«Es ist ein Ringen um Normalität»
Eltern von Sporttalenten laufen Gefahr, ihre eigenen Bedürfnisse zu vernachlässigen und zu Dienstleistern ihrer Kinder zu werden, sagt Sportpsychologin Katharina Albertin.
Beobachter: Ein Sporttalent zieht in der Familie alle Zeit und Aufmerksamkeit auf sich. Ist so eine normale Eltern-Kind-Beziehung überhaupt noch möglich?
Katharina Albertin: Es ist ein stetes Ringen um Normalität – sehr anspruchsvoll. Im Vergleich zu anderen Gleichaltrigen bewegt sich ein junger Leistungssportler in mancher Hinsicht nicht mehr im Rahmen der Normalität. Durch all die Faktoren in seiner Umwelt muss er sich im Alltag völlig anders organisieren. Das wirkt sich auf die familiären Beziehungen aus.
Inwiefern?
Für ihre Entwicklung brauchen Kinder mit zunehmendem Alter mehr Distanz von den Eltern. Das Bedürfnis nach Autonomie wächst, die Peergruppe wird wichtiger (siehe Grafik). Das ist bei allen Kindern so. Sporttalenten fällt es aber weniger leicht als anderen Kindern, diese Ablösung zuzulassen. Denn sie sind noch mehr auf den Support der Eltern angewiesen – nur schon ohne deren Fahrdienste wäre das Sportprojekt vielfach undenkbar. Diese Abhängigkeit macht es kompliziert.
Kindererziehung heisst ja auch: Regeln setzen, Meinungsverschiedenheiten haben
, Grenzen ausloten. Gehen diese emotionalen Aspekte verloren?
Die Gefahr besteht. Weil die Sporttalente so stark von Dienstleistungen ihrer Eltern abhängig sind, kann eine ungute Nähe entstehen. Gerade im Jugendalter gibt es dann häufig zu wenig Rebellion oder Opposition. Als Folge davon beginnt es andernorts zu knirschen, weil sich das Bedürfnis nach Ablösung irgendwo ausdrücken muss.
Wie reagieren Sporteltern auf solche Krisen?
Wenn ihr Kind, das bisher so folgsam und pflegeleicht war, mit einem Mal wortkarg wird und sich zurückzieht, reagieren die Eltern häufig irritiert. Sie befürchten, es gehe ihrer Tochter oder ihrem Sohn nicht gut. Wenn sie damit zu mir in die Praxis kommen, sage ich ihnen: «Er will lieber allein sein und im Zimmer ‹chillen› statt über seinen Match reden? Wunderbar, das klingt sehr gesund!» Diese Abgrenzung ist wichtig – gerade im durchgetakteten Leben eines jungen Athleten.
«Im Sport spiegelt sich vieles, was im ganz normalen Erziehungsalltag vorkommt. Es ist einfach akzentuierter, vieles äussert sich zugespitzt, schneller, unmittelbarer.»
Katharina Albertin, Sportpsychologin
Eine Sportmutter hat uns nach unserem Gespräch eine E-Mail nachgeschickt. Sie habe ganz vergessen zu sagen, dass sie auch sehr stolz sei auf ihren Sohn als Menschen. Was sagt das aus?
Sie spürt, dass sie in ihrer Rolle hin und her gerissen ist. Das Sportlersein ist bei Talenten auf dieser Stufe derart dominierend, dass es für die Eltern eine Herausforderung ist, dahinter auch noch das Kind wahrzunehmen, das es ja primär ist.
Und wie ist es für ein Kind, wenn es auf den Sport reduziert wird?
Ich kenne Beispiele, da nimmt das Talent – auch durch den Einfluss des Umfelds – fast nur noch seine Sportidentität wahr. Dann ist es wie namenlos, bloss «die Skifahrerin». Bei Familienfesten heisst es dann: «Und, wie geht es der Skifahrerin?» Das kann kritisch sein. Vor allem dann, wenn das Talent gerade erfolglos ist, vielleicht ans Aufgeben denkt. Das kann zu Identitätskrisen führen. Die Talente fragen sich: «Wer bin ich, wenn ich nur noch eine halbbatzige oder gar keine Skifahrerin mehr bin?»
Was ist die grösste Herausforderung für Eltern von jungen Talenten?
Ihre Leistung als Unterstützer zu erbringen – und gleichzeitig zu spüren: Ich habe auch noch mein eigenes Leben, meine persönlichen Werthaltungen. Eltern von Sporttalenten sind zunehmend gefordert, den eigenen Lebensentwurf nach den Bedürfnissen des Kindes
auszurichten. Aber so läuft man Gefahr, dass irgendwann überhaupt keine Zeit mehr für das eigene Hobby bleibt. Dann ist das Hobby des Kindes auch das eigene Hobby. Das ist fatal, denn es kann ja sein, dass der Sport plötzlich wegbricht – und dann steht man ohne Aufgabe da. Es ist deshalb wichtig, die Beziehung zwischen Eltern und Kindern immer mal wieder ein Stück weit zu «entkleben».
Wie gross ist umgekehrt die Gefahr, dass Eltern ihre eigenen Wünsche auf ihr Kind übertragen?
Das ist eine Falle, in die Sporteltern laufen können. Dass sich etwa ein Vater sagt: Wenn ich es schon nicht zum Fussballprofi geschafft habe, dann wenigstens mein Sohn. Diese Mechanismen gibt es aber auch ausserhalb des Sports, in Bezug auf die Bildung beispielsweise. Im Sport sind die Ziele nur greifbarer und leichter messbar. Überhaupt: Im Sport spiegelt sich vieles, was im ganz normalen Erziehungsalltag vorkommt. Es ist einfach akzentuierter, vieles äussert sich zugespitzt, schneller, unmittelbarer.
