Ganz normal dement
Wir müssen neue Ansätze finden, mit Demenz zu leben. Das Prinzip «Betreuung in Heimen und durch Angehörige» ist überholt, weil es bald zu viele Kranke geben wird. Es braucht nicht mehr Geld, sondern mehr Solidarität. Ein Blick nach Deutschland zeigt, wie das funktionieren kann.
Die Journalistin der ARD fragt: «Ein alter Mensch, der ein bisschen über das Leben in einem der Wohnprojekte erzählt, geht das?» – «Das lässt sich machen», antwortet die Dame hinterm Empfangstresen des Vereins Alt und Jung in Bielefeld. «Und ein Bild aus einem Wohncafé?» – «Mhmm.» Die Fernsehteams stauen sich heute hier. Der Kameramann vom Hessischen Rundfunk will ebenfalls einen alten Menschen und ein Wohncafé, «aber wenns geht nicht dieselben wie meine Kollegin».
«So geht das hier jeden zweiten Tag», seufzt Hans-Joachim Hopp in seinem Büro. «Wir müssen das gut steuern. Unsere Kunden sollen sich ja nicht ausgestellt fühlen.» Hopp leitet im Verein Alt und Jung den Bereich Demenz. «Inzwischen funktioniert unser Angebot so gut, dass viele pflegebedürftige Menschen es vorziehen, zu Hause zu bleiben», sagt er. «Mit der Konsequenz, dass viele Altersheime ihre Plätze nicht mehr loswerden.»
Bielefeld, ein wenig kleiner als Zürich, hat etwas, was andere nun kopieren wollen: das Bielefelder Modell. Es ermöglicht alten, dementen und hilfsbedürftigen Menschen, mitten in der Gesellschaft, in ihrem vertrauten Quartier zu leben. Bis zum Schluss, egal, wie viel Pflege sie benötigen. Das funktioniert. Seit 15 Jahren.
Vielleicht ist das Bielefelder Modell die Antwort auf eine der grössten Herausforderungen unserer Zeit: Wie umgehen mit Demenz? Heute leiden 107'000 Menschen in der Schweiz an dieser Krankheit, bei der das Gehirn allmählich verfällt – und damit auch das Gedächtnis, die Sprache, der Orientierungssinn. Bis ins Jahr 2050 wird sich die Zahl der Demenzkranken verdreifachen (siehe Grafik weiter unten). Zugleich wird es immer weniger pflegende Angehörige geben. Weil immer mehr Frauen berufstätig sind. Weil Kinder und Eltern oft nicht mehr am selben Ort leben.
Heime sind eine schlechte Alternative. Sie sind zu teuer – die direkten Kosten der Pflege daheim sind um 88 Prozent niedriger als bei einem Heimplatz –, teilweise steht schon heute zu wenig qualifiziertes Personal zur Verfügung. Die meisten Menschen wollen auch nicht ins Heim. Auch der Staat wird in Zeiten knapper Kassen viele soziale Aufgaben nicht mehr übernehmen können. Bereits jetzt verursacht die Krankheit in der Schweiz jährlich Kosten in Milliardenhöhe. Demenz, wie wir heute damit umgehen – das ist eine tickende Zeitbombe. Finanziell. Aber auch menschlich. Viele Betroffene und ihre Angehörigen fühlen sich alleingelassen. Es braucht dringend neue Konzepte.
Demenz: Fakten und Prognosen
74'600 Franken betragen im Durchschnitt die direkten Kosten für eine demenzkranke Person in einem Schweizer Heim pro Jahr. Bei Betreuung zu Hause sind die Kosten nur 9000 Franken. Rechnet man aber die Leistung von unentgeltlich Betreuenden hinzu, liegen die Kosten bei rund 57'500 Franken.
65% aller Demenzerkrankungen sind Fälle von Alzheimerkrankheit.
66% der Demenzkranken sind Frauen. Im Jahr 2010 waren es rund 69'000. Grund: Es gibt mehr ältere Frauen als Männer, da Frauen länger leben.
