Und plötzlich stand er auf
Marianne Moser* denkt, sie habe den Mann fürs Leben gefunden. Bis der Bräutigam zum Buffet geht. Und den Rollstuhl stehen lässt.
Veröffentlicht am 9. November 2015 - 14:01 Uhr
Die Hallux-Operation sei gut verlaufen, erzählt Marianne Moser* ihrer Freundin am Telefon. Sie ist erst seit ein paar Stunden wieder zu Hause. Mit wunden Füssen liegt sie im Schlafzimmer, da springt die Tür auf, ihr Mann Urs stürzt herein und brüllt: «Ich bringe dich um!»
Bevor Marianne etwas tun oder sagen kann, packt er ihre Füsse und zerrt sie vom Bett. Die frische Wunde platzt auf. Der Frau stockt der Atem. Tobend verlässt er das Zimmer. Marianne, taub vor Schmerz, robbt zur Tür und dreht mit letzter Kraft den Schlüssel. Da poltert ihr Mann schon wieder. «Ich bringe dich um!» Glas splittert, Scherben fallen zu Boden. Marianne bricht in Tränen aus.
Zwei Jahre zuvor begleitet Marianne Moser, damals 56, einen Bekannten zu einer Party. Ein Mann im Rollstuhl öffnet die Tür und strahlt sie an. Es funkt sofort. «Ich erinnere mich an seine liebevollen Augen, sein herzliches Wesen», erzählt Moser. Fast den ganzen Abend verbringt Marianne mit Gastgeber Urs Dubois* in der Küche. Sie unterhalten sich, trinken Wein und bereiten gemeinsam das Essen zu. Von da an lädt Dubois Marianne regelmässig zum Kochen ein, geht mit ihr in teure Restaurants. Sie machen Ausflüge und telefonieren bis tief in die Nacht.
«Er wollte mich verwöhnen, mir das Leben bieten, das ich verdiene, mich finanziell absichern.»
Marianne Moser
Es gibt aber auch dunkle Tage. Etwa wenn Dubois aus seinem Rollstuhl stürzt, sich mit dem Rüstmesser schneidet, einen epileptischen Anfall hat. Jedes Mal schickt er Marianne danach Bilder des Unfalls: «Einmal bekam ich ein Foto, auf dem eine Blutspur zu sehen war. Ich war schockiert und machte mir Sorgen.» Der damals 67-Jährige fühlt sich einsam, bricht häufig in Tränen aus. «Es tat mir im Herzen weh, das mitanzusehen», erzählt die Bernerin.
Auch Marianne Moser geht es nicht gut. Ihr erster Mann hatte sie nach 34 Ehejahren für eine Jüngere verlassen. Ihr zweiter Lebenspartner misshandelte sie regelmässig. Sie floh in eine teilbetreute Wohngemeinschaft, um sich endlich wieder sicher zu fühlen. Wegen eines Schleuder- und eines Schädel-Hirn-Traumas kann sie schon seit Jahren nicht mehr arbeiten. Seither hat sie nicht nur mit den Schmerzen, sondern auch mit den finanziellen Folgen der Invalidität zu kämpfen.
«Ich hatte ein schweres Leben. Bis ich Urs traf. Mit ihm war es endlich wieder schön», erzählt sie. Nur vier Monate nach dem ersten Treffen zieht Marianne bei ihm ein. «Urs wollte mich verwöhnen, mir das Leben bieten, das ich verdiene, und mich finanziell absichern», sagt sie.
Nun begrüsst er sie morgens mit liebevollen Worten, bringt ihr ein Cüpli ans Bett, plant den Tag mit ihr. «Trotz Behinderung war er so lebensfroh und wollte dauernd Dinge unternehmen, das Leben geniessen, mich glücklich machen», erinnert sie sich.
Nicht nur Marianne ist begeistert vom neuen Partner. Auch ihre Freunde und Familie sind froh, dass sie einen Mann gefunden hat, der sie gut behandelt. Manchmal kommt Marianne mit der Betreuung ihres gehbehinderten Partners an ihre Grenzen: «Es war ein 24-Stunden-Job. Waschen, putzen, kochen, pflegen. Aber es war schön, für ihn da zu sein, zu sehen, wie es ihm besser und besser ging.»
Vier Monate später stemmt sich Urs mit aller Kraft aus dem Rollstuhl und geht zittrig vor ihr auf die Knie: «Ich habe so ein Glück mit dir. Ich möchte für immer mit dir zusammen sein. Heirate mich!» Marianne, zu Tränen gerührt, sagt Ja. Alles ist perfekt.
Bis Marianne eine Freundin in Bosnien besucht. Kaum ist sie weg, schickt Urs ihr ein Unfallbild zu. Er ist so unglücklich gefallen, dass die Knochen seiner Augenhöhle zersplitterten. Die Ärzte meinen, er hätte blind sein können. Noch aus dem Spital sendet er seiner Verlobten ein Foto seines blutigen, gelb-orangen Auges und bittet sie heimzureisen.
Die wundersame Heilung hält auch nach der Hochzeit an. Wenn immer Urs genug Alkohol intus hat, steht er aus dem Rollstuhl auf, geht auf den Balkon und raucht.
