Beobachter: Klaus Heer, waren Sie schon einmal untreu?
Klaus Heer: Es ist fast nicht möglich, ein ganzes Leben lang immer treu zu sein. Weil man unvollkommen ist. Und manchmal lebenslustig.

Beobachter: War der Seitensprung eine schlimme Erfahrung?
Heer: Jede Untreue ist schlimm. Fast immer ist sie eine Naturkatastrophe in einer Beziehung.

Beobachter: Sie arbeiten in Ihrer psychologischen Praxis gerne mit Paaren, die Untreue erlebt haben. Warum?
Heer: Von Untreue gebeutelte Paare stehen mir auf Anhieb näher als Paare, die mir sagen, in ihrer Beziehung laufe nichts mehr. Geht einer von beiden fremd, so ist das ein Zeichen, dass in einer Partnerschaft Leben drin ist, dass da vulkanische Hitze kocht. Das ist für mich als Therapeut dankbarer und energetisch ergiebiger, als wenn ich eine grosse weite Wüste vor mir habe.

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Beobachter: Also heisst die richtige Lebensmaxime «lieber untreu und lebendig als treu und vertrocknet»?
Heer: Ich werde mich hüten, Ihnen zu sagen, was richtig ist. Es gibt kein richtig oder falsch. Jeder Mensch hat die Chance, selber zu entscheiden.

Beobachter: Die Bibel gibt aber eine klare Antwort: «Du sollst nicht ehebrechen.» Ist das Blödsinn?
Heer: Wenn ein Mensch die Bibel zu seiner Richtschnur wählt, ist das alles andere als Blödsinn. Dann ist dieses Gebot genau richtig. Orientiert sich jemand eher an Werten wie «mehr Selbstbestimmung» oder «mehr Lebendigkeit», will er sich nicht von aussen leiten lassen.

Beobachter: Damit werten Sie.
Heer: Nein. Das sind zwei mögliche, gleichwertige Antworten auf das Dilemma zwischen Treue und Lebendigkeit. Niemand weiss, was richtig ist.

Beobachter: Soll ich einer Frau ausweichen, wenn ich merke, dass es knistert? Dann vertrockne ich doch.
Heer: (lacht) Sie können auch als Distel glücklich sein. Das sind bezaubernde Gewächse. Nicht jeder braucht das erotische Knistern, das in der Verliebtheitszeit anfällt.

Beobachter: Aber manche Menschen bleiben nur treu, weil sie Angst vor den Konsequenzen eines Seitensprungs haben.
Heer: Treu sein heisst nicht unbedingt, dass man besonders tugendhaft ist. Man kann auch einfach faul und phantasielos sein oder Angst vor Veränderung haben. Das ist die sogenannte passive Treue. Wer jahrelang passiv treu ist, kann bösartig verkrusten. Ich staune immer wieder, wie gehässig und lieblos Leute miteinander umgehen, die untadelig treu sind. Viele Paare leben verbissen in einem respektlosen, kalten Klima. Fernab von der Liebe, die sie sich einst geschworen haben. Damit verraten sie die Liebe und setzen die Treue auf Platz eins ihrer Beziehungsprioritäten. Das ist ein Graus!

Beobachter: Wie lösen Sie für sich das Dilemma von Treue und Lebendigkeit?
Heer: Treue und Lebendigkeit schliessen sich nicht aus. Ich verstehe Treue als eine dauernde Herausforderung, meine Beziehung lebendig zu erhalten. Das nenne ich die aktive Treue. Sie ist mit Aufwand verbunden, mit einem unermüdlichen Engagement für die Zweisamkeit: Phantasie, Lebenslust und Zusammenlebenslust, um den gemeinsamen Beziehungsgarten am Blühen zu halten und fruchtbar werden zu lassen.

Beobachter: Wie verdorrt denn eine Beziehung?
Heer: Das passiert nicht über Nacht, sondern über Jahre, leise und unauffällig. Im Leben eines Paares gibt es viel Wichtiges und Dringliches, vor allem die Kinder. Die Partner lenken ihre Aufmerksamkeit weg von ihrer Beziehung hin auf ihre Nachkommen – notgedrungen. Daneben bleibt nur wenig Platz und Herzblut für die Paarbeziehung, für deren liebevollen und sinnlichen Seiten.

Beobachter: Und dann geht ein Partner fremd, weil er sich in der Beziehung langweilt.
Heer: Ja, so kanns laufen. Dabei übersehen sie aber das Fremde in der eigenen Beziehung und in sich selbst. Die Alternative zum Fremdgehen wäre, diese Fremdheit im eigenen Haus wieder entdecken zu wollen.