6,9 Mrd. Franken betragen die jährlichen Gesundheitskosten in der Schweiz infolge Demenzerkrankungen. Mit eingerechnet ist der Marktwert unentgeltlicher Pflege und Betreuung.
95% der Kosten der Demenz sind Pflege- und Betreuungskosten.
35,6 Mio. Menschen sind im Jahr 2010 weltweit an Demenz erkrankt. Experten gehen davon aus, dass sich die Anzahl Erkrankungen bis ins Jahr 2050 verdreifachen wird.
Das Prinzip des Bielefelder Modells ist einfach: Die grösste Wohnbaugenossenschaft der Stadt spannt zusammen mit ambulanten Pflegediensten wie etwa dem Verein Alt und Jung. Daraus entstehen sogenannte Wohnprojekte mit bezahlbaren, schwellenfreien Wohnungen und einem Pflegedienstteam vor Ort, das 24-Stunden-Service garantiert. In so einer Wohnanlage lebt alles durcheinander: Familien, Studenten, Bettlägerige, Rüstige, Demente, Junge im Rollstuhl.
Wer Hilfe braucht, zahlt keine Pauschale, sondern nur die Dienste, die er wirklich in Anspruch nimmt. Im Erdgeschoss ist ein Wohncafé, wo sich Mieter und Nachbarn zum Kochen und Essen, Spielen oder Turnen treffen. Wer nicht mehr gut zu Fuss ist, kann sich das Essen auch bringen lassen. Ganz wichtig sind die Ehrenamtlichen, die ausser bei der Pflege überall mit anpacken. Sie werden vom Pflegedienst angeworben. In Bielefeld gibt es inzwischen alle 500 bis 1000 Meter so ein Wohnprojekt. Weil das Angebot allen Quartierbewohnern offensteht, sind Heime hier zum Auslaufmodell geworden. Mit anderen Worten: Die Stadt spart viel Geld, in den letzten 15 Jahren einen zweistelligen Millionenbetrag.
Enni Lucht, 89, wohnt im Projekt «Flehmannshof» am Hägerweg 4 in Bielefeld, ein Hochhaus aus rotem Backstein. Seit Jahren lebt sie allein in ihrer Zweizimmerwohnung im dritten Stock. Früher war sie Diakonin, heute verbringt sie ihre Zeit gern mit Zeitunglesen. Spannende Texte schneidet sie aus, legt sie in Ordnern ab oder sammelt sie im Backofen. Als vor ein paar Jahren ein kleines Feuer ausbrach im Ofen, wusste Hans-Joachim Hopp, dass die Demenz von Frau Lucht im mittleren Stadium angekommen war. Seitdem behält das Team vom Verein Alt und Jung, das im Erdgeschoss seine Büros hat, Enni Lucht im Auge. Viel Hilfe braucht sie noch nicht. Morgens frühstückt sie bei sich, mittags geht sie mit ihrem Rollator ins Wohncafé und holt das Essen und die Medikamente ab für sich und ihre Freundin Frau Lang, die 88 ist und im sechsten Stock wohnt. Frau Lang ist nicht dement, aber fast blind.
Je älter die Menschen, desto mehr Gesundheitskosten
Enni Lucht, zierlich und elegant, sitzt in ihrem Sessel und trinkt Filterkaffee mit Kondensmilch. Egal, was man sie fragt, irgendwann landet sie immer beim Krieg. Früher ging sie noch allein in die Stadt, um für sich und Frau Lang einzukaufen. Aber dann, im Februar, fand sie nicht mehr zurück. «Ich habe um Hilfe gerufen», sagt sie. Es ist ihr etwas peinlich. Dann ging es ihr eine Zeitlang schlecht. Ein paar Wochen musste jemand vom Pflegedienst das Essen bringen, ihr beim Aufstehen, Waschen und Anziehen helfen. «Jetzt kann ich wieder allein.» Nur allein einkaufen geht nicht mehr. Nun begleitet sie immer jemand, wenn sie mit ihrem Rollator draussen unterwegs ist. Mal jemand von Alt und Jung, mal die junge Frau vom elften Stock, die Enni Lucht kürzlich im Lift kennengelernt hat.
