Das Christkind fliegt jedes Jahr durchs Quartier und sammelt die Wunschzettel ein. Das war schon immer so und wird es auch bleiben, dachte die neunjährige Lea bis vor kurzem. Darum legte sie jedes Jahr im Dezember ein Brieflein und ein Mandarinli vors Fenster ihres Zimmers. Das Mandarinchen, weil sie hoffte, damit die Chance auf das lang ersehnte Barbie-Wohnmobil zu erhöhen. Und tatsächlich, am Morgen war der Brief weg, und von der Frucht lag nur noch die Schale da. «Darum habe ich noch ans Christkind geglaubt, als meine Freundinnen in der Schule schon sagten, das stimme alles gar nicht», sagt Lea. «Ich konnte mir nicht vorstellen, dass jemand anders mitten in der Nacht auf dem Fensterbrett ein Mandarinli isst.»

Partnerinhalte
 
 
 
 

Das Ende des Brauchs läutete bei Lea denn auch nicht das Christkind ein, sondern Kollegin Zahnfee. Sie ersetzte ausgefallene Milchzähne durch Fünfliber. Natürlich nur, wenn der Zahn unter dem Kopfkissen lag und das Zimmer zuvor tipptopp aufgeräumt worden war. Das klappte immer. Bis in jener Nacht, in der Lea nicht schlafen konnte und ihre Mutter mitten in der Nacht zum Kissen tappen sah.

Unwahrheiten werden gezielt eingesetzt

Vom Christkind über den Meersäuli-Himmel bis zu den Zahnteufelchen: Die meisten Eltern nehmen es mit der Wahrheit nicht so genau, wenn sie ihren Kindern die Welt erklären. Dass sie sogar gezielt Unwahrheiten einsetzen, um ihre Sprösslinge zu einem bestimmten Verhalten zu bewegen, zeigt eine neue Studie: Forscher der University of Toronto und der University of California befragten 127 Eltern zu Lügen gegenüber ihren Kindern. Fast alle befragten Eltern gaben zu, regelmässig kleine Unwahrheiten einzusetzen. «Wir waren überrascht, wie oft in der Erziehung gelogen wird», so Studienleiter Kang Lee.

Die Forscher raten zwar, Alternativen zur Lüge zu suchen, haben aber auch Verständnis für Eltern, die schummeln: «Niemand verlangt ernsthaft von Eltern, dass sie ihrem zweijährigen Kind sagen, sein Gekritzel gefalle ihnen nicht.»

«Eine Lüge kann legitim sein»

«Lügen sind weder gut noch schlecht», sagt auch Luciano Gasser, Entwicklungspsychologe und Dozent an der Pädagogischen Hochschule Zentralschweiz. «Entscheidend sind die Beweggründe, die dazu geführt haben, sie einzusetzen.» Zwar gibt Gasser zu, dass ihn die Studienergebnisse ebenfalls erstaunt hätten, denn Ehrlichkeit sei eigentlich eine Grundvoraussetzung für eine vertrauensvolle Beziehung, aber so schwarzweiss sei das mit der Wahrheit nun mal nicht. «Wenn Eltern eine Lüge einsetzen, um das Selbstwertgefühl ihres Kindes zu schützen oder um es vor einer Gefahr zu bewahren, kann sie durchaus legitim sein.» Also willkommen, ihr Samichlaus-Ruten und Zahnteufel? «Keineswegs», kontert Gasser. «Wenn Eltern mit Angst operieren oder lügen, um ihr Kind kurzfristig in den Griff zu bekommen, wirds heikel.»