Beobachter: Wie erklären Fremdgänger in Ihrer Praxis die Untreue?
Fast alle sagen, sie seien nicht absichtlich fremdgegangen. Die Gelegenheit sei ihnen buchstäblich in den Schoss gefallen.

Beobachter: Ist das nicht eine faule Ausrede?
Heer: Nein, Untreue kann jedem passieren. Sie kommt in den besten Beziehungen vor. Manchmal ist es nicht einfach, eine Gelegenheit an sich vorbeiziehen zu lassen. Gelegenheit macht Liebe.

Beobachter: Und wie werden Fremdgänger überführt?
Heer: Fast immer übers Handy. Das Handy hat das Fremdgehen revolutioniert, weil es die Logistik entscheidend vereinfacht. Genauso effizient ist aber die paarinterne Handyspionage. Es ist auch gang und gäbe, dass private Mails des Partners gelesen und die besuchten Websites abgerufen werden.

Beobachter: Kommt da beim Betrogenen viel Wut und Trauer zum Vorschein?
Heer: Ja. Wut, Trauer, Angst, Enttäuschung, Verzweiflung. Man lernt in dieser Situation den Partner ganz neu kennen. Sieht, wie er unter dramatischem Stress erstarrt, in Tränen ausbricht oder wütend wird. Es ist völlig unvorhersehbar, wie der Betrogene auf ein Geständnis reagiert.

Beobachter: Soll man Seitensprünge besser verschweigen?
Heer: Das weiss ich nicht. Es lässt sich bloss so viel sagen: Untreue sollte man besser für sich behalten, wenn es beim Geständnis nur darum geht, das eigene Gewissen zu entlasten oder dem anderen etwas heimzuzahlen.

Beobachter: Überleben viele Beziehungen ein solches Geständnis?
Heer: Bei den Paaren, die ich begleite, schaffen es vielleicht zwei Drittel, ihre Beziehung einigermassen heil durch die Untreue-Turbulenzen zu bringen. Die Krise kann dann zum Ausgangspunkt werden für einen völlig neuen Lebensabschnitt bis hin zu einem sexuellen Revival. Da spriesst manchmal plötzlich die Saublume aus den Rissen im Beton. Aber die Wunden sind allemal tief, weil der Partner das erste der Zehn Gebote verletzt hat: «Du sollst keine anderen Götter neben mir haben.» Das ist eine Todsünde.

Beobachter: Man merkt, Sie sind katholisch aufgewachsen. Ist das starre Treuegebot der Kirche der Grund für viele erstarrte Beziehungen?
Heer: Moment, seien wir fair! Das strikteste Treuegebot kommt nicht von der Kirche, sondern von der Beziehung selbst, aus der gemeinsamen Geschichte des Paares. Zwei Menschen entdecken zusammen das Wunder der Liebe in ihrer stürmischsten Form. Dieses goldene Zeitalter wirkt jahrzehntelang nach. Untreue ist eine Schandtat an der eigenen Liebesgeschichte und Hochverrat an der damals gefühlten Liebe. Die Kirche fügt der Katastrophe des Liebesbruchs eigentlich nichts hinzu.

Beobachter: Das Konzept der lebenslangen Treue wurde erstellt, als Ehen viel weniger lang dauerten, weil die Menschen früher starben. Heute müssen Ehen 50 und mehr Jahre halten. Sind da Menschen nicht überfordert?
Heer: Doch. Zumindest gefordert bis an ihre Grenzen. Die Lebenserwartung ist in den letzten 100 Jahren um das Dreifache gestiegen, und die Partnerschaften können oft nicht mithalten. Beziehungen sind lebende Organismen wie Blumen und Schmetterlinge – mit einer bestimmten, immer begrenzten Lebenszeit. Und die ist heute oft kürzer als jene der Menschen, die in diesen Beziehungen leben.

Beobachter: Wie würde ein modernes Treuegebot lauten?
Heer: (überlegt lange) Vielleicht so: «Sei dankbar für jeden Tag, an dem euch beiden das nahezu unmögliche Kunststück einigermassen gelingt, einander treu zu sein und gleichzeitig euch selbst.»

Klaus Heer, 66, ist Paartherapeut in Bern und hat verschiedene Bücher zu Sexualität und Liebe verfasst. Vor kurzem erschien «Klaus Heer, was ist guter Sex?», eine Sammlung von Interviews mit Klaus Heer, geführt von Barbara Lukesch.

Quelle: Jojakim Cortis