Was, wenn Enni Lucht plötzlich den für Demenzkranke teils typischen Laufdrang entwickelt? Stösst das Versprechen des Bielefelder Modells – zu Hause alt werden und sterben – dann nicht an seine Grenzen? Die Frage nach den Grenzen hat Hans-Joachim Hopp erwartet, die kommt immer. «In der Pflege können wir alles leisten, aber wenn ein Kunde anfängt wegzulaufen, können wir nicht mehr für seine Sicherheit garantieren.» Dann bleibe als letzte Lösung nur noch das Heim.
Aber auf der Suche nach neuen Wegen im Umgang mit Demenz sind die Fragen nach den Grenzen zunächst zweitrangig. Priorität hat ein grundsätzlicher Gedanke: Der demographische Wandel geht jeden an, Demenz betrifft alle. Denn die Krankheit wird bald zum Massenphänomen. Gefragt ist eine Gesellschaft, in der Demenz zum Alltag gehört und in der die Kranken ganz normale Mitbürger sind. Normal im Sinn von: eingebunden, unter uns. Um das zu gewährleisten, sind Profis und Angehörige auf Verstärkung angewiesen. Auf mehr zwischenmenschliche Solidarität, mehr ehrenamtliches Engagement.
Freitag ist Brunchtag im «Flehmannshof». Die junge Frau mit multipler Sklerose aus dem siebten Stock ist ins Wohncafé gekommen, ebenso Nachbarn aus dem Quartier und Enni Lucht mit ihrem Rollator. Jürgen Mölling verteilt Körbe mit Brötchen, Platten mit Lachs und Lyoner Wurst. Mölling, 50, ist Industriekaufmann, einer der sieben Ehrenamtlichen vom «Flehmannshof». Mittwochs kocht er, freitags organisiert er den Brunch. An Weihnachten stellt er die Tanne auf und schmückt sie zusammen mit den Mietern. Er macht das, «weil dem Staat doch bald das Geld ausgeht». Was passiert dann mit all jenen, die Hilfe brauchen, aber die Mittel nicht haben? Mölling steht in der Küche, schüttelt sich, weil er sich das gar nicht vorstellen mag. «Wir müssen alle mithelfen, sonst gibt es irgendwann viele Verlierer.»
Viele Menschen in Deutschland denken inzwischen so wie Mölling. Sie schliessen sich zu Initiativen zusammen und wollen in ihren Quartieren und Dörfern ein besseres Leben mit Demenz ermöglichen. Die «Aktion Demenz», ein Netzwerk von Profis, das Städte und Gemeinden dabei unterstützt, «demenzfreundliche Kommunen» zu werden, verzeichnet bereits über 50 Projekte. Klaus Dörner, ehemals leitender Psychiatriearzt und Autor mehrerer Bücher über Alter und Demenz, spricht von einer «neuen Kultur des Helfens» (siehe Artikel zum Thema).
Und in der Schweiz? «Wir sind noch nicht so weit», sagt Birgitta Martensson, Geschäftsleiterin der Schweizerischen Alzheimervereinigung. «Wir Schweizer sind es nicht gewohnt, um Hilfe zu bitten, uns helfen zu lassen. Dorthin zu kommen ist ein längerer Prozess.» Viel Zeit bleibt allerdings nicht, findet Martensson. «Die Betreuung der Menschen mit Demenz können wir nicht mehr lange nur an Angehörige und Profis abschieben.» Sie wünscht sich eine Wiederbelebung der Nachbarschaftshilfe. Zugleich ist sie pessimistisch. «Wer will sich schon freiwillig um einen alten, verwirrten, eventuell aggressiven Mann kümmern?»