Wenn die Eltern ihre Hoffnungen formulieren, signalisieren sie damit ja auch: Wir nehmen Anteil an dem, was du tust.
Natürlich sind solche Signale wichtig. Es ist für ein Kind aber nicht hilfreich, wenn seine Eltern derart hohe Erwartungen haben, die es vielleicht gar nicht erfüllen kann. Im ersten Moment kann es zwar schön sein, zu sehen, wie fest sich der Papi freut. Aber wenn es nicht gut läuft, dann ist der Papi eben auch sehr fest enttäuscht. Das ist eine übertriebene Identifizierung – das Kind ist so der verlängerte Arm der Eltern. Das darf nicht sein.
Was richtet man mit übersteigerten Erwartungen beim Kind an?
Das führt beim Kind zu Stress und kann es in seiner Leistung blockieren
. Dieser Stress kann sich unterschiedlich äussern, in Motivationsproblemen, Aggressionen, Ängsten. Das verträgt sich schlecht mit den Anforderungen im Leistungssport.
«Sporttalenten fällt es schwerer als anderen Kindern, sich von den Eltern zu lösen.»
Katharina Albertin, Sportpsychologin
Kürzlich wurden Fälle aus dem GC-Nachwuchsfussball publik: Eltern bezahlten Geld, um ihren Kindern einen Vorteil zu verschaffen. Ist ehrgeizigen Sporteltern jedes Mittel recht?
Das sind Auswüchse. Wer so etwas tut, missbraucht nicht nur das System, sondern letztlich auch das Kind. Denn so bekommt es keine ehrliche Referenz. Die junge Athletin will ja bloss wissen: Mache ich es gut oder nicht? Derartige Vorgänge sind Gift für die Entwicklung eines Sporttalents. Und am Schluss ist es auch noch demütigend, weil man weiss, dass man nur weitergekommen ist, weil Vater und Mutter mit dem Portemonnaie nachgeholfen haben.
Heisst das: Sporteltern, die ihre Kinder möglichst selbständig agieren lassen, machen es gut?
Gelassenheit und eine gesunde Distanz zum Sportsystem helfen auf jeden Fall. Mein Rat an die Eltern: Alles, was möglich und altersangemessen ist – bitte selber machen lassen! Auch wenn das nicht immer leichtfällt.
Welche Situationen sind heikel?
Wenn Eltern merken, dass es ihrem Kind nicht gut geht, wollen sie es reflexartig schützen – so, wie das gute Eltern
tun. Im Sport fragen sie sich dann: Wann und wie sollen wir Einfluss nehmen, wenn etwa die Beziehung zum Trainer nicht mehr stimmt? Nützen wir damit dem Kind? Oder verbauen wir ihm eine Chance? Zu wissen, wo in einer Krise die richtigen Anlaufstellen sind, ist sehr anspruchsvoll. Da brauchen die Sporteltern unbedingt mehr Unterstützung.
Warum fällt es Eltern schwer, zu sagen: «Mein Kind ist Spitzensportler»?
Das ist wohl ein Stück weit die Schweizer Mentalität – immer schön bescheiden bleiben, bloss nicht grossspurig wirken. Man hängt das vielleicht auch deshalb nicht an die grosse Glocke, weil ja die Gefahr besteht, dass es am Schluss doch nicht klappt und man sich dann erklären muss. Dem will man sich nicht aussetzen.
Ist ja auch verständlich. Mit dem Spitzensport kann es schnell vorbei sein. Wie wichtig ist es, einen Plan B zu haben?
Es ist sehr wertvoll, neben dem Sport eine Ausbildung zu machen, das tut allen gut. Denn selbst das grösste Talent ist gefordert, sich auch als Nicht-Athlet wahrzunehmen, sich stets zu fragen: Was ist sonst noch interessant für mich? Ich habe schon einige Talente begleitet, die wegen einer Verletzung von heute auf morgen aufhören mussten. Wenn man gar nichts hat daneben, ist das ein Schock – wie eine Pensionierung mit 15. Dann fragen sie sich: Wer bin ich jetzt noch? In solchen Fällen sind die Eltern gefordert, das Kind aufzufangen: nicht als Sporteltern, sondern als ganz normale Eltern.
Die Beziehung zwischen Sporttalenten und ihren Eltern ist besonders eng. Das erschwert es dem Kind, seine Autonomie zu entwickeln.
Massgeblich sind drei psychologische Grundbedürfnisse:
-
Autonomieerleben
selbstbestimmtes Handeln, Freiraum des Kindes
-
Kompetenzerleben
positives Feedback für gelungenes Handeln
-
Soziale Eingebundenheit
bedingungslose Wertschätzung durch die Familie oder das soziale System
Mit steigendem Alter wächst die Autonomie des Sporttalents – Gleichaltrige werden wichtiger, die Eltern weniger. Die beiden anderen Bedürfnisse bleiben gleich gross.
zur Person
Eltern erleben beim Heranwachsen ihrer Kinder ein Wechselbad der Gefühle. Beobachter-Mitglieder erhalten diverse Erziehungstipps für das Kleinkindalter bis hin zur Pubertät. Ausserdem erfahren sie, was sie bei Erziehungsproblemen tun können (beispielsweise Kinder vor den Gefahren des Internets zu warnen).