«Die Kinder wollen alles perfekt machen»
Immer mehr Kinder landen beim Schulpsychologen, weil sie an sich selber zweifeln. Etwa bei Stefan Christen. Der Kinder- und Jugendpsychologe erklärt, wie Stress bei Kindern entsteht – und was dagegen hilft.
Veröffentlicht am 30. Oktober 2018 - 12:55 Uhr,
aktualisiert am 31. Oktober 2018 - 12:31 Uhr
Beobachter: Jedes sechste Kind zwischen sechs und 16 Jahren leidet unter starkem Stress, besagt eine Studie der Uni Bielefeld. Auch Pro Juventute schlägt Alarm: Stresssymptome zeigen sich schon in jungen Jahren. Ist das Leben der Kinder stressiger geworden?
Stefan Christen: Tendenziell kommen tatsächlich mehr gestresste Kinder zu mir, die körperliche Symptome zeigen wie Schlafprobleme, Kopf-und Bauchschmerzen oder Müdigkeit. Auch psychoaffektive Symptome wie Traurigkeit, depressive Stimmungen, Selbstwertprobleme oder Ängstlichkeit kommen häufiger vor. Die Anforderungen in der Schule sind eindeutig gestiegen. Zudem hat die Schule im Alltag der Kinder eine zentralere Stellung als früher. In der Regel gibt es keine Prüfung mehr für den Eintritt in die Sekundarstufe I. Noten sind deshalb in der ganzen Mittelstufe sehr wichtig im Hinblick auf die Einteilung in Sek A oder B und natürlich auch für den Übertritt ins Gymnasium
.
Früher gingen Kinder zum Psychologen, weil sie nichts für die Schule machten, heute, weil sie zu viel machen: Ist an dieser Aussage etwas dran?
Früher wie heute kamen und kommen beide Phänomene vor. Fakt ist sicher, dass heute viele Jugendliche die Werte der Leistungsgesellschaft
verinnerlicht haben. Sie stressen sich oft selber, haben eine ausgeprägte Erfolgsorientierung und wollen alles perfekt machen.
Kinder müssen sich heute schon im Kindergarten selbst beurteilen: Ist diese angelernte Selbstoptimierung problematisch?
Ich sehe das nicht grundsätzlich als Problem, wenn es dem Alter entsprechend umgesetzt wird. Eine realistische Selbsteinschätzung trägt zu einer guten Persönlichkeitsentwicklung bei.
«Es läuft so viel, und vieles ist sehr interessant – in der Schule ist nicht alles interessant.»
Stefan Christen, Fachpsychologe für Kinder- und Jugendpsychologie
Anders gefragt: Sind Kinder heute weniger belastbar?
So generell würde ich das nicht sagen, auch wenn manche Mühe haben, durchzuhalten und sich durchzubeissen
. Kinder und Jugendliche müssen heute einfach mit viel mehr zurechtkommen als früher:
Schule, Freizeit, Sport, Games, soziale Medien, Internet, Peergroup. Es läuft so viel, und vieles ist sehr interessant – in der Schule ist nicht alles interessant.
Setzen sich Mädchen mehr unter Druck als Buben?
Tatsächlich zeigen sich bei weiblichen Jugendlichen mehr Stresssymptome. Eine Erklärung könnte sein, dass sie diese früher wahrnehmen und auch schneller darüber reden. Ob Jungs weniger gestresst sind, wird kontrovers diskutiert. Aber klar ist: Der Stress äussert sich in der Regel eher in Aggressionen
.
Was raten Sie gestressten Kindern?
Zuerst muss man herausfinden, woher der Stress kommt. Wenn sich das Kind selbst Stress macht, schauen wir gemeinsam, ob es sich zu hohe Ziele gesteckt hat. Wenn es zum Beispiel Mühe mit der Rechtschreibung hat, im Diktat aber keinen Fehler machen will, muss ein realistischeres Ziel definiert werden.
Ist Vereinssport ein gutes Gegenmittel, oder verursachen die vielen Trainings unter der Woche zusätzlichen Stress?
Sport hilft gegen Stress
– solange ausreichend Zeit dafür zur Verfügung steht und Spass und nicht Leistung im Vordergrund steht.
«Es herrscht die ständige Angst, etwas zu verpassen.»
Stefan Christen, Schulpsychologe Kanton Zug
Auch Entspannungsübungen, Spaziergänge, Musizieren können helfen. 13-jährige Jungs wollen sich aber lieber beim Gamen «erholen». Wie sollen Eltern mit dieser Situation umgehen?
Der Umgang mit den Medien
ist bei Jugendlichen ein äusserst wichtiges Thema. Die Geschwindigkeit in der Kommunikation hat mit dem Smartphone deutlich zugenommen. Damit verbunden ist die ständige Angst, etwas zu verpassen. Die Eltern müssen hier Präsenz zeigen. Sie sollen über Inhalte und Höhe des Medienkonsums Bescheid wissen. Klare Regeln und Abmachungen sind sinnvoll und nötig.
Regeln wie «Kein Handy am Tisch» lassen sich ja noch durchsetzen. Sobald ein Teenager aber ein eigenes Handy hat, kann man ihm keine Nutzungszeit mehr vorschreiben. Er trägt es bei sich und lässt die Finger nicht davon.
Das ist tatsächlich eine sehr schwierige Situation. Man kann nur mit ihm reden und Aufklärung betreiben. Wenn die Beziehung gut ist, kann man über Vertrauen etwas erreichen.
Sollen Eltern ihrem gestressten Teenager das Handy wegnehmen, wenn er seine Eigenverantwortung nicht wahrnehmen kann?
Es geht nicht darum, einem Jugendlichen einfach das Handy wegzunehmen – aber es ist die Aufgabe der Eltern, ihm aufzuzeigen, dass es nun um seine Gesundheit geht
und es nötig ist, an einer gemeinsamen Lösung zu arbeiten.
Stefan Christen, 53, ist Fachpsychologe für Kinder- und Jugendpsychologie FSP, und berät und begleitet im Auftrag des schulpsychologischen Dienstes im Kanton Zug Schüler, Familien und Lehrer.
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