Lass das Heimweh zu Hause
Das Skilager ist für viele Kinder ein Riesenspass. Doch manche quält das Heimweh. Eine gute Vorbereitung hilft, die Trennung zu meistern.
Veröffentlicht am 22. Januar 2013 - 09:32 Uhr
Den ganzen Tag die verschneiten Hänge runterbrettern und am Abend eine Pyjama-Party feiern: Ein Skilager verspricht eine Woche lang Action und Spass, für viele Kinder sind das die schönsten Ferien überhaupt. Manche jedoch finden es gar nicht lustig. Während die Gspäändli einander vom Skilift schubsen und Schneeballschlachten austragen, stehen sie am Pistenrand und starren in die Ferne. Und wenn die Buben nach Lichterlöschen noch einen Streich aushecken, wollen sie bloss noch eins: schlafen. Am liebsten zu Hause, im eigenen Bett. Heimweh plagt sie – und nichts hilft.
«Bei uns gibt es pro Lager etwa zwei bis fünf Kinder, die von den Eltern abgeholt werden, weil es einfach nicht mehr geht», erzählt Charlotte Wandeler. Die Logopädin aus Zürich reist seit 26 Jahren als Betreuerin ins Jugendskilager von Swiss Ski (Juskila), an dem 600 13- und 14-Jährige teilnehmen. Heimweh trifft also nicht nur kleinere Kinder, sondern auch Teenager. Die Sehnsucht nach daheim wird übergross, wenn ein Kind sich in einem neuen Umfeld nicht geborgen fühlt, unsicher ist und nicht die gewohnte Zuwendung erfährt. «Im Laufe der Entwicklung lernen Kinder zwar, sich selber Sicherheit zu geben. In Untersuchungen sehen wir aber, dass etwa ein bis vier Prozent der Jugendlichen an Heimweh leiden», sagt Annette Cina, Psychologin am Institut für Familienforschung und -beratung der Universität Freiburg.
Im Swiss-Ski-Jugendskilager im Simmental ist die Heimweh-Wahrscheinlichkeit wohl noch etwas grösser, da das Los entscheidet, wer mitfahren darf. Die Kinder kennen sich vorher nicht. Vor allem für Schüchterne ist das eine grosse Herausforderung. Die ersten zwei oder drei Tage sind in der Regel die schlimmsten. Heimweh äussert sich dann oft in Form von Bauchschmerzen oder Kopfweh. «Wir verlegen diese Kinder dann meist erst einmal ins Krankenzimmer. Häufig brauchen sie nur ein wenig Ruhe und Abstand vom Lagerrummel», erzählt Charlotte Wandeler.
Nach den ersten Tagen gewöhnen sich die meisten ans turbulente Lagerleben, schliessen Freundschaften und denken keine Sekunde mehr an daheim.
Besonders in Erinnerung blieb Charlotte Wandeler ein Mädchen, das bereits einmal Hautausschläge bekommen hatte vor lauter Heimweh. «Die Mutter rief mich vor den Ferien an und wies auf das Problem hin», erzählt sie. Man kam überein, dass die Mutter in einem Hotel im Ferienort logieren werde, jedoch ohne die Tochter zu treffen, nur für den Notfall. Und tatsächlich: «Im Wissen, dass die Mutter in der Nähe war, hat sich das Mädchen schnell geöffnet und schon am ersten Tag eine Freundin gefunden. Am zweiten schickte sie die Mutter nach Hause.»
Diese unkonventionelle Lösung mag die Hotellerie freuen, für den Normalfall gibt es aber durchaus kostengünstigere Möglichkeiten, um Heimweh vorzubeugen. Auch sehr scheue Kinder, die nicht besonders kontaktfreudig sind und viel Zuwendung benötigen, können sich bei guter Vorbereitung in einem Lager wohl fühlen. «Häufig entsteht Heimweh, wenn ein Kind nicht gut in die Gruppe ein-gebunden ist. Eltern können ihm vorher schon konkrete Möglich-keiten aufzeigen, wie es auf an-dere zugehen und mit ihnen in Kontakt kommen kann», sagt Psychologin Annette Cina.