Hans-Joachim Hopp vom Verein Alt und Jung gibt zu, dass seine Leute das ehrenamtliche Engagement gezielt fördern müssen. «Wir sprechen Nachbarn an oder inserieren in der Zeitung.» Der jüngst vom Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung publizierte «Demenz-Report» für Deutschland, Österreich und die Schweiz hält dazu fest: «Kommunen tun gut daran, Phantasie und Engagement zu fördern, um ein Unterstützungssystem jenseits der heutigen Institutionen aufzubauen.»
Demente in der Schweiz
Mit steigender Lebenserwartung nehmen auch die Demenzerkrankungen zu.
Dass das funktioniert, zeigt das 2008 initiierte Projekt «Hausbesuche SiL» der Stadt Zürich. SiL steht für: sozialmedizinische individuelle Lösungen für Menschen mit Demenz. Angehörige, Nachbarn oder Freunde können bei der Gerontologischen Beratungsstelle der Stadt anrufen, wenn sie merken, dass jemand aus ihrem Umfeld Schwierigkeiten hat, den Alltag zu bewältigen. Das SiL-Team geht zu den Betroffenen nach Hause und macht zunächst eine Einschätzung der Gedächtnisleistung. In einem zweiten Schritt wird rund um die erkrankte Person und deren Angehörige ein massgeschneidertes Hilfenetzwerk errichtet – mit dem Ziel, einen Heimeintritt so lang wie möglich zu vermeiden.
Das Team arbeitet eng mit Spitex-Diensten, Hausärzten oder Tageszentren zusammen. «Wir mobilisieren aber auch Nachbarn und Bekannte», sagt Barbara Arnold, Leiterin des Projekts. Ihre Mitarbeiter schwärmen sogar aus ins Quartier, informieren Kioskbesitzer, Beizer, den Quartierladen um die Ecke. «Ich bin absolut erstaunt über die grosse Solidarität.» Arnold erzählt von Leuten, die für ihre demenzkranken Nachbarn kochen oder einkaufen, mit ihnen spazieren gehen, ihnen beim Waschen helfen, abends nach der Arbeit für eine Stunde vorbeischauen. «Nicht nur einmal, sondern verbindlich. Ich hätte nie gedacht, dass so etwas in unserer Gesellschaft möglich ist.»
Kosten: Fast die Hälfte für Heime
Aufteilung der jährlichen Gesundheitskosten für Demenzkranke
Die Stadt Burgdorf fördert das freiwillige Engagement, indem sie eine ihrer letzten Baulandreserven Verena Szentkuti-Bächtold anvertraut. Sie packt Computerausdrucke mit den Wohnungsgrundrissen und Projektbeschriebe auf den Tisch, lässt sich auf den Stuhl fallen und lehnt sich erschöpft zurück. Szentkuti, seit langem in der Gesundheits- und Alterspolitik engagiert, ist 67, aber ihren Ruhestand hat sie auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben. Seit die Genossenschaft GenerationenWohnen, deren Präsidentin sie ist, 2010 den Bauwettbewerb «Experimentelles Wohnen» der Stadt Burgdorf gewonnen hat, ist sie ständig auf Achse. Bis 2015 soll die Mehrgenerationensiedlung bezugsbereit sein. Dann wird sich auch zeigen, ob Szentkuti recht hat mit ihrer Vision einer solidarischen Gesellschaft. Sie schmunzelt. «Wir werden den Beweis liefern.»
Wohnen ist für sie ein dynamischer Prozess, etwas, was sich laufend den Lebensumständen anpassen muss. Wer in die Mehrgenerationensiedlung einzieht, soll dort auch alt werden und sterben können. Innen- und Aussenräume sind hindernisfrei, die Grundrisse vieler Wohnungen flexibel. Falls die Kinder ausfliegen oder der Partner stirbt, lässt sich eine Drei- schnell in eine Zweizimmerwohnung umwandeln. Wie in den Bielefelder Wohnprojekten zahlt man für Pflege und Haushaltshilfe keine Pauschalen, sondern nur nach Bedarf. Es wird ein von den Bewohnern betriebenes Café geben. Dann eine Kindertagesstätte und Entlastungsangebote für pflegende Angehörige, etwa in Form eines Tageszentrums.
