber für sie dann richtig gefährlich. Die Alarmzeichen: demonstrativer Konsum, um prahlen zu können, und mangelnde Selbstkontrolle.

Der Schuldenfaktor Krankenkasse

«Von zu Hause auszuziehen, ist das grösste Schuldenrisiko, das andere sind unbezahlte Krankenkassenprämien», sagt Pascal Pfister, der Geschäftsleiter von Schuldenberatung Schweiz. Das habe zum Teil mit den steigenden Prämien zu tun, vor allem aber mit einem Passus im Gesetz: Mit 18 erbt man die Schulden, wenn die Eltern die Krankenkasse nicht bezahlt haben. Das ist der Grund, warum gemäss Bundesamt für Statistik so viele unter 24-Jährige Schulden bei der Krankenkasse haben: 9,3 statt «nur» 5,5 Prozent wie beim Rest der Bevölkerung. Im Schnitt 6000 bis 20’000 Franken.

Die Schulden selbst sind nicht das einzige Problem. Dazu gibt es noch einen Eintrag im Betreibungsregister, mit unangenehmen Nebenwirkungen: In eine günstige Krankenkasse wechseln kann man nicht, solange die alte nicht bezahlt ist, einen guten Job suchen wird schwieriger, eine eigene Wohnung finden ist Glückssache. Mit dieser Praxis ist Anfang 2024 nun aber Schluss – dank der Revision des Krankenversicherungsgesetzes: Die Schulden bleiben bei den Eltern.
 
«Endlich mal eine Reform, die den Betroffenen wirklich hilft!», sagt Schuldenprofi Pascal Pfister. Er hofft aber noch auf eine zweite Gesetzesänderung, die jungen Erwachsenen das Leben erleichtert: die Einführung der Restschuldbefreiung. Heute werden einem Schulden nicht erlassen, selbst wenn man jahrelang abbezahlt hat. Zahlreiche Untersuchungen aus ganz unterschiedlichen Ländern zeigen, dass damit niemandem gedient ist. Wenn nach ein paar Jahren die Schulden erlassen werden, hat man viel bessere Chancen, wieder dauerhaft wirtschaftlich auf eigenen Beinen zu stehen.
 
Das Bundesamt für Justiz will deshalb die Abzahlungsperiode für Schuldner auf vier Jahre beschränken, wie das in Europa üblich ist. Opposition dagegen gibt es von den Inkassofirmen, die eine Frist von mindestens sechs Jahren fordern (siehe Beobachter Nr. 1/2023). Das ergebe im Fall von jungen Erwachsenen wenig Sinn, sagt Pfister. «Die Erfahrung, dass man sich selbst aus dieser misslichen Lage befreien kann, ist gerade für Junge extrem wichtig.» Und: «Alle haben eine zweite Chance verdient.» 

Ändern müssen sich nicht nur Gesetze, sondern auch Vorurteile: Armut ist nicht einfach selbst verschuldet, wie das viele meinen, sondern vor allem ein strukturelles Problem. Und es gibt im Leben aller Ereignisse, die alle treffen können. 

Unfall beim Eishockey – ein Jahr lang im Spital

Wie es ist, auf einen Schlag aus dem guten Leben zu fallen, davon erzählt die Geschichte der alleinerziehenden Nadine Fuchsinger und ihres Sohns Henry (Namen geändert): Beim Eishockeytraining fuhr ihr ein Knirps von hinten in die Beine, sie stürzte und prallte mit dem Kopf auf das Eis. Die Diagnose: schweres Schädel-Hirn-Trauma. Das war 2018. Das erste Jahr lag Fuchsinger im Spital in ihrer Heimat in Süddeutschland, seither kämpft sie mit den Folgen des Sturzes. «Ich war eine erfolgreiche Geschäftsfrau, wir hatten ein gutes Auskommen und ein schönes Haus. Nach dem Unfall verloren wir nach und nach alles.»
 
Zum Unglück kam Pech: Der Bub, der den Unfall verschuldete, war nicht versichert, die Unfallversicherung wollte nur einen Teil des Schadens übernehmen. «Sie behauptet etwa, ich hätte nach sechs Wochen wieder arbeiten können. Damals durfte ich aber wegen Wirbelbrüchen nicht mal aufstehen.» Der Fall liegt in Deutschland vor Gericht. Wann ein rechtskräftiges Urteil fällt, ist ungewiss.
 
«Das vielleicht Schwierigste ist, zu akzeptieren, dass es nie mehr sein wird, wie es war.» Heute schaffe sie es, sich immerhin schon zwei Stunden am Tag zu konzentrieren. Und sie könne sich wieder richtig bewegen, rechnen und schreiben. Aber das Gedächtnis habe gelitten, sie müsse sich alles aufschreiben, sagt Nadine Fuchsinger.

Ein traumatisierter Zwölfjähriger 

Der Unfall war auch für Fuchsingers Sohn Henry eine Tragödie. Der damals Zwölfjährige kam zunächst bei Nachbarn in Oberfranken unter, später bei Freunden in der Schweiz. «Dass er mit der neuen Situation schlecht umgehen konnte, ist nur verständlich. Es ist ja nicht ganz einfach mit einer Mutter, die zwölf Stunden am Tag stumpfsinnig an eine weisse Wand starrt.» Henry schottete sich ab, wurde zunehmend depressiv.
 
Die Schule entwickelte sich zum Missverständnis. Die Lehrer meinten, Henry sei einfach nur faul. Im zweiten Anlauf klappte es dann doch mit einer Lehrstelle als Informatiker. Henrys Zukunft schien hell. Aber zu Beginn der Lehre fiel er regelmässig aus, musste krank zu Hause bleiben. Es fand sich ein Therapieplatz. Dort lernte Henry, besser mit seinem Trauma umzugehen, aus einem behüteten Leben herausgerissen worden zu sein.

Dann war da noch das Problem mit seinen Kleidern. Mit Löchern in Jeans und T-Shirts seien Kundenkontakte unmöglich, monierte der Arbeitgeber. Die Mutter besprach sich mit der Sozialarbeiterin, kaufte Kleider und Schuhe. Als sie die Rechnung aufs Amt brachte, gab es eine herbe Überraschung. Die Sozialarbeiterin sagte, es handle sich nicht um Berufskleidung. Ihr Amt könne die 600 Franken nicht übernehmen, sie habe einen Fehler gemacht.
 
«Die Weihnachten fielen bei uns erst mal komplett aus, finanziell ging nichts mehr», sagt Nadine Fuchsinger. Schliesslich wandte sich die Sozialarbeiterin an SOS Beobachter, wo Brigitte Marchesi Uhl den Fall übernahm. «Die Begründung mit der Berufskleidung ist zwar nachvollziehbar, aber unbefriedigend. Ich intervenierte deshalb beim Sozialamt. Wir fanden dann einen Kompromiss, der für alle Seiten tragbar war.» SOS und Sozialamt zahlten je die Hälfte.
 
Warum hat SOS Beobachter zuerst mit der Gemeinde verhandelt und nicht gleich die vollen Kosten übernommen? «Wir zahlen eigentlich nichts, wenn die Gemeinde dazu verpflichtet wäre. Das sind wir unseren Spenderinnen und Spendern schuldig. Wir helfen den Gesuchstellern dabei, ihre Rechte durchzusetzen», sagt Brigitte Marchesi Uhl. «Und wenn wir wie im Fall von Frau Fuchsinger mit den Behörden eine gute Lösung finden, ist das im Interesse aller.»