Beobachter: Sind Singles freiwillig allein?
Karl Lenz: Früher oder später sehnen sich Singles wieder nach einer Paarbeziehung. Weil sie dort Qualitäten finden, die sie durch nichts anderes ersetzen können. Das Single-Dasein ist in aller Regel keine dauerhafte Lebensform, sondern eine Lebensphase, eine Übergangszeit zwischen zwei Beziehungen.
Beobachter: Gibt es immer mehr Menschen, die nicht in einer festen Zweierbeziehung leben?
Lenz: Es gibt Anzeichen dafür. Beziehungen sind instabiler geworden. Vor 30 Jahren galt die Ehe als Bund fürs Leben. Eine Scheidung war ein riesiger Makel – vor allem für die Frau. Mittlerweile wird fast jede zweite Ehe geschieden. Eine Beziehung ist heute eine Option unter vielen. Ist man glücklich, bleibt man. Wenn nicht, geht man.
Beobachter: Singles bekommen oft zu hören, sie seien nicht bindungsfähig.
Lenz: Diese Behauptung ist scheinheilig; das Modell der Paargemeinschaft von der Jugend bis zum Tod ist heute gerade die Ausnahme und nicht mehr die Regel. Typisch sind heute Kettenbiographien: Man hat im Leben Zweierbeziehungen, die mehr oder minder dauerhaft sind. Dazwischen ist man Single. Single – das sind nicht die anderen, das sind wir alle, irgendwann.
Beobachter: Ein weiteres Vorurteil: Singles sind sexuell aktiver als Menschen in einer festen Beziehung.
Lenz: Nein. Im Gegensatz zum Paar muss ein Single seine Sexualpartner ja erst finden.
Beobachter: Die grössten Unterschiede zwischen Single-Frauen und Single-Männern?
Lenz: Es gibt mehr Gemeinsamkeiten. Der verlassene Mann etwa muss wie die verlassene Frau eine Kränkung des Ego verarbeiten. Beide quälen sich mit der Frage: «Bin ich überhaupt liebenswert?» Klar unterscheiden kann man nur zwei geschlechtsspezifische Gruppen. Einerseits jene Männer, die noch nie eine Beziehung hatten – das gibt es bei Frauen fast nicht. Anderseits die Frauen, die genug von Beziehungen haben – was es bei Männern fast nicht gibt.
Beobachter: Sprechen wir zuerst über die Männer.
Lenz: Männer, die noch nie eine Beziehung hatten, haben meist einen niedrigen sozialen Status, Landwirte zum Beispiel. Sind sie im Auftreten geschickt oder tolle Tänzer, können sie die Statusnachteile allenfalls ausgleichen. Wenn nicht, dominiert die klischierte Horrorvorstellung: hartes Landleben mit unromantischem Bauerntölpel.
Beobachter: Gibt es auch Frauen, die auf dem Beziehungsmarkt kaum Chancen haben?
Lenz: Generell haben Frauen sehr gute Karten – ob Bäuerin oder Professorin. Das kippt im Alter. Ab 40 sinken die Chancen für sie rapide. Hingegen kann ein fitter Senior auch mit 70 Jahren noch eine Neue finden.
Beobachter: Was ist denn mit jenen Frauen los, die keine Beziehung mehr wollen?
Lenz: Es kommt häufig vor, dass eine Frau nach 20 Ehejahren die Nase voll hat. Sie ist es leid, nur die Zudienerin zu sein; ständig zurückstecken zu müssen, während er sich entfaltet. Nach dem «Jetzt reicht es!» bleiben diese Frauen oft lange allein.
Beobachter: Ist die Single-Frau eine befreite Frau?
Lenz: Das hat einen wahren Kern. Nehmen wir die TV-Serie «Sex and the City» über vier Single-Frauen, die auf eigenen Beinen stehen und sich kein amouröses Abenteuer entgehen lassen. Vor 20 Jahren hätte man sich das nur von einem Mann vorstellen können. Das Frauenbild, das die Sendung transportiert, scheint bei Frauen einen Nerv zu treffen: finanziell unabhängig, frei ausgelebte Sexualität – und, eben, Single.
Beobachter: Können Single-Frauen besser mit dem Alleinsein umgehen als Single-Männer?
Lenz: In Sachen Alltagsorganisation wie kochen oder Wäsche waschen: ja. In Beziehungen ist es immer noch vielfach so, dass der Mann mit Hausarbeit nichts zu tun hat.
Beobachter: Haben es Frauen auch psychologisch einfacher?
Lenz: Haben sie einen Kinderwunsch, kann das Alleinsein zur enormen Belastung werden. Aber allgemein bleiben Frauen gelassener. Single-Männer geraten schneller in Panik.
Beobachter: Warum?
Lenz: Ein grosses Problem für Singles ist die Frage: «Wie und mit wem fülle ich meine Zeit?» Das Wochenende ist plötzlich leer, die Alltagsroutine muss neu organisiert werden. Frauen haben in dieser Situation ein starkes soziales Netzwerk, weil sie bereits während der Beziehung darauf geachtet haben, viele Freundschaften zu pflegen.
Beobachter: Männer nicht?
Lenz: Die lassen ihre Freundschaften während der Beziehung oft schleifen. Danach müssen sie erst wieder ein Unterstützungssystem herstellen. Sie empfinden das Alleinsein deshalb häufiger als Einsamkeit.
Beobachter: Und verwahrlosen in dieser Zeit: verlotterter Haushalt, viel Fastfood, viel Alkohol?
Lenz: Verheiratete Männer leben länger und gesünder als unverheiratete, das ist erwiesen. Sie profitieren vom stabilen Rahmen, den Frauen ihnen bieten. Männer profitieren überhaupt stärker von der Ehe als Frauen.
Beobachter: Mit welchen Vorurteilen haben Single-Frauen heute zu kämpfen?
Lenz: Mit dem Emanzenvorwurf. Eine Single-Frau ist für viele jemand, der sich zu sehr für Frauenrechte einsetzt. Single-Frauen müssen, wenn sie potentielle Partner nicht abschrecken wollen, auch heute noch eine gewisse Anlehnungsbedürftigkeit ausstrahlen. Sie dürfen nicht zu stark wirken.
Im zweiten Teil des Interviews (siehe Artikel zum Thema) äussert sich Karl Lenz über einsame Cowboys, starke Frauen und das Klischee «Frauen wollen reden, Männer wollen Sex»