Geplant sind Wohnungen für Familien, Alleinerziehende, Singles, Studenten oder Alte. Aber auch begleitete Wohngemeinschaften für Menschen mit psychischen und körperlichen Einschränkungen, etwa für Demenzkranke ohne Angehörige. Und damit das Wohnen tatsächlich dynamisch bleibt, wird es eine Anlaufstelle geben, die dabei hilft, Pflege und Betreuung immer wieder aufs Neue zu justieren.
Szentkuti-Bächtold predigt nicht, sie lockt, will mitreissen. Ihr Ernst ist immer sehr charmant, lächelnd, augenzwinkernd. Sie weiss: Viele werden sich womöglich einen Ruck geben müssen, um bei ihrem Projekt mitzumachen. Zu ungewohnt ist das, was ihr vorschwebt, in einem Land, in dem die Privatsphäre heilig ist. Wohnen – das geht bei ihr eben noch weiter. Es ist nicht nur ein dynamischer, sondern vor allem ein gemeinsamer Prozess. «Natürlich ist die Privatsphäre garantiert», schickt sie voraus, wie um das abzufedern, was jetzt kommt. «Jeder, der bei der Genossenschaft Mitglied werden und in die Siedlung einziehen will, muss sich vertraglich verpflichten, einige Stunden pro Woche ehrenamtlich tätig zu sein.»
Inzwischen gibt es in der Schweiz eine ganze Reihe von Projekten, die alten Menschen flexible Wohnlösungen bieten, damit sie möglichst lange zu Hause bleiben können. Aber kaum eines setzt dabei bewusst auch auf zivilgesellschaftliches Engagement. Deshalb wirken diese Konzepte auch so, als hätte da jemand auf halber Strecke schlappgemacht, den Gedanken nicht zu Ende gedacht.
Leben im Heim: Ländervergleich
Anteil Demenzkranker, die in Heimen leben, Jahr 2008
Es geht ja bei der Nachbarschaftshilfe nicht nur ums Sparen oder um Solidarität. In einer alternden Gesellschaft, in der immer mehr Menschen an Demenz erkranken, werden Menschen mit und ohne Demenz täglich aufeinandertreffen. Auch um solch pragmatische Dinge geht es. Auch deshalb ist es so wichtig, Nachbarn, Bekannte, den Bäcker an der Ecke oder den Polizisten zu sensibilisieren und mit einzubeziehen, wie es Szentkutis Mehrgenerationensiedlung oder das Angebot «Hausbesuche SiL» vormachen. Die Menschen ohne Demenz sollten sich langsam an die Menschen mit Demenz gewöhnen, sie sollten lernen, wie man miteinander umgeht. Nur so lässt sich die Abschottung und Isolation der Betroffenen entschärfen. Und vielleicht verliert die Krankheit auf diese Art auch irgendwann ihren Schrecken. Denn auch das ist eine Realität: Menschen, die sich – wie vor einigen Monaten Gunter Sachs – selbst töten, weil sie sich ein würdevolles Leben mit Demenz nicht vorstellen können.
Seit mehr als 20 Jahren erklärt Michael Schmieder den Bewohnern von Wetzikon ZH, wie sie sich verhalten sollen, falls einer seiner Kunden zufällig bei ihnen läutet und sich in ihr Wohnzimmer vor den Fernseher setzt. Schmieder leitet das Pflegeheim Sonnweid in Wetzikon, eine der besten Demenzeinrichtungen weltweit. Ihm fällt auf, «dass die meisten Menschen von Demenz keine Ahnung haben». Deshalb findet er die Idee des Bielefelder Modells, diese Kombination aus Profis und Freiwilligen, zwar gut, «aber nur, wenn die Freiwilligen auch dementsprechend ausgebildet sind».