Ein regelrechtes Plädoyer für Christkind, Samichlaus, und Tierlihimmel hält Eva Zoller Morf, Philosophin und Religionspädagogin, die regelmässig mit Kindern und Eltern philosophiert. Sie wehrt sich auch dagegen, in diesem Zusammenhang von Lügen zu sprechen, «eher von Bräuchen und Mythen». Auch wenn ein freundlicher Samichlaus als Erziehungshilfe eingesetzt wird, sieht sie kein Problem. «Solange ein Kind daran glaubt, ist es durchaus erlaubt, ihm zu sagen, dass der Samichlaus gewisse Sachen nicht so schätzt.» Noch besser sei allerdings, die Kleinen selber zu fragen, was der Samichlaus wohl gut finde und was nicht. «Kinder haben ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsgefühl und eine klare Vorstellung davon, was gut und böse ist», sagt Zoller. Doch leidet diese nicht, wenn die Sprösslinge eines Tages feststellen müssen, dass die Eltern sie angeschwindelt haben? «Nein», sagt Zoller. «Irgendwann am Anfang der Schulzeit entwachsen die Kinder dem magischen Denken und beginnen, Dinge kritisch zu hinterfragen.» Dann hätten sie ein Anrecht auf ehrliche Antworten. Was aber nicht heisse, dass man sie von einem Tag auf den anderen mit «harten Fakten» eindecken solle. «Man darf einem Kind durchaus zutrauen, dass es selber steuert, was es schon wissen möchte und was nicht.»

Auch Psychologe Gasser beschwichtigt: «Wir alle sind mit Christkind und Co. aufgewachsen. Und ich kenne niemanden, dem daraus ein Schaden entstanden ist.» Im Gegenteil, die meisten verbänden doch schöne Erinnerungen damit.

Mehr als absolute Ehrlichkeit verlangt er von Eltern, dass sie mit ihren Kindern diskutieren, wann Lügen in Ordnung sind und wann nicht. Es mache definitiv einen Unterschied, ob man jemanden anlüge, um einen Freund zu schützen oder um sich einen persönlichen Vorteil zu verschaffen. «Dem Kind ein solches moralisches Differenzierungsvermögen beizubringen ist die zentrale Aufgabe der Erziehung», erklärt Gasser. «Wenn Eltern sich dieser Aufgabe stellen, werden sie ihr eigenes Verhalten automatisch hinterfragen und auf die eine oder andere Lüge verzichten.»

Was Kindern anderswo vorgegaukelt wird

In Italien erwarten die Kinder am 6. Januar La Befana, die gute alte Hexe. Sie fliegt von Dach zu Dach und bringt Süssigkeiten für die braven und Kohle für die bösen Kinder – und legt diese in die vor der Tür bereitgestellten Schuhe oder in die Strümpfe am Kamin.

In Spanien ist ebenfalls der 6. Januar der grosse Tag der Kinder. Majestätisch reiten die Heiligen Drei Könige in der Nacht vom 5. auf den 6. Januar auf Dromedaren durch die Stadt und verteilen Naschereien.

In Holland kommt am 5. Dezember der Sinterklaas. Am Vorabend legen die Kinder einen Stiefel mit ihrem Wunschzettel vor die Tür oder den Kamin. Dazu eine Karotte und Wasser für Sinterklaas Schimmel. Der Sinterklaas reitet von Dach zu Dach und wirft Süsses und Geschenke durch den Kamin.

In Russland wurde nach der kommunistischen Revolution der Nikolaus abgeschafft und durch Grossväterchen Frost und seine Helferin Schneeflöckchen ersetzt. Der Christbaum mutierte zum Neujahrsbaum – an Neujahr erhalten russische Kinder also auch die Geschenke.

Womit es Eltern nicht mehr versuchen sollten

  • Auch wer lange vor dem Fernseher sitzt, bekommt keine viereckigen Augen.
  • Vom Guetsliteigessen gibts keine Würmer.
  • Es hat noch keiner Bananenfüsse gekriegt, weil er die Schuhe verkehrt herum anzog.
  • Ein verschluckter Kaugummi bleibt nicht an der Magenwand kleben.
  • Niemand beginnt zu schielen, nur weil er die Augen verdreht.
  • Spinat macht nicht stark.