Bei einer Tagung in Bern Ende Juni wurde über eine Reform des Familienrechts diskutiert. Doch schon im Vorfeld gab es Widerstand, am härtesten aus den Reihen der SVP. Es gebe keinerlei Handlungsbedarf für eine solche Reform, sagt Nationalrat Toni Bortoluzzi. Damit versuchten «die Fehlgeleiteten unserer Gesellschaft – also Schwule, Lesben, alle, die alleine leben, ihren Partner nach Lust und Laune wechseln – ihre Neigungen rechtlich der stabilen Partnerschaft zwischen Frau und Mann gleichzustellen, die der Fortpflanzung und der Kindererziehung dient». Das sei natürlich «dummes Zeug». (Lesen Sie dazu auch: Toni Bortoluzzi verunglimpft Homosexuelle)

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Die Reform angestossen hat SP-Nationalrätin Jacqueline Fehr mit einem Postulat. «Es ging mir darum, alle Fakten auf den Tisch zu legen und dann zu analysieren, wie die Probleme gelöst werden können, die das heutige Familienrecht aufwirft.» Justizministerin Simonetta Sommaruga liess nach der Überweisung des Postulats drei Expertenberichte schreiben – als Diskussionsgrundlage.

Der umstrittenste Bericht stammt von Ingeborg Schwenzer. Die Basler Rechtsprofessorin entwickelt darin ein vom Denkansatz her grundlegend neues Familienrecht. Weil Familie nicht nur in der Ehe stattfinde, soll sie auch nicht mehr die Grundlage des Familienrechts bilden, sondern alle Formen von Lebensgemeinschaften, aus denen rechtliche Konsequenzen erwachsen. Eine Lebensgemeinschaft soll bereits dann bestehen, wenn die Partnerschaft drei Jahre dauert, das Paar ein gemeinsames Kind hat oder zumindest einer der Partner erhebliche Beiträge für die Gemeinschaft erbringt. Und nicht erst, wenn das Paar geheiratet hat.

Schwenzer fordert, das Familienrecht soll sich endlich an der gesellschaftlichen Realität orientieren. Die hat sich in den letzten Jahrzehnten gründlich verändert. In der Schweiz leben heute mehr Ledige als Verheiratete. Fast jede zweite Ehe wird nicht durch den Tod, sondern den Richter geschieden. Jedes vierte kinderlose Paar lebt ohne Trauschein zusammen. Die Eltern jedes fünften Kindes sind bei dessen Geburt nicht verheiratet.

Dieser tiefgreifende Wandel ist im Familienrecht noch nicht richtig angekommen. Unverheiratete Paare und ihre Kinder sind in verschiedenen Punkten gegenüber verheirateten benachteiligt. Das Beobachter Beratungszentrum etwa ist täglich mit Menschen konfrontiert, die nach einer Trennung unter den Lücken leiden, die das Familienrecht offenlässt. Betroffen sind nicht nur gleichgeschlechtliche Paare, die trotz eingetragener Partnerschaft keine Kinder adoptieren können und denen fortpflanzungsmedizinische Massnahmen verwehrt werden. Benachteiligt werden auch Paare, die ohne Trauschein während Jahren zusammenlebten.

Fünf Beispiele:

 

  • Eine Frau, die zwölf Jahre mit ihrem Partner zusammenlebte und ihr Arbeitspensum stark reduziert hatte, damit sie den gemeinsamen Haushalt führen konnte: Sie erhält nach der Trennung keine Unterhaltszahlungen und wird sich später mit einer tieferen Rente begnügen müssen.
  • Ein Mann, der zehn Jahre mit seiner Partnerin und deren Kindern zusammenlebte: Wenn sie nicht will, kann er die Kinder nach der Trennung nicht mehr besuchen.
  • Eine Frau, die ihrem Partner zehn Jahre seine Geschäftsbuchhaltung führte, aber kein Gehalt bezog: Lohn kann sie höchstens für die letzten fünf Jahre zurückverlangen – und nach der üblichen Kündigungsfrist entlassen werden.
  • Eine Mutter und ihr Sohn, die nach der Trennung aus der elterlichen Wohnung ausziehen müssen: Weil zufällig ihr Partner den Mietvertrag unterzeichnet hatte, kann er die beiden aus der Wohnung werfen.
  • Eine Frau, die zwanzig Jahre mit ihrem Partner zusammenlebt, beim Erben aber nichts bekommt, weil er vergessen hat, ein Testament aufzusetzen. Selbst dann würde sie maximal den Anteil erhalten, der über den Pflichtteil hinausgeht.
Quelle: Getty Images

«Kinder, die nicht in eine traditionelle Ehe hineingeboren werden, fallen vielfach in einen rechtsfreien Raum. Deshalb benötigt das Familienrecht ganz eindeutig eine Überarbeitung», sagt Pro-Juventute-Direktor Stephan Oetiker. Gesetze seien nicht dazu da, die Ehe als die ideale und einzige Form der Partnerschaft zu zementieren, sondern um das Zusammenleben in einer Gemeinschaft zu regeln und die betroffenen Menschen optimal zu schützen.

Nach Meinung von CVP-Präsident Christoph Darbellay besteht trotzdem «kein grosser Handlungsbedarf» für eine Reform. Heute werde niemand mehr diskriminiert . Mit der eingetragenen Partnerschaft stehe gleichgeschlechtlichen Paaren eine eheähnliche Institution offen. Das müsse reichen. Kritik kommt auch von EVP-Parteipräsidentin Marianne Streiff: «Wenn gesetzlich alle Beziehungsformen gleichgestellt werden, ist die Ehe nur noch eine unter verschiedensten Lebensgemeinschaften. Das wertet sie ab.»

Kritiker der Familienreform weisen gern darauf hin, dass sich unverheiratete Paare schon heute mit einem Konkubinatsvertrag genügend absichern könnten. Das sei ein trügerischer Einwand, sagt Beobachter-Beraterin Tinka Lazarevic. «Die zahlreichen Anfragen bei uns zeigen, dass viele zwar um die Vorteile von Konkubinatsverträgen wissen.» Wenn es aber konkret darum gehe, einen Vertrag aufzusetzen, verzichteten die meisten angesichts der Schwierigkeiten. Anwältin Lazarevic weiss aus Erfahrung: «Konkubinatsverträge unterzeichnen in der Regel nur Juristinnen und Juristen.»

Timeline: Schweizer Familienrecht im Wandel der Zeit
Zum Thema: Ingeborg Schwenzer antwortet erstmals ihren Kritikern

«Schon heute leben viele polygam»: Man warf ihr vor, mit der Reform des Familienrechts wolle sie die Ehe zu Grabe tragen, Inzest erlauben und Polygamie legalisieren. Jetzt antwortet die Basler Jusprofessorin Ingeborg Schwenzer im «Beobachter» erstmals ihren Kritikern.

Quelle: Daniel Boschung
Zum Thema: SVP-Nationalrat Bortoluzzi verunglimpft Homosexuelle

«Hirnlappen, der verkehrt läuft»: Der Zürcher SVP-Nationalrat Toni Bortoluzzi bezeichnete gegenüber dem «Beobachter» Schwule und Lesben als «Fehlgeleitete» mit «unnatürlichem Verhalten». Die Schwulenorganisation Pink Cross zeigt sich entsetzt. Sie behält sich rechtliche Schritte gegen Bortoluzzi vor.

Quelle: Thinkstock Kollektion