Ungefähr 35 Ehrenamtliche stocken das «Sonnweid»-Team auf. Sie begleiten die Kranken zum Gottesdienst, zum Wandern oder musizieren mit ihnen. «Davon profitieren beide Seiten», sagt Schmieder. Allerdings beobachtet er, dass auch die Ehrenamtlichen aus Unwissenheit und Überforderung falsch reagieren können. Deshalb besuchen seine Freiwilligen neuerdings an drei Abenden einen Weiterbildungskurs. «Uns ist zum Beispiel wichtig, dass man demenzkranken Menschen nicht von oben herab begegnet, sondern auf Augenhöhe», sagt Schmieder. «Dass man sie nicht einfach duzt. Oder die Geduld verliert und laut wird.»
Bielefeld, der «Flehmannshof» am Hägerweg 4: Gerda Uldin deckt im Wohncafé den Tisch für das Mittagessen. Früher wohnte die 75-jährige Frau ein paar Strassen weiter. In den «Flehmannshof» kam sie, nachdem ihr Mann einen Schlaganfall hatte und sie mit der Pflege überfordert war. Hier griff man ihr unter die Arme. Der Mann ist vor ein paar Jahren gestorben. «Seitdem bin ich Ehrenamtliche, ich habe ja jetzt viel Zeit.» Sie erzählt, wie sie anfangs Schwierigkeiten hatte, vor allem im Umgang mit den demenzkranken Kunden. «Ich bin nicht zu ihnen durchgedrungen, das hat unglaublich Nerven gebraucht.» Inzwischen sei sie fast eine Art Spezialistin, sagt sie. Alle zwei Monate besuchen die Ehrenamtlichen von Alt und Jung einen Weiterbildungskurs. «Man lernt etwas über die Krankheitsbilder. Wenn man die Welt der Dementen besser versteht, kann man auch besser reagieren.» Fast noch wichtiger sind für Uldin aber die anschliessenden Diskussionsrunden, wo sich die Ehrenamtlichen austauschen und ihre Alltagssorgen mit den Kunden loswerden können.
Sie geht jetzt los, um Frau Brücker für das Mittagessen abzuholen. Eleonore Brücker, zerbrechliches, ängstliches Lächeln, wartet bereits in ihrem Wohnzimmer. Sie hat vergessen, wie alt sie ist. Sie weiss auch nicht mehr, wie es überhaupt dazu gekommen ist, dass sie jetzt im «Flehmannshof» wohnt. Einmal wird ihr unsteter, suchender Blick ganz ruhig, und sie sagt: «Jeder Mensch muss da durch. Ich habe keine Angst, ich bin gut aufgehoben.» Mit unsicheren Schritten geht sie durch den Flur. Sie klammert sich an Gerda Uldins Hand wie eine Ertrinkende.
Der Anteil Demenzkranker steigt mit dem Lebensalter
Demenz in der Schweizer Politik
Zwei Motionen sind momentan im Parlament hängig, die einen nationalen Demenzplan fordern. Der Nationalrat nahm sie bereits einstimmig an. Folgt ihm der Ständerat, muss der Bundesrat handeln. Die Schweizerische Alzheimervereinigung verlangt bereits seit mehreren Jahren vom Bund eine solche auf nationaler Ebene koordinierte Demenzstrategie, wie sie andere Länder längst kennen.
Dazu gehören laut Birgitta Martensson, Geschäftsleiterin der Vereinigung, offizielle Daten zu Demenz und Kostenstudien. Weiter braucht es offiziell definiertes, spezifisches «Demenzwissen», damit Ärzte, Pflegende, Angehörige und Laienhelfer wissen, wie mit Demenzkranken umzugehen ist. So soll auch die Frühdiagnose gefördert werden. «Je eher Betroffene um ihre Krankheit wissen, umso schneller können sie und ihre Angehörigen ein Netzwerk der Unterstützung um sich herum aufbauen.»
Noch schneller ginge es mit Stellen, die alle Informationen gebündelt anbieten – wie in Frankreich, wo es die «lokalen Informations- und Koordinationszentren» gibt. Profis arbeiten hier zusammen mit Betroffenen und ihren Familien individuelle Hilfspläne aus und begleiten deren Durchführung.