Einem Kind, das sich in der grossen Gruppe nicht wohl fühle, solle man raten, sich zuerst zu einem einzelnen anderen Kind hinzusetzen und mal eine Frage zu stellen oder etwas zu erzählen. Auswärts schlafen ohne die Eltern lasse sich wochenendweise einüben. «Es empfiehlt sich zudem, vorher über das Lager zu sprechen – worauf man sich freut und was einem Angst macht», sagt Annette Cina. Auch Fragen zum Programm, an wen sich das Kind im Lager wenden oder was es selber gegen Heimweh unternehmen kann, sollten vor der Abreise geklärt werden. Das vermittelt Sicherheit.
Die Teilnehmer des Jugendskilagers erhalten jeweils einige Wochen vorher einen Brief von der zuständigen Betreuungsperson. Darin stellt sie sich und das Programm kurz vor, gibt ihre Kontaktdaten an. «So kennen die Kinder wenigstens schon mal eine Person mit Namen, wenn sie am Bahnhof eintreffen», erklärt Charlotte Wandeler. Viele Teilnehmer rufen ihre Betreuungsperson vorher kurz an, auch wenn eigentlich alles klar ist: «Oftmals haben sie gar keine echten Fragen, sie wollen nur mal meine Stimme hören», sagt Wandeler.
Kann all dies das Heimweh doch nicht verhindern, tun Eltern bei tränenreichen Telefonaten aus dem Lager gut daran, gelassen zu bleiben und verständnisvoll zu reagieren. Gut zuhören, auf die Sorgen des Kindes eingehen sei wichtig, sagt Fachfrau Annette Cina. Aber auch genau nachfragen, weshalb es schwierig ist im Lager, und gemeinsam Lösungen durchgehen.
Oft ist es gar nicht so klar, wer eigentlich Heimweh hat: das Kind oder die Eltern. Betreuerin Charlotte Wandeler stellt fest, dass manche Eltern ihre Kinder fast täglich anrufen und sich nach dem Befinden erkundigen. «Ein Kind kann so gar nicht richtig im Lager ankommen.» Auch Annette Cina rät von häufigem Handykontakt ab: «Das kann besonders für einen Teenager ziemlich peinlich sein, und es ist ausserdem kontraproduktiv.» Trennungsängste der Eltern übertrügen sich häufig auf die Kinder. Sie rät deshalb, vorher abzuklären, in welchen Fällen man telefoniert. Ausserdem sollte man den Abschied positiv gestalten. Eltern dürften ihrem Kind vor der Abfahrt zwar durchaus sagen, dass sie es vermissen werden. Im Zentrum sollte aber die Aussicht auf den Spass stehen, den es im Lager haben wird. «Es ist wichtig, Kinder gehen zu lassen. Sie sollten spüren, dass man ihnen etwas zutraut.»
Ein Kind mit Heimweh im Lager abzuholen sei nur angebracht, wenn es auch nach Tagen noch extrem leide. «Vorher müssen Kinder die Chance bekommen, das selber durchzustehen. Wenn sie es schaffen, wachsen sie daran und werden selbständiger», sagt die Psychologin.
Das kann Charlotte Wandeler aus eigener Erfahrung bestätigen. «Wir hatten mal ein Mädchen, das am liebsten gleich wieder abreisen wollte», erzählt sie. Doch sie habe als Betreuerin zusammen mit den anderen Mädchen der Gruppe immer wieder versucht, die Jugendliche zu motivieren: «Komm, probier es noch 24 Stunden, dann rufen wir zu Hause an und schauen weiter.» Zum Glück habe der Vater des Mädchens am gleichen Strick gezogen – und nach drei Tagen war das Heimweh überwunden. «Am Schluss war mir das Mädchen extrem dankbar. Sie war wahnsinnig stolz, dass sie durchgehalten hat.»