«Ich kann einfach nicht loslassen»
Verliebt zu sein, ist ein überwältigendes Gefühl. Harzt es jedoch in der Beziehung, sollte man sich fragen, welche anderen Aspekte die Liebe zusammenhalten.
Veröffentlicht am 26. April 2021 - 17:30 Uhr
Leserfrage: «Ich bin seit einem Jahr unglücklich verliebt. Und ich kann einfach nicht loslassen. Was soll ich tun?»
Danke für Ihr sehr offenes Schreiben. Sie haben sehr jung geheiratet, hatten drei wunderbare Kinder, die Ehe war aber leider nicht so wunderbar. Ausser den Kindern hatten Sie und Ihre Frau wenig, das Sie zusammenhielt – und so kam es nach 18 Jahren zur einvernehmlichen Scheidung.
Mit dem Leben kommen Sie mehrheitlich gut zurecht. Sie lieben Ihren Job, haben viele Hobbys und kennen das halbe Dorf. Nur: Jemand an Ihrer Seite, das fehlt. Seit der Scheidung hatten Sie eine längere und eine kürzere Beziehung.
Und nun, vor einem Jahr, haben Sie über Ihren Job eine Lieferantin kennengelernt. Die Chemie stimmte sofort. Und der erste Monat auch. Seither ist es allerdings ein stetes Auf und Ab. Es gibt Wochenenden, da stimmt einfach alles. Und dann folgt immer wieder eine Phase, in der es nur schwierig ist. Sie scheinen dann alles falsch zu machen und fühlen sich nur kritisiert .
Noch schlimmer ist es, wenn Sie gar nichts hören. Bis zum nächsten tollen Wochenende, da ist es dann, als wäre nie etwas gewesen. Eigentlich wissen Sie, dass Sie die Beziehung beenden müssten. Das ist Ihnen jeweils sonnenklar, bis zu dem besagten nächsten tollen Wochenende.
«Im verliebten Status geben wir gewissen Dingen zu viele Punkte.»
Thomas Ihde, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH
Beziehungen machen uns Menschen aus – kein Lebewesen auf diesem Planeten lebt ein so vielfältiges Beziehungsgeflecht wie wir. Kaum etwas anderes hat aber auch einen so starken Einfluss auf unsere Zufriedenheit oder eben Unzufriedenheit.
Heute werden drei Aspekte einer Beziehung unterschieden:
- romantisch
- sexuell
- partnerschaftlich
Sie sprechen stark den romantischen Teil an. Im besagten ersten Monat hatte das Leben eine völlig andere Farbe , alles war so intensiv, lebendig und bedeutsam. Allein der Duft ihres Parfums löste bei Ihnen Herzpochen und feuchte Hände aus. Einmal beobachteten Sie Ihre Partnerin still, wie sie einen Tee zubereitete. Es schien wie der bis anhin perfekteste Moment in Ihrem Leben, alles fühlte sich so stimmig an, und die Zeit schien in diesem Moment stillzustehen.
Was kann ich Ihnen nun raten? Sie scheinen sehr stark auf den romantischen Aspekt der Beziehung anzusprechen und nehmen dafür enorm viel in Kauf. Das war schon in den beiden letzten Beziehungen so. Das Verliebtsein befördert Sie nicht auf Wolke 7, sondern gleich auf Wolke 21. Und von so hoch oben sieht man dann eben vieles nicht mehr so gut. Vielleicht hat es mit der wirklich frühen Ehe zu tun und damit, dass Sie damals eigentlich nur kurz verliebt waren, dass Sie also einen emotionalen Nachholbedarf haben. Seien Sie sich also bewusst, dass Sie im verliebten Status gewissen Sachen dreimal so viele oder eben zu viele Punkte geben.
Sorgen würde mir machen, dass die negativen Punkte fast alle partnerschaftlichen Aspekte der Beziehung betreffen. Madonna soll mal gesagt haben, dass man viel mehr Zeit beim gemeinsamen Zeitunglesen und Frühstücken verbringt als mit Sex – oder eben auch mit dem Verliebtsein. Sex und Verliebtsein sind sehr schöne und wichtige Dinge. Es sind aber die partnerschaftlichen Aspekte, denen Sie dreimal so viele Punkte geben sollten.
Es kann auch sein, dass Sie zwar überdurchschnittlich gern verliebt sind, aber vor allem Probleme haben, sich zu trennen . Als Menschen haben wir mehr oder weniger bewusste Leitsätze. Die gehen oft weit in unsere Kindheit zurück und sind entweder Sätze, die wir von unseren Eltern übernommen haben, oder die unsere eigenen kindlichen Erklärungen für Schwieriges waren.
Ein Beispiel wäre ein Knabe, dem sehr viel daran liegt, was sein Vater von ihm hält. Er geht sogar – wie sein Vater – in die Blasmusik im Dorf, obwohl er die Trompete vom ersten Moment an überhaupt nicht mag. Zwei Jahre hält er trotzdem durch. Den enttäuschten und schweigsamen Blick des Vaters, als er aufhört, vergisst er nie. Es ist der gleiche Blick, den er sieht, als er ihm von seiner Scheidung berichtet. Sein Leitsatz «Ein Müller gibt nicht auf» hat ihm bei vielem geholfen, zum Beispiel bei beruflichen Durststrecken. Aber eben auch geschadet – zum Beispiel, wenn es um eine notwendige Trennung geht.
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