Yin und Yang auf dem Teller
Wie und was wir essen, beeinflusst Körper, Geist und Seele. Makrobiotik, die «Lehre vom langen Leben», setzt auf eine streng ausgewogene Auswahl der Nahrungsmittel.
Veröffentlicht am 10. August 2000 - 00:00 Uhr
Wer unruhig ist, keinen klaren Gedanken fassen kann oder unter Kopfschmerzen leidet, greift vermutlich häufig zu Schokolade, Eis, Kuchen, Kaffee und Tee. Denn Süssigkeiten und stimulierende Getränke sind «Yin». Schmerzen im Hinterkopf und in den Schultern sowie allgemeine Angespanntheit können hingegen von einer Vorliebe für deftige Gerichte herrühren: Käse, Wurst und Fleisch sowie Eier, Speck und gesalzene oder gebratene Speisen sind extrem «Yang»-lastig.
Yin und Yang sind gegensätzliche und gleichzeitig sich ergänzende Kräfte unterschiedlicher Energien. Alles Existierende, sei es körperlicher, seelischer oder geistiger Art, kann einem dieser beiden Prinzipien zugeordnet werden: Frau und Mann, Erde und Himmel, Wärme und Kälte das eine kann ohne das andere nicht existieren. Yin trägt immer auch Yang in sich, und alles strebt nach einem Gleichgewicht.
Auf dieser über 5000 Jahre alten chinesischen Philosophie beruht die Makrobiotik. Laut der makrobiotischen Lehre ist Gesundheit in erster Linie das Ergebnis einer nach Yin und Yang ausbalancierten Ernährung. Krankheiten und Konflikte beruhen unter anderem auf einem gestörten Nahrungsgleichgewicht.
«Yin und Yang liefern einen Schlüssel, um die Persönlichkeit der Speisen, die wir essen, aber auch unsere eigene Persönlichkeit, unseren Zustand und unsere Bedürfnisse zu erkennen und zu verstehen», schreiben Marlise Binette-Kupper und Katriona Forrester in ihrem Kochbuch «Yin Yang und die Kunst der natürlichen Küche», in dem die makrobiotische Ernährung erklärt wird.
Ein Beispiel: Früchte aus klimatisch heissen Gegenden wie zum Beispiel Bananen, Feigen oder Kiwis sind stark Yin-lastig. Sie haben einen kühlenden Effekt auf den Körper und können zu Energiemangel oder einem Kältegefühl führen.
Auf Menschen in überaktivem Zustand wirken sie beruhigend. Die Makrobiotik hilft herauszufinden, welche Eigenschaften und Energien die verschiedenen Lebensmittel haben und wie man sie einsetzen kann, um dem Körper das zu geben, was er gerade braucht.
Ist das nicht alles ein bisschen kompliziert? «Nur am Anfang, wenn man noch den alten Essmustern verhaftet ist», sagt die Ernährungsspezialistin Marlise Binette-Kupper. «Mit der Zeit weiss man einfach, was einem in einer bestimmten Situation gut tut und was nicht.» Der Zeitaufwand ist da schon eher ein Problem vor allem für berufstätige Leute. Denn Makrobiotik braucht viel Zeit: für die Auswahl der Nahrungsmittel, für das Zubereiten der Speisen und auch für das Essen. Auf dem Weg zur Arbeit schnell ein Croissant zu verdrücken oder mittags im Schnellimbiss den grössten Hunger mit einer Bratwurst zu stillen, das verträgt sich schlecht mit der makrobiotischen Philosophie. Marlise Binette-Kupper: «Doch im Vergleich zu früher ist es heute sehr viel einfacher geworden. Es existiert ein reichhaltiges Angebot an Zutaten für die makrobiotische Küche, und biologisch angebautes Gemüse kann man mittlerweile auch im Supermarkt kaufen.»
Die Grundlage der makrobiotischen Ernährung besteht aus Vollkorngetreide, möglichst in ganzen Körnern gekocht. Dazu werden Gemüse, Hülsenfrüchte sowie Nüsse, Samen, Meeralgen, Wildkräuter oder heimisches Obst empfohlen. Bei den tierischen Produkten sollte man Fisch und Schalentiere statt Fleisch wählen. Denn Fleisch, Milch, Milchprodukte und Zucker gelten als Hauptverursacher von «Zivilisationskrankheiten».
«Milchprodukte entfalten eine Wirkung auf alle Organe und alle Systeme», schreibt Michio Kushi, seit den sechziger Jahren einer der wichtigsten Vorkämpfer der Makrobiotik in den USA und Europa.
«Die schädlichen Wirkungen machen sich zunächst als Schleim- und Fettansammlungen bemerkbar, später in der Bildung von Zysten und Krebs.»
Krebs wegen Joghurt und Käse? Aufgrund ihrer kritischen Haltung gegenüber Milch und Milchprodukten ist die Makrobiotik bei Ernährungswissenschaftlern nicht unumstritten. «Milchprodukte sind wertvolle Lebensmittel», sagt Beatrice Daeppen von der Schweizerischen Vereinigung für Ernährung in Bern. Der Verzicht auf Milch, Käse, Joghurt oder Quark könne zu einem Mangel an Kalzium und Vitamin B2 führen. «Vor allem bei Kindern und Personen mit hohem Nährstoffbedarf muss dringend von makrobiotischer Ernährung abgeraten werden», sagt die Ernährungsexpertin. «Wenn man sich streng an die makrobiotischen Regeln hält, ist eine Fehlernährung programmiert.» Führt Makrobiotik also unweigerlich zu Nährstoffmangel? Für Marlise Binette-Kupper ist das vor allem eine Frage der Proportionen: «Extremhaltungen sind fehl am Platz. Man darf von allen Nahrungsmitteln ein wenig zu sich nehmen. Auch Fleisch, Käse und Milchprodukte aber mit gesundem Menschenverstand.»