«Als ich nach Hause kam, waren da überhaupt keine Spuren eines Unfalls. Kein Blut, keine Scherben, nichts. Wie konnte Urs sich so schlimm verletzen, ohne dass etwas in der Wohnung zu sehen war?» Seit Urs und sie zusammengezogen sind, hat er sich nie wieder verletzt. «Kaum war ich weg, passierte so etwas. Ich begann zu zweifeln, fragte mich, ob es wirklich ein unglücklicher Unfall war», erinnert sich Marianne. Während ihrer Bosnienreise hat Urs eine neue Wohnung für sich und Marianne reserviert – obwohl sie 3000 Franken monatlich kostete. Viel zu viel für die IV-Bezügerin. «Doch Urs meinte, ich solle mir keine Sorgen machen. Ich müsse mich um nichts kümmern. Also willigte ich ein, die Wohnung zu mieten», so Marianne Moser.
Trotz der schönen neuen Wohnung und der bevorstehenden Hochzeit häufen sich die dunklen Tage. Urs geht es wieder schlechter. Er sitzt den ganzen Tag am Computer, zum Frühstück gibts ein Cüpli, am Mittag ein Glas Wein, am Abend Whisky, bis die Flasche leer ist. «Eines Abends, er war wieder völlig betrunken, gab er zu, sich die Verletzung am Auge selbst zugefügt zu haben. Er wollte mich damit dazu bringen, früher aus Bosnien zurückzukommen», erzählt sie.
Zu Beginn zahlte Urs alles, die Abende im teuren Restaurant, die Einkäufe, die Wohnung. Nun soll Marianne für alles aufkommen und sich an der hohen Miete beteiligen. «Daran war grundsätzlich nichts verkehrt. Doch wenn ich schon zahlen muss, hätte er mir das sagen müssen, bevor wir eine so teure Wohnung mieten», sagt sie.
Auch die 25'000 Franken für Hochzeit und Flitterwochen in der Karibik, die Urs buchte, sollen auf beide verteilt werden. «Und das, obwohl ich immer wieder vorgeschlagen hatte, eine günstigere Hochzeit zu arrangieren. Doch er wollte nur das Beste.» Marianne will ihre letzten Ersparnisse aus dem Schliessfach holen, das Urs einige Wochen zuvor für sie auf seinen Namen eröffnet hatte. Doch von den 20'000 Franken fehlt jede Spur. Eine Unterschrift bei der Bank belegt zwar, dass Urs kürzlich am Tresor war, trotzdem streitet er den Geldklau ab.
Marianne will Urs nicht mehr heiraten. Zu viel ist seit der Verlobung geschehen. Doch drei Tage vor dem Termin alles abzublasen traut sie sich nicht. Was würden die Leute denken, wenn sie diesen Traummann in den Wind schiessen würde? «Ich wollte nicht, dass man denkt, ich sei nicht mehr ganz richtig im Kopf.» Also heiratete sie. Vor dem Altar stemmt sich Urs erneut mit aller Kraft aus dem Rollstuhl, fällt auf die Knie und schwört Marianne seine Liebe. «Alle weinten vor Rührung», erinnert sie sich. Marianne Moser hofft, dass nun vielleicht doch alles wieder gut wird.
Am nächsten Morgen, einige Gäste sind gerade beim Frühstück, geschieht das Unmögliche. Urs, immer noch betrunken vom Vorabend, fährt mit seinem Rollstuhl in den Raum und steht auf. Er steht auf und geht. Er geht Richtung Buffet. Holt sich etwas zu essen. Die Braut, die Gäste: ungläubig, fassungslos, schockiert. Die wundersame Heilung hält auch nach der Hochzeit an. Wenn immer Urs genug Alkohol intus hat, steht er aus dem Rollstuhl auf, geht auf den Balkon hinaus und raucht, läuft in die Küche und holt sich Wein oder zieht auf Zehenspitzen eine Tasche vom Schrank hinab.
Nach dem Rausch sitzt er wieder im Rollstuhl. «Ich war so verliebt in Urs, glücklich, endlich einen guten Mann gefunden zu haben. Das machte mich blind. Doch er hat nicht nur mich getäuscht. Alle sind auf seine Geschichten reingefallen», tröstet sich Moser.
Immer öfter muss sie die Polizei rufen. Je mehr Promille, desto aggressiver wird Urs. Abwechslungsweise droht er, sich selbst oder Marianne umzubringen. Viel später erfährt sie von seiner Exfrau, dass er schon früher ein Alkoholproblem hatte, immer wieder aggressiv wurde und auch sie um ihr ganzes Geld gebracht hatte.
«Ich bringe dich um!» Taub vor Schmerz, robbt Marianne zur Tür und dreht mit letzter Kraft den Schlüssel. Schon poltert Urs wieder, Glas splittert, Scherben fallen zu Boden, «ich bringe dich um!». In Panik ruft Moser die Polizei. Als ihre Nachbarin ihre Schreie hört, die Uniformierten sieht, ruft sie Marianne an, die noch immer hinter der verschlossenen Tür sitzt: «Ich hole dich da raus! Du bleibst nicht länger bei diesem Psychopathen.»
Wenige Wochen später reicht Urs die Scheidung ein. Kurze Zeit danach ist er tot. Die offizielle Todesursache: innere Blutungen durch einen Sturz in seiner Wohnung.
* Name